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Ungarn:
Die versteckten Juden

Ungarn ist Heimat der viertgrößten jüdischen Gemeinde in Europa. Mit der Freiheit ist ein neues Selbstbewusstsein in der jungen Generation erwacht. Doch wer sich zu seinem Glauben bekennt, riskiert auch heute noch, angepöbelt zu werden

Von Richard Chaim Schneider
Die Zeit, 03.06.2004

Es ist Freitagabend. In der Szóda-Bar dröhnt Rockmusik aus den Lautsprechern, am Tresen stehen dicht gedrängt junge Männer und Frauen, die Caipirinhas trinken oder Bier. Die Bedienung kommt kaum durch, um die Bestellungen an die Tische zu bringen. Hinter der Theke läuft David auf und ab, gießt hier ein Glas Wein ein, schüttelt dort einen Cocktail, immer mit einem Lächeln auf den Lippen und einer freundlichen Aufmunterung für seine Mitarbeiter, die unter Strom zu stehen scheinen. Die Szóda-Bar ist in.

Vor einem Jahr hat David das Lokal eröffnet. Ein unternehmerisches Wagnis, Budapest ist nicht arm an Nachtlokalen. Doch das Szóda ist etwas Besonderes. Es ist ein jüdisches Lokal. Man merkt es nicht, man muss es wissen. Es liegt in der Wesselényi utca, einer Straße im einstigen jüdischen Ghetto, nur einen Katzensprung entfernt von der größten Synagoge Europas, dem Tabaktempel. Auch die Speise- und Getränkekarte des Szódas enthält keinerlei Hinweise auf den jüdischen Charakter des Lokals. Es gibt alles, was es überall sonst auch gibt. Was also ist so jüdisch an dem Lokal? Nirgends ein Mann mit Kippa zu sehen, kein Kaftan, keine Schläfenlocken.

Es ist Freitagabend, also Sabbat. Fromme Juden gehen grundsätzlich nicht in solche Kneipen, und am Sabbat schon gar nicht. "Da draußen", sagt David, "da gehen gerade zwei, sind wahrscheinlich vom Sabbat-Diner unterwegs nach Hause." Tatsächlich, zwei schwarz gekleidete, bärtige Männer mit großen Hüten eilen vorbei, schauen dabei jedoch intensiv durch die Fenster in das Lokal. "Die ärgern sich, dass hier Juden Spaß haben, anstatt den Sabbat zu heiligen", meint der junge Barbesitzer mit den dunklen Augen und der Glatze und lacht. Sein Schädel glänzt vor Schweiß, es ist unerträglich heiß und so laut, dass man in dem Gedränge und Getöse kaum sein eigenes Wort versteht. Was ist denn nun so jüdisch an seinem Lokal? "Ich natürlich – und die Gäste!"

Rund 80 Prozent seien Juden, erklärt David, der sie alle kennt. "Hier wirst du nach ein paar Bieren oder Schnäpsen keine Hasstiraden auf Juden hören wie fast überall in Budapest." Jetzt lacht David nicht mehr. Zwei Frauen, die mehr Haut als Stoff zeigen und lässig an der Bar lehnen, nicken. Auch György, ein lockenköpfiger Brillenträger, der Davids letzten Satz mitgehört hat, stimmt heftig zu. "Hier sind wir unter uns, hier werden wir nicht angemacht." Hier, heißt das, müssen sie sich nicht anhören, sie, die reichen, die "stinkenden Juden", nähmen den Ungarn alles weg. Insofern ist die Szóda-Bar für junge Juden das, was eine einschlägige Kneipe für Schwule ist: ein Ort, der einen unter sich sein lässt, der einem Schutz gewährt – aber eben doch ein Ort, von dem jeder weiß, was für Leute da verkehren. David stimmt zu: "Natürlich weiß hier jeder, dass wir Juden sind. Das stört uns auch nicht. Wir schämen uns nicht, Juden zu sein. Wir wollen nur unsere Ruhe."

Damit diese Ruhe auch wirklich garantiert ist, stehen draußen am Eingang ein paar Typen in schwarzen Lederjacken herum, denen man ansieht, dass sie die meiste Zeit im Fitness-Studio zubringen. Sie sind nicht als Türsteher angestellt, die darauf achten, dass nur die "richtigen" Leute in das Lokal kommen. Sie sollen es vor Leuten schützen, denen ein jüdisches Lokal ein Dorn im Auge ist. "Von denen", sagt David, "gibt es genug in Ungarn." Meist sind es junge, adrett gekleidete, nicht aus sozial benachteiligten Schichten kommende Männer, die alle "nichtmagyarischen Elemente" aus Ungarn vertreiben wollen, notfalls auch mit Gewalt. Und wieder nicken alle um David herum. "Aber das stört uns nicht im geringsten. Wir haben sogar eine Mesusa an der Eingangstür." Eine Mesusa, das ist eine kleine Kapsel mit Passagen aus der Thora, die nach dem Religionsgesetz an jeder jüdischen Tür angebracht werden muss. Und tatsächlich, es gibt eine solche Kapsel, doch sie ist so versteckt angebracht, dass man sie kaum entdeckt. Dieses Versteckspiel scheint typisch für ungarische Juden, von denen heute 100.000 in Ungarn leben, die meisten von ihnen in Budapest.

Nach Frankreich, England und Deutschland hat Ungarn die viertgrößte jüdische Gemeinde in Europa. Nur 15.000 sind Mitglieder der jüdischen Gemeinde, die große Mehrheit zieht es bislang vor, sich öffentlich nicht zu outen. Rund eine Million Juden lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in Ungarn, 600.000 von ihnen fanden den Tod in den Gaskammern der Nazis. Diejenigen, die überlebten, keine Kommunisten waren und das Land nicht verlassen konnten, lernten schnell, wie man sich im kommunistischen Ungarn zu verhalten hat. Man behielt seine jüdische Identität am besten für sich. Das war besser und sicherer. Die antijüdischen Schauprozesse der Stalin-Ära hatten den Juden auch in Ungarn rasch klargemacht, was zu tun war. Man änderte seinen Namen, hielt sich von den Synagogen fern und bemühte sich, ganz in der ungarischen Gesellschaft aufzugehen. So hatten es die meisten bereits vor dem Krieg getan. Nirgends in Europa, mit Ausnahme Deutschlands, lebten Juden so assimiliert wie in Ungarn. Es war kein Wunder, dass selbst nach dem Holocaust die meisten nur wenig über jüdischen Glauben oder jüdische Kultur wussten – und sie legten unter den veränderten, aber nicht verbesserten politischen Bedingungen nach 1945 auch keinen Wert darauf.

Als Anfang der neunziger Jahre Juden nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes das erste Mal nach Israel reisen durften, war David einer von ihnen. Er machte dort Abitur, erwarb die israelische Staatsbürgerschaft, war fünf Jahre in der Armee, dazu überzeugter Zionist. Nach zehn Jahren beschloss er, zurückzukommen, weil Ungarn sein Geburtsland ist, seine Heimat, weil Ungarisch seine Muttersprache ist und die wirtschaftlichen Bedingungen in Israel für ihn immer schlechter wurden. Als er sich vor einem Jahr entschied, im jüdischen Viertel sein Lokal zu eröffnen, bestürmten ihn die Funktionäre der Gemeinde, dies nicht zu tun. Das gebe nur Ärger. "Ein Rabbiner wollte mich überreden, dass ich wenigstens am Sabbat den Laden zulassen soll, doch ich lehnte ab", erinnert sich David und gießt sich einen Drink ein. "Ich versuchte ihm klarzumachen, dass es doch besser sei, wenn Juden, die nicht religiös sind, auch einen Ort haben, an dem sie sich Freitagabend treffen und zusammensein könnten." Der 30-Jährige wendet sich ab, denn die rothaarige Adrienne hat sich an seine Seite geschlängelt und umarmt ihn stürmisch. Sie ist soeben mit ihren Freundinnen Edina und Eszter gekommen.

Die dunkelhaarige Eszter überragt so manchen Mann in dem Lokal. Sie blickt sich um, entdeckt einige Freunde, winkt ihnen zu und setzt sich an einen offensichtlich für sie reservierten Tisch. Adrienne ist ihre beste Freundin, die jungen Frauen gehören zu den Stammgästen. Dann kommt Edina. Sie hat Wirtschaft studiert, spricht wie Eszter Englisch und Hebräisch und obendrein auch noch fließend Französisch. Erst einmal geht Edina durch das Szóda, um "die Runde" zu machen. Ein Küsschen hier, ein kurzer Plausch da. Für Eszter, Edina und Adrienne spielt die jüdische Religion keine große Rolle. "Das interessiert uns nicht wirklich", sagt Eszter und winkt ab. Doch sie sind aktive Mitglieder der Gemeinde, ihr Engagement ist vor allem politisch ausgerichtet.

"Wir kämpfen dafür, dass Juden in Ungarn normal leben können, dass wir hier akzeptiert werden und uns hier entfalten können. Das war doch viele Jahrzehnte unmöglich, weil das kommunistische Regime den Juden keinerlei Unterstützung gewährte", erzählt Eszter. Heute, im demokratischen Ungarn, sei das ganz anders, da dürften die Juden tun, was sie wollten, und die offizielle Politik unterstütze das auch alles. Doch Eszters Wünsche gehen weiter: "Wir wollen, dass sich auch in der Gemeinde einiges verändert. Sie muss sich öffnen, muss internationale Kontakte mit anderen Gemeinden in Europa aufbauen, muss attraktiv werden für die große Mehrheit der ungarischen Juden, die sich bislang von ihr fern halten, weil sie entweder immer noch Angst haben, dass es erneut ein totalitäres oder antisemitisches Regime geben könnte oder weil sie schlicht kein Interesse haben."

Eszter arbeitet unter anderem als persönliche Referentin des Präsidenten der jüdischen Gemeinde, gleich um die Ecke in der Sip utca. Die graue Eminenz der Gemeinde ist jedoch Gusztáv Zoltai, der Geschäftsführer, der im dritten Stock des Gemeindezentrums wie ein Duodezfürst residiert. In seinem Vorzimmer warten Dutzende von Bittstellern, manche seit Stunden. Zoltai lässt seine Schäfchen gern warten, das verleiht ihm nach außen mehr Macht. Eszter hat die Begegnung erst möglich gemacht. Zoltai empfängt nicht jeden einfach so auf Anfrage. Der Gemeindechef ist Anfang siebzig, hat weißes, onduliert wirkendes Haar, eine offensichtlich künstliche Gesichtsbräune, stahlblaue Augen und einen dicken, klobigen Ring am Finger. Er sitzt auf einem alten, großen Holzstuhl, der mit bordeauxfarbenem Samt überzogen ist. Ein Thron. Hinter ihm hängen unzählige Dankschreiben und Ehrenbezeugungen an der Wand. Die Inszenierung wirkt grotesk, denn Zoltai ist sehr klein.

Um diesen Mann ranken sich eine Menge Gerüchte, die man sich in der Gemeinde erzählt. Zoltai soll mit der AVH, der ungarischen Stasi, zusammengearbeitet und in den fünfziger und sechziger Jahren einige Juden ans Messer geliefert haben. "Er ist ein Mussar", wissen einige ältere Juden, die damals angeblich Augenzeugen waren, jetzt ihre Namen nicht nennen wollen und im Fall Zoltais das jiddische Wort für "Verräter" benutzen. Bis heute, heißt es, soll Zoltai, der den Gerüchten nie widersprochen hat, in seinem Nachtkästchen eine Pistole verwahren. Für alle Fälle. Vor einigen Jahren hat jemand "geplaudert", ein persönlicher Feind Zoltais aus der Gemeinde, der beim Gespräch am Telefon darum bat, anonym zu bleiben. Er erzählte dem ungarischen Fernsehen von Zoltais angeblichen Verbindungen zur ungarischen Stasi. Wenige Tage danach war seine Wohnung in Flammen aufgegangen. Ob Zoltai dahintersteckte – getuschelt wird viel.

Eszter kennt all diese Geschichten. Trotzdem arbeitet sie für den Vorstand der Gemeinde. "Ich will etwas verändern, und er lässt mich gewähren. Seine Generation tritt bald ab, und man kann die Gemeinde nur von innen heraus weiterbringen. Ich bin jung, ich kann warten."

Bevor das Gespräch mit Zoltai beginnt, gibt Eszter noch schnell ein paar Ratschläge, wie man sich dem mächtigen Gemeindelenker nähern soll, um nicht sofort und brüsk abgewiesen zu werden. Doch Zoltai ist, entgegen allen Vorwarnungen, überaus freundlich. Er spricht vom Aufbruch der Gemeinde, erzählt von den großen sozialen Problemen vor allem der älteren Gemeindemitglieder, deren Not man mit Suppenküchen und finanzieller Unterstützung zu lindern versucht. Auf die Frage, warum die jüdische Gemeinschaft 1993 im damals neu geschaffenen Minderheitengesetz der jungen ungarischen Demokratie nicht den Status einer Minderheit angenommen hat, gibt Zoltai eine verblüffende Antwort: "Wir ungarischen Juden sind Teil des jüdischen Volkes und verstehen uns somit nicht als Minderheit." Diese Haltung hat die Gemeinde um einige Privilegien gebracht, die das demokratische Ungarn seinen Minderheiten per Gesetz zugesteht. Dieses Gesetz ist im heutigen Europa einzigartig und funktioniert nach dem Prinzip der "positiven Diskriminierung": Man lässt einer Minderheit ihre Autonomie, versucht Integration gar nicht erst, fördert sie aber finanziell und unterstützt sie in ihrem Status, sodass sie ihre kulturelle Eigenart bewahren kann.

Hat hier nicht eher das Versteckspiel der ungarischen Juden die Entscheidung der Gemeinde bestimmt – bloß nicht auffallen, bloß nicht anders, bloß nicht "besonders" sein? In einem Ungarn, das, wenn auch demokratisch, sich nur schleppend der Bewältigung seiner antisemitischen und nazistischen Vergangenheit stellt, scheint dies wahrscheinlich. Anders als Polen oder Tschechien hat der ungarische Staat aktiv am Holocaust mitgewirkt. Die 1937 gegründeten "Pfeilkreuzler", die auf Druck von Nazideutschland 1944 an die Macht kamen, sorgten dafür, dass die zuvor unter dem Horthy-Regime kurzfristig gestoppten Deportationen wieder aufgenommen wurden und fast zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung in den Gaskammern von Auschwitz landeten. Die eigene Schuld am Holocaust – ein heikles Thema.

David, Eszter oder Edina haben keine Scheu, in der Öffentlichkeit als bekennende Juden aufzutreten, in öffentlichen Diskussionen etwa, bei Stadtfesten mit jüdischen Ständen. Sie gehen in die Schulen, um über Judentum und jüdische Kultur zu sprechen. Es ist sicher kein Zufall, dass sie alle einige Zeit in Israel gelebt, dort die Schule besucht und Abitur gemacht haben. Ermöglicht hatte ihnen das die israelische Organisation Alyat Hanoar, die sich nach der Wende 1989 der ungarischen Juden anzunehmen begann. In Israel haben sie, wie Edina es nennt, die "Selbstverständlichkeit" gelernt, Jude zu sein, die eigene Identität nicht zu verheimlichen und ohne Angst und Scheu öffentlich als Jude aufzutreten. Eszter und Edina haben zusammen mit einigen Freunden, darunter der junge, beliebte Rabbiner Tamás Verö, eine Gruppe gegründet, die sich auf Hebräisch "Haver", Freund, nennt. Sie will das Zusammenleben zwischen Juden und Nichtjuden in Ungarn verbessern. Ihr Programm wendet sich an die junge Generation, an Schüler und Gymnasiasten, die kurz vor dem Abitur stehen. Die Mitglieder der Gruppe wollen aufklären. "Es gibt viel zu viele Vorurteile in Ungarn", sagt Edina und zuckt dabei mit den Schultern. Kalt lässt sie das nicht. "Wir wollen die jungen Menschen spielerisch, aber doch direkt mit ihren eigenen Vorurteilen konfrontieren und sie dann mit Juden und dem Judentum wirklich bekannt machen." Wie das genau geht, wollen die jungen Frauen gern demonstrieren. Im Vörösmarty Gymnasium.

Der klassizistische Bau muss einst prachtvoll gewesen sein, jetzt ist er völlig heruntergekommen. Der Putz bröckelt von den Wänden. Drinnen dominieren öde Gänge und Linoleumböden, die nach Kampfer riechen. Die Klassenzimmer: farblos, fantasielos. Etwa 20 Schüler lungern auf ihren Stühlen herum und warten gelangweilt auf das, was Edina und András – auch er ein Mitglied von Haver – anzubieten haben.

Zu Beginn der Stunde verteilen die beiden Fotos. Jeder Schüler bekommt ein Bild in die Hand gedrückt und soll entscheiden, wer Jude ist und wer nicht. Die Antworten sind wenig verblüffend: Alle dunkelhäutigen, braunäugigen Menschen seien Juden, die Blonden, Rothaarigen oder Blauäugigen nicht. Als die Schüler hören, dass alle Menschen auf den Fotos Juden aus Israel seien, sind sie erstaunt. Dann fragt Edina, mit ihrer kleinen, geraden Nase, ob sie und András ebenfalls Juden seien. Und wieder reagieren die Schüler wie erwartet: András mit dem Bart, den dunklen Augen und der leicht gekrümmten Nase sei natürlich Jude, Edina gewiss nicht. Trotz solcher Erfahrungen glauben die Mitglieder von Haver, dass Initiativen wie ihre langfristig Früchte tragen werden. Sie wollen in Ungarn bleiben. Das Land ist eine Demokratie. Sie fühlen sich als Ungarn. "Der Antisemitismus macht uns das Leben schwer", sagt András.

Die große Mehrheit der ungarischen Juden zeigt sich nicht. Sie zieht die Verborgenheit vor. Ánná Forgács gehörte einmal zu dieser Mehrheit. Sie ist 27 Jahre alt und Lehrerin an einer ganz normalen Grundschule. Vor drei Jahren trug sie noch einen kleinen goldenen Davidstern um den Hals, doch als die Blicke und Bemerkungen auf der Straße und in der Straßenbahn sich häuften, war sie bald davon überzeugt, dass es besser ist, das jüdische Symbol wieder abzulegen und sich nach außen nicht mehr als "eine von denen" zu erkennen zu geben. Der kleine Platz vor dem Tabaktempel ist der verabredete Treffpunkt. Die zierliche Frau mit den aschblonden Haaren und einer markanten Nase, die Antisemiten sofort als "typisch jüdisch" bezeichnen würden, schlägt das Café Puschkin, wenige Minuten vom Tabaktempel entfernt, vor. In einer kleinen Seitenstraße sitzen dort im milden Frühlingsklima junge Leute an Bistrotischen auf der Straße. Die Jugend von Budapest ist von der Jugend in Berlin oder Hamburg nicht zu unterscheiden: Jeans und Sneakers, gepiercte Bauchnabel und Tattoos, bunte Punkfrisuren und aufreizendes Make-up sind selbstverständlich.

Ánná, kaum geschminkt und eher konservativ mit Jeans und Strickjacke bekleidet, will lieber im Innern des Cafés Puschkin Platz nehmen, weil es draußen zu laut und hektisch ist. Erst seit ihrer Pubertät weiß Ánná, dass sie Jüdin ist. Keine Seltenheit in ihrer Generation. Ihre Eltern haben nie darüber gesprochen. Der Vater war ein überzeugter Kommunist und Atheist, ihm war sein Judentum gleichgültig, die Mutter war weniger ideologisch, doch stets gewahr, dass es besser sei, im kommunistischen Ungarn nicht über sein Jüdischsein zu reden. Durch Zufall hatte Ánná schließlich die Wahrheit über sich erfahren. Die Eltern hatten einen jüdischen Witz erzählt, die Mutter hatte danach eine Bemerkung gemacht, dass die Pointe auch auf die Familie zuträfe, worauf die damals 14-jährige Tochter erstaunt fragte, ob sie denn Juden seien. "Weißt du das denn nicht?", entgegneten die Eltern überrascht. Ánná war völlig durcheinander und irritiert, noch dazu, als sie entdeckte, dass alle Freunde ihrer Eltern ebenfalls Juden waren.

Verunsichert begann Ánná danach, ihren Weg ins Judentum zu suchen. Sie reiste vier Wochen nach Israel und traf nach ihrer Rückkehr in Budapest auf Jugendliche, die in der zionistischen Organisation Hashomer Hazair arbeiteten und sie einluden, doch zu einem Treffen zu kommen. "In Ungarn", sagt Ánná, "heißt zionistisch sein, dass man sich zwar mit Israel solidarisiert, aber nicht ans Auswandern denkt. Die Jugendgruppen sind eher dazu da, ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln und die eigenen Wurzeln kennen zu lernen."

In der Gruppe fand Ánná tatsächlich eine Form der Wärme und Geborgenheit, die sie mit ihren nichtjüdischen Freunden nicht hatte. Sie erzählt von einem Gefühl der Sicherheit, zu wissen, dass man unter sich ist und das eigene Jüdischsein weder erklären noch rechtfertigen müsse. Die Eltern beobachteten die "Rückkehr" ihrer Tochter zum Judentum mit großer Skepsis. Der Vater lehnt Ánnás Weg kategorisch ab, weil er als Atheist alles, was mit Religion zu tun hat, für abwegig hält. Die Mutter bedauert mittlerweile, dass sie selbst so wenig über ihr Judentum weiß. Ánná hat sich längst vom säkularen Zionismus verabschiedet und sich der Religion genähert. Jeden Sabbat geht sie in die Synagoge. Wieder und wieder muss sie der Mutter erzählen, was sie inzwischen alles über den Glauben gelernt hat.

Jugendliche in Budapest – gepiercte Bauchnabel, Tattoos

Ánná besucht die Synagoge in der Frankel Leo utca auf der Budaer Seite der Stadt, westlich der Donau. Seit dem Jahr 2000 ist der 32-jährige Tamás Verö hier Oberrabbiner. Seitdem hat sich einiges getan in dieser Synagoge, die im 19. Jahrhundert im "typisch ungarischen" Stil erbaut wurde, wie so manche Juden dies nennen. "Typisch ungarisch" heißt, im Gegensatz zu Tschechien oder Polen etwa, dass es eine versteckte Synagoge ist, eine, die man von der Straße aus nicht sehen kann. Dabei ist sie gar nicht so klein, sie bietet immerhin Platz für rund fünfhundert Menschen.

Sie ist in den Innenhof eines Wohngevierts gebaut worden, ein kurioser Anblick. Die umliegenden Häuser sind acht Stockwerke hoch, auf der Innenhofseite führt in jedem Stock ein Balkon rundherum, von Wohnung zu Wohnung. Aus Gusseisen kunstvoll geschmiedete Geländer erinnern daran, dass in dem heute ein wenig heruntergekommenen Wohnblock früher Menschen aus dem Budaer Mittelstand gewohnt haben, überwiegend Juden. Heute leben hier keine Juden mehr. Der Anblick der neogotisch wirkenden Synagoge, die vier Stockwerke aufragt, gehört allerdings zum Alltag der Anwohner. Ebenso die rund zehn, fünfzehn Männer, die sich täglich um sieben Uhr früh zum Morgengebet einfinden.

Ein Gotteshaus, restauriert mit dem Geld eines Hollywoodstars

"Am Sabbat sind wir oft über 150 Betende, Frauen und Männer", sagt Rabbi Verö. Es fällt auf, dass die Generation der rund 50-Jährigen fehlt. Zum Gebet kommen nur die Alten, also diejenigen, die noch vor dem Krieg in Familien aufgewachsen waren, die den Glauben hochhielten, und junge Menschen wie Ánná Forgács, die ihre Wurzeln soeben erst entdeckt haben. Der junge Rabbi, der schon mal im T-Shirt herumläuft, hat einen speziellen Jugendgottesdienst eingerichtet, in dem viel erklärt wird, damit sich keiner fremd fühlt. Er will der Jugend ein Gefühl der Selbstsicherheit verleihen. "Es ist eine richtige Diaspora-Mentalität, die den Juden hier beigebracht wird, auch heute noch gibt es Lehrer, die den Kindern sagen, sie sollen in der Öffentlichkeit bloß nicht auffallen."

Tamás Verö ist, abgesehen von seiner schwarzen Kippa, nicht unbedingt als Jude zu erkennen. Er ist glatt rasiert und trägt keine Schläfenlocken. Doch das liegt nicht an seiner Angst vor Antisemiten. Tamás ist ein "neologer", kein orthodoxer Rabbi. Das neologe Judentum ist eine rein ungarische Erfindung, es liegt irgendwo zwischen Orthodoxie und liberalem Judentum und ist heute am ehesten mit dem "conservative judaism" der USA zu vergleichen: Man nimmt die Halacha, das Religionsgesetz, ernst, doch Männer und Frauen sitzen in der Synagoge auf einer Ebene; weltliche Bildung ist Teil der Erziehung, man lebt nicht, wie orthodoxe Juden, abgewandt von der Realität, die einen umgibt.

Rabbi Verö, den jeder nur bei seinem Vornamen Tamás nennt, hat kaum Erfahrungen mit dem in Ungarn so präsenten Antisemitismus gemacht. "Das liegt aber daran, dass ich immer in meinem eigenen Auto herumfahre und mich nur innerhalb des Ghettos bewege." Das Ghetto – damit meint er vor allem jenen Stadtteil, der längst zu den Touristenattraktionen der ungarischen Hauptstadt gehört. Noch heute gibt es 22 Synagogen in Budapest, deren berühmteste der Tabaktempel an der Dohány utca, der Tabakstraße, ist. Er ist das größte jüdische Gotteshaus Europas und das zweitgrößte der Welt, das Platz für 4.000 Gläubige bietet. Im byzantinisch-maurischen Stil errichtet, wurde es in den letzten Jahren mit Hilfe des Staates und einer Stiftung des ungarisch-jüdischen Hollywoodstars Tony Curtis, dessen Eltern aus Budapest stammen, vollständig restauriert.

Gleich hinter dem Tabaktempel, in der Sip utca, befindet sich in einem Backsteingebäude das jüdische Gemeindezentrum. Koschere Bäckereien und Lebensmittelgeschäfte, ein jüdisches Reisebüro, Antiquitätenläden mit Judaica, eine Talmud-Thora-Schule und ein jüdisches Hotel geben dem Viertel seine Prägung, wenngleich Juden dort kaum noch leben und nur ab und zu ein Orthodoxer mit Kaftan, langem Bart und Schläfenlocken auf den Straßen zu sehen ist. Orthodoxe Juden gibt es in Ungarn kaum noch.

Zeichen und Symbole des Jüdischen findet man versteckt in den Innenhöfen des jüdischen Viertels und benachbarter Bezirke, etwa in der Dessewffy oder in der Vásvári Pál utca. Man findet auch hier Synagogen, die sich den Blicken der Nichtjuden weitestgehend entziehen. Manchmal sehen sie aus wie verwunschene Hexenhäuschen. Die kleine "Schul" in der Vásvári Pál utca ist zwischen den hohen Brandmauern der umliegenden Häuser eingezwängt. Von einigen Balkons der Nachbarwohnungen hängt Wäsche zum Trocknen herab, durch ein halb zerbrochenes Fenster lugt eine gesprenkelte Katze. Während draußen auf der Straße die Frühlingssonne bereits ihre Wärme verbreitet, ist der Innenhof kühl und feucht, es riecht modrig. Die Zeit scheint hier stehen geblieben zu sein. Für einen Moment meint man die laute Diskussion der Talmudschüler von einst zu vernehmen, ein Summen aus Hebräisch, Jiddisch und Ungarisch, das den Innenhof erfüllt.

In der Jozsef körut, einer dieser für Budapest so typischen langen und breiten Prachtstraßen, befindet sich das weltberühmte Rabbinerseminar, in dem auch Rabbi Tamás Verö studiert hatte. 200 Studenten lernen hier, Tamás hat seine Smicha, seine Ordinierung zum Rabbiner, 1999 erhalten. In unmittelbarer Nähe des Seminars liegt der Buchladen Fehérlofia, der in seiner Auslage Bücher über ungarische Nationalhelden vorstellt. Im Laden selbst, elegant und geschmackvoll eingerichtet, ist aber auch ganz andere Literatur zu finden. Bücher etwa, die vor dem Untergang Ungarns durch die jüdische Weltverschwörung warnen. Sie ist reich, die Palette an antisemitischer Literatur. Und die Titel stammen nicht nur aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, es gibt eine ganze Reihe von Neuerscheinungen jüngsten Datums, die man hier käuflich erwerben kann, ganz legal und oberhalb des Ladentisches.

Ein Rabbiner mit dem Charme eines Boygroup-Sängers

Tamás ist das egal. Freudig präsentiert er seine jüdische Alma Mater, das Rabbinerseminar, das kurz nach seiner Gründung Kaiser Franz Joseph I. besuchte. Eine Tafel in der Eingangshalle erinnert an dieses Ereignis. Das Institut sieht prächtig aus. Das klassizistische Gebäude ist in tadellosem Zustand, die Wände in den Gängen in Pastellfarben gestrichen. In den vergangenen sechs Jahren sind eine Menge Spenden aus dem Ausland eingegangen, so konnten die überfällig gewordenen Renovierungen endlich vorgenommen werden. Denn wenngleich das Rabbinerseminar auch in der kommunistischen Ära unbehelligt unterrichten und ausbilden durfte – für seinen Erhalt taten die Machthaber nicht allzu viel. Dennoch durfte man hier Thora und Talmud studieren, ein Widerspruch? "Nein", erklärt Tamás, "es war ein Feigenblatt, ein Vorzeigeunternehmen für die westliche Welt: Seht her, wir lassen die Juden doch gewähren, wir sind doch ein ganz freies und offenes Land!"

An den Wänden hängen Tafeln mit Fotos von Studenten der jeweiligen Abschlussjahrgänge und ihrer Lehrer. Die Ahnengalerie reicht bis in die fünfziger Jahre zurück. Auf der jüngsten Tafel fällt auf, dass die Studenten teilweise älter sind als ihre Lehrer, ein Beweis, dass sich immer mehr Juden wieder für ihre Wurzeln interessieren. Denn nicht jeder, der hier lernt, muss auch Rabbiner werden. Man kann auch einen weltlichen, rein akademischen Abschluss anstreben. In letzter Zeit studieren hier immer mehr Frauen, sie tun es einerseits aus Gründen der Gleichberechtigung jenseits der Orthodoxie, andererseits sind sie wissbegierig, wollen ihre jüdische Herkunft kennen lernen, um die eigene Identität zu stärken oder um später wissenschaftlich zu arbeiten.

Tamás gilt als die "rabbinische Zukunft" der Gemeinde. Er weiß, wie er sich vermarkten muss, es gibt kaum ein gesellschaftspolitisches Ereignis in Budapest, das für die jüdische Sache relevant ist, wo er nicht anwesend ist. Der Staat, die Stadt laden ihn gern ein. Er hat den Charme eines Boygroup-Sängers und ist überaus zugänglich. Andere Rabbiner haben oft etwas Unnahbares, es ist es schwer, mit ihnen auf gleicher Höhe zu kommunizieren. Mit Tamás ist das einfach. Und die ungarischen Politiker, noch gänzlich unerfahren im Umgang mit der jüdischen Minderheit, sind froh, einen Gesprächspartner zu haben, der in der Gemeinde und unter den jungen Juden großes Ansehen genießt.

Er schafft es tatsächlich, ihnen zu zeigen, dass das Judentum keine verstaubte Angelegenheit von vorgestern ist, sondern ein Glaube, der es wert ist, auch heute noch gelebt zu werden – vor allem: ein Glaube und eine Identität, für die man sich nicht schämen muss. Überhaupt, es ist das Verdienst von Juden wie Rabbi Verö, dass sich die jüdische Gemeinschaft allmählich wieder heraustraut aus ihrer Deckung. Rabbi Verö geht für sein Ziel, das Judentum wieder attraktiv zu machen, auch außerhalb der Synagoge gern unkonventionelle Wege. So hat er zum Beispiel Kassetten aufgenommen, auf denen er für kleine Kinder die Bibel als lustige Geschichtenreihe erzählt, untermalt mit Gesangseinlagen von Zsuzsa Fritz, einer Madricha des Balint-Hauses, die ebenso wie er Teil der Haver-Gruppe von Eszter und Edina und dazu Lehrerin für jüdische Kultur ist. Als Madricha, als "Gruppenleiterin", ist sie vor allem für die ganz Kleinen zuständig, die sie für ihre lustige und fröhliche Art und dafür, dass sie so gut singen kann, über alles lieben.

Das Balint-Haus ist Zsuzsas berufliches Zuhause. Es befindet sich in der Révay utca, im Schatten der Sankt-Stephans-Kirche, der größten Kirche von Budapest. Nichts deutet von außen darauf hin, dass es sich hier um ein jüdisches Kulturzentrum handelt, obwohl die jüdische Gemeinschaft gerade hier versucht, einen Neuanfang zu schaffen. Manche sprechen bereits von einer "Renaissance". Miklós Fischer, seit der Eröffnung des Balint-Hauses Anfang der neunziger Jahre dessen Direktor, ist vorsichtiger. Von Beruf Psychoanalytiker, weiß er um die schwierige Verfassung der ungarisch-jüdischen Seele, um die Ängste, aber auch um die Skepsis vieler gegenüber dem Glauben. Die meisten Juden gehören zur akademischen Elite, sind Ärzte, Advokaten oder Intellektuelle, und so musste Miklós Ideen entwickeln, wie man diese Zielgruppe erreichen kann.

Das Balint-Haus bietet Vorlesungen über Philosophie, Ökonomie und Politik an, Tanzunterricht, Theaterabende. Sogar ein eigenes Fitness-Studio gehört zum Balint-Haus. Nicht alles, was in dem Kulturzentrum geschieht, ist immer nur "jüdisch" orientiert. "Es kommt darauf an, die jüdischen Menschen überhaupt erst einmal dazu zu bekommen, eine Gemeinschaft zu bilden", erklärt Fischer, ein dicker, gemütlicher, bärtiger Endvierziger. Es war seine Idee, im Balint-Haus Clubs für Berufsgruppen einzurichten. So treffen sich hier inzwischen regelmäßig jüdische Ärzte oder Anwälte, um über Neuentwicklungen in ihren Jobs zu sprechen, neueste Behandlungsmethoden zu diskutieren oder juristische Probleme zu lösen. Ein Anfang. Juden kommen zusammen. Das ist für Fischer schon viel.

Zsuzsa kümmert sich im Balint-Haus, wie gesagt, vor allem um die Jüngsten. Vor einem Feiertag wie Pessach, der an den Auszug der Juden aus Ägypten erinnert, organisiert sie am Nachmittag einen Kinder-Seder. Am ersten Abend des Feiertags wird normalerweise zu Hause ein so genannter Seder zelebriert. Man liest aus der Haggada die Geschichte von Moses, Pharao und dem Auszug der Hebräer aus Ägypten, singt traditionelle Lieder und isst verschiedene rituelle Speisen, wie das ungesäuerte Brot, die Mazze. Die meisten Eltern kennen dieses Ritual nicht, sie haben es nie gelernt. Zsuzsa versucht, sie über die Kinder zu erreichen.

Tatsächlich ist der große Veranstaltungssaal des Balint-Hauses voll. Rund 30 Kinder sind mit ihren Eltern gekommen. Zsuzsa steht auf einem kleinen Podest und spielt die Moses-Geschichte vor. Sie hält sich eine Pharaonen-Maske vors Gesicht, dahinter ist ihr wildes, hüftlanges Haar zu sehen, was dem Pharao ein noch mächtigeres Aussehen gibt. Mit tiefer Stimme imitiert sie den ägyptischen Herrscher. "Ich lasse euch nicht ziehen!", ruft dieser auf Ungarisch, die Kinder schauen mit offenem Mund ehrfürchtig auf zu Pharao Zsuzsa auf, die Eltern lächeln ein wenig verlegen. Dann erzählt Zsuzsa von den zehn Plagen. Als sie zu den Fröschen gelangt, fordert sie die Kinder auf, im Saal nach ihnen zu suchen. Vor der Veranstaltung hat sie im ganzen Raum Papierfrösche versteckt. Sofort bricht ein wildes Durcheinander aus, die Kinder laufen hin und her, suchen herum, ihre Augen leuchten, die Wangen sind ganz rot vor Aufregung. In den Gesichtern der Eltern spiegelt sich Freude, Stolz, aber auch eine gewisse Ratlosigkeit, ob es, bei aller Angst vor einem vielleicht neuen totalitären Regime, richtig und gut ist, ihre Kinder als Juden aufwachsen zu lassen.

Mit antisemitischen Parolen rechte Wählerstimmen einfangen

Keine fünf Minuten vom Balint-Haus entfernt, auf der anderen Seite der Sankt-Stephans-Kirche, befindet sich ironischerweise das Zentrum der rechtsextremistischen MIEP-Partei. Ihr Führer: der jetzt 70-jährige István Csurka, der wohl bekannteste Antisemit der ungarischen Politik. Bei den Parlamentswahlen vor zwei Jahren hatte MIEP die Fünfprozenthürde nicht mehr geschafft, davor hat sie aus der Opposition heraus oftmals die bis 2002 regierende rechtskonservative FIDESZ-Partei unter Ministerpräsident Viktor Orbán unterstützt. Orbán und FIDESZ haben es bis heute versäumt, sich vom äußersten rechten Rand zu distanzieren. Selbst wenn FIDESZ keine antisemitische Partei ist – die Konservativen wissen, dass man mit entsprechendem Gedankengut Wählerstimmen am rechten Rand einfangen kann.

István Csurka, ein schwerer, behäbiger Mann mit weißer Mecki-Frisur, hat seine besten Zeiten bereits hinter sich. Doch seine Ansichten, die er dem westlichen Gesprächspartner gegenüber ganz unverblümt vorstellt, sind in der ungarischen Gesellschaft weit verbreitet. Natürlich ist das "internationale Finanzkapital" an der Misere schuld, natürlich versuchen amerikanische Juden, die "die Medien kontrollieren", mit ihren "nihilistischen, unmoralischen Programmen" das heilige ungarische Volk mit seinen Werten zu zerstören und zu unterwandern. Man kennt solche Ansichten auch aus einschlägigen Kreisen in Deutschland, Frankreich oder Polen. Neu und gewissermaßen "originell" ist Csurkas Überzeugung, der Zionismus bereite die Besiedlung und Eroberung Ungarns vor. Nachdem Israel Millionen sowjetischer Juden unterbringen müsse, das Palästinenserproblem aber weder politisch noch demografisch in den Griff bekomme, suche es nun Alternativen. Ungarn, insbesondere Budapest, sei ein "ganz natürlicher Siedlungsraum" für die Zionisten, schließlich leben hier bereits 100.000 Juden. Er, Csurka, könne nachweisen, dass in Ungarn bereits 178 Immobilienvermittlungen in israelischer Hand seien! Csurkas massiver Oberkörper fällt nach vorn, während er den Kopf schief legt und abwartet, ob seine Worte ihre Wirkung auch nicht verfehlen.

Spricht man ungarische Politiker auf diesen Mann an, so winken die meisten gelangweilt ab. Csurka sei ein Fossil, eine Randfigur, die parteipolitisch keinerlei Bedeutung mehr habe. Seine ideologische Programmatik hingegen ist in Ungarn weit verbreitet – was Regierung und Opposition nicht zugeben wollen. Der jüdische Schriftsteller Gábor T. Szánto wundert sich über den verbalen Antisemitismus in der ungarischen Politik nicht mehr. Die immer brutaler werdenden Angriffe zwischen Linken und Rechten, ausgelöst durch die überraschende und knappe Wahlniederlage von FIDESZ vor zwei Jahren, haben ein Vokabular freigesetzt, das im Westen Europas nicht mehr zu hören ist. Da beschimpft man sich gegenseitig schon mal wegen der tatsächlichen oder angeblichen "jüdischen Herkunft", zeiht sich gegenseitig des Antisemitismus, je nachdem, was politisch gerade nützlich erscheint. "Auch in den Medien ist Antisemitismus gegenwärtig und normal", erklärt Szánto besorgt. "Eine der beliebtesten Sendungen von Radio Kossuth, die Vasárnapi újság, die wöchentlichen ‚Sonntagsnachrichten‘, attackiert regelmäßig die jüdischen Gemeinden und Politiker jüdischer Herkunft. Diese Sendung hat über anderthalb Millionen Zuhörer!"

Szánto ist Chefredakteur der kleinen, aber feinen Zeitung Szombat, "Samstag", die sich anspruchsvollen politischen, kulturellen und religiösen Themen aus jüdischem Blickwinkel nähert, beispielsweise in der Frage, wann der Einsatz von Gewalt gerechtfertigt sei. Im Zentrum der jüdischen Ethik steht das Prinzip der Notwehr: Die jüdische Ethik erlaubt in manchen Fällen, schneller zur Gewalt zu greifen als die christliche Ethik. Die zwei kleinen Redaktionsräume des "Samstag" befinden sich im ersten Stock des Balint-Hauses. Von den Wänden bröckelt der Putz, Zeitungs-, Bücher- und Manuskriptberge türmen sich in wildem Durcheinander. Überall stehen veraltete Computer. Szánto und seine Kollegen sind mittlerweile in Ungarn bekannte jüdische Intellektuelle. Szánto lebte nach der Wende einige Zeit ganz orthodox, trug immer eine Kippa. Inzwischen ist sie von seinem fast kahlen Schädel verschwunden. "Es ist einfach unmöglich, in Budapest orthodox zu leben. Man ist gezwungen, ständig Kompromisse zu machen, wenn man seinen Alltag einigermaßen bewältigen will." Es gibt kaum koschere Restaurants in Budapest, oft muss man am Sabbat arbeiten. Viele Juden Ungarns leiden darunter, dass ihre christliche Umwelt keinerlei Rücksicht auf andere Glaubensgemeinschaften nimmt. Anders als in New York, Paris oder London ist die jüdische Kultur im Budapester Alltag keineswegs fest verankert und selbstverständlich.

Gábor Szánto ist Realist und hat seinen Frieden mit seinen Lebensumständen geschlossen. Die Redaktion ist sein zweites Zuhause. Auf den Tischen sind ausschließlich nur Materialien zum Judentum zu finden: hier ein Buch über halachische Fragen, dort ein Ausstellungskatalog aus dem Jüdischen Museum in Wien, hier ein in den USA erschienener Sammelband mit jüdischen Erzählungen, daneben leicht vergilbte Ausgaben israelischer Zeitungen. Schnell hat man in diesem Raum das Gefühl, man befände sich mitten im intellektuellen Universum des jüdischen Europas. "Was den meisten ungarischen Juden fehlt", sagt Szánto, "ist das Bewusstsein und das Wissen, dass wir wirklich eine andere Sicht auf die Welt haben als die Nichtjuden." Szánto, ein überaus politischer Jude, kritisiert nicht nur die ungarische Gesellschaft, sondern auch die verkrusteten Strukturen der jüdischen Gemeinde, deren ältere Vorstandsmitglieder sich jahrzehntelang mehr oder weniger freiwillig mit dem kommunistischen Regime arrangiert hatten. Leute, die heute von ihren Posten nicht lassen wollen. Darüber hinaus zeigen sie nur eine geringe Bereitschaft und Fähigkeit, auf die veränderten Bedingungen zu reagieren und die Gemeinde entsprechend zu öffnen und zu führen.

Um die Vergangenheit aufzuarbeiten, hat die rechte Regierung von Victor Orbán 2002 der Errichtung einer Holocaust-Gedenkstätte zugestimmt, die Anfang April, unter der jetzt sozialistischen Regierung von Péter Medgyessy, in Anwesenheit des israelischen Präsidenten Moshe Katzav feierlich eröffnet wurde (siehe Das Holocaust-Museum von Budapest). Direktor ist der erst 34-jährige promovierte Jurist András Darányi. Die langen, schwarzen Haare nach hinten gekämmt, sieht er in seinen Jeans und seinem T-Shirt eher aus wie ein Student als wie der Direktor einer der wichtigsten Gedenkstätten Ungarns. András Darányi setzt auf die Zukunft. Er vertraut darauf, dass eine neue Generation in Ungarn heranwachsen wird, die das Zusammenleben zwischen Juden und Nichtjuden als völlig selbstverständlich ansehen wird. "Natürlich haben wir Juden hier eine Zukunft!"

Die neuen Juden Budapests zeigen verhaltenen Optimismus. Sie sind überzeugt, dass der Eintritt Ungarns in die EU auch ihnen gut tut, wenn der Pluralismus in Osteuropa gestärkt und ihnen das Leben in Zukunft leichter sein wird. Ob Eszter oder Edina, Zsuzsa, Ánná, Miklós oder Rabbi Verö – sie alle leben gern in Budapest und denken gar nicht daran, Ungarn zu verlassen. Nur einer bleibt skeptisch: David, der Besitzer der Szóda-Bar. "Juden haben hier keine Zukunft", sagt er. "Meine Freunde hier, die nie woanders gelebt haben, machen sich was vor, sie haben sich so sehr an den ganz alltäglichen Antisemitismus gewöhnt, dass sie ihn in seinem ganzen Ausmaß nicht mehr spüren."

© DIE ZEIT 03.06.2004 Nr.24

Wie Ungarn sich erinnert:
Das Holocaust-Museum von Budapest

hagalil.com 14-06-2004

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