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Als Teil seines
Bestrebens, zeitgenössisches jüdisches Leben zu erforschen und zu
präsentieren, hat das Jüdische Museum Berlin Kontakt zu den
Mitgliedern von
Meshulash aufgenommen. Die in Berlin tätige jüdische kulturelle
Gruppe möchte mit ihrer Zeitschrift
Golem sowie mit kulturellen Initiativen und
Kunstausstellungen zeitgenössische deutsch-jüdische Kultur
mitdefinieren und fördern. Die Popularität jüdischer Themen in
Deutschland sowie weit verbreitete falsche Vorstellungen über
jüdisches Leben waren Gegenstand dieses Gesprächs.
Meshulash (was auf Hebräisch "Dreieck" bedeutet und auf den
multikulturellen Charakter der Gruppe verweist) wurde 1992 gebildet,
als eine Gruppe jüdischer Berliner zusammenkam, um historische
Fragen zu diskutieren, unter Einbeziehung ihrer eigenen politischen
und künstlerischen Auffassungen. Ihr Ziel besteht darin, ein
realistisches Bild des modernen deutschen Judentums zu präsentieren.
Dies sei besonders in der heutigen Zeit wichtig, in der jüdische
Traditionen und Bräuche im Namen einer jüdischen kulturellen
Renaissance häufig miteinander vermengt und mißbraucht werden.
Mit ihren unterschiedlichen Lebensgeschichten sind die Mitglieder
von Meshulash so vielfältig und multikulturell wie die jüdische
Bevölkerung Berlins insgesamt. Auch ihre Gründe für ein Leben in
Berlin unterscheiden sich sehr. Ronnie, Victor und Jaro waren zum
Beispiel gezwungen nach Deutschland zurückzukommen, als ihre
ausgewanderten Eltern beschlossen, dass sie doch nicht nach England
oder in die Tschechoslowakei gehören, und sie in ihr Geburtsland
zurückkehren wollten. Für Ronnie, Victor und Jaro war das ein
furchtbarer Schock, denn sie fühlten sich überhaupt nicht als
Deutsche. Sie brauchten lange, um sich an das Leben in Berlin zu
gewöhnen und die Vorurteile abzubauen, die sie während ihrer Zeit im
Ausland gegenüber Deutschen entwickelt hatten. Aber nachdem Ronnie
30 Jahre lang in dieser Stadt gelebt hat, ist er ein echter Berliner
geworden und würde hier niemals weg wollen.
Ganz anders Jaro und Victor.
Sie haben zwar ihr Leben in Deutschland inzwischen akzeptiert, aber
sie freuen sich schon jetzt auf den Zeitpunkt, wenn sie nach Prag
zurückgehen. Anna ist nach Deutschland gekommen, weil ihre Mutter
sich in Israel nicht zu Hause fühlte. Sie sieht Berlin nicht als
ihren endgültigen Wohnort an und empfindet ein ständiges Bedürfnis,
mit unterschiedlichen Kulturen in Berührung zu kommen und sie zu
erkunden. Gabriela, die aus Argentinien kommt, aber viele Jahre in
Israel gelebt hat, und Gabriel, der in Frankreich geboren und
aufgewachsen ist, kamen aus freien Stücken im Erwachsenenalter nach
Berlin, um das Geburtsland ihrer Eltern und seiner Vorfahren zu
erkunden. Als sie sich zum Bleiben entschlossen, mussten sie die
Sprache erlernen und sich an die neue Kultur gewöhnen. Iris und
Michael haben eine völlig andere Geschichte: Sie wurden in München
geboren und haben immer im Lande gelebt. Iris´ deutschem Vater
gelang es, den Holocaust in einem Versteck zu überleben, und
Michaels polnischer Vater war Flüchtling in einem Displaced
Persons-Lager, das von amerikanischen Soldaten errichtet wurde.
Eines der stärksten Bande, das die Gruppe neben ihrer Zugehörigkeit
zur jüdischen Religion und Kultur miteinander verbindet, ist die
Stadt, in der sie leben und arbeiten. Berlin ist für den Geist und
die Botschaft von Meshulash ganz wesentlich, weil diese Stadt, die
sich so schnell entwickelt, einen fruchtbaren Boden für neue Ideen
und freien Meinungsaustausch bietet. Die meisten Mitglieder stimmen
darin überein, dass sie in keiner anderen deutschen Stadt leben
wollten, weil ein kosmopolitisches Zentrum wie Berlin es ihnen
ermöglicht, ihre "Verschiedenartigkeit" freier auszuleben. Inmitten
dieser Vielzahl unterschiedlicher Kulturen, Rassen und Religionen
fühlen sich die Mitglieder von Meshulash nicht so "wahrnehmbar" und
als Juden eher akzeptiert.
An der Jahrtausendwende, mehr als fünfzig Jahre nach dem Holocaust,
scheint Europa endlich dazu bereit zu sein, offen über Juden zu
sprechen. Die europäische jüdische Kultur ist plötzlich sehr
"trendy" geworden. Jüdische Festivals sind Teil des Kulturprogramms
vieler europäischer Städte geworden. Meshulash, in den letzten
Jahren aktiv am Berliner Jüdischen Festival beteiligt, nimmt dieses
Phänomen mit einer gewissen Skepsis wahr.
Anna schätzt den Trend zur jüdischen Renaissance als sehr politisch
ein - und darum immer noch sehr stark mit Klischees verbunden. Beim
letzten Berliner Jüdischen Kulturfestival zum Beispiel stand
besonders Klezmer–Musik im Vordergrund - eine künstlerische
Ausdrucksform, die zur osteuropäischen jüdischen Vergangenheit
gehört, die aber in Annas Augen mit Berlins Zeitgeist gar nichts zu
tun hat. Die Klezmer–Musik ist ein typisches Beispiel für einen
jüdisch-amerikanischen Rückimport und ist zu einem modischen
"Blickfang" geworden. Und Bagels, so köstlich sie auch sein mögen,
sind nicht Bestandteil der deutschen Tradition, obwohl sie häufig so
vermarktet werden. Meshulash verweist darauf, dass Bagels erst in
letzter Zeit durch amerikanische Juden wieder in Europa eingeführt
wurden und daher nicht als Bestandteil des modernen europäischen
jüdischen Lebens dargestellt werden sollten. Darüber hinaus
kritisiert Meshulash den Import amerikanischer Künstler für jüdische
Festivals in Berlin. Sind Amerikaner denn als Beispiele für
Juden besser geeignet als Europäer?
Meshulash ist häufig mit
diesen Fragen konfrontiert. Sie glauben, dass das Judentum
heutzutage zwar ein populäres Thema geworden ist, aber dass das
Publikum noch nicht dazu bereit ist, die tatsächliche Realität
kennenzulernen. Vom Judentum - wie auch von vielen anderen Kulturen
- wird heute erwartet, dass es politisch korrekt bleibt: Es werden
herausragende Familiengeschichten sowie Lebenserfahrungen und
Martyrien von Intellektuellen erwartet – aber gibt es auch Interesse
an den wahren Geschichten?
Die Kritik von Meshulash mag hart erscheinen, aber Provokation ist
der Kern der intellektuellen und künstlerischen Haltung der Gruppe.
Es mißfällt ihnen, mit anzusehen, wie die wenigen jüdischen
Künstlerinitiativen, die in Deutschland überleben, sich an diese
"touristenhafte" Mentalität anpassen müssen, und damit Vorstellungen
von einer künstlichen und ersehnten Welt Vorschub leisten. Daher
erwarten sie vom Jüdischen Museum Berlin, dass es bereit ist,
provokative Fragen zu stellen und alle Themen des deutsch-jüdischen
Spektrums anzugehen.
Wir sind dazu bereit, die Herausforderung von Meshulash anzunehmen:
Das Jüdische Museum Berlin wird mehr als nur eine Fassade sein...
Aber wir können nicht versprechen, dass wir unsere Besucher in der
Cafeteria nicht auch einen frischen und duftenden Bagel kosten
lassen!
Informationen über Golem und
Meshulash erhalten sie bei: Meshulash Berlin, Wielandstr. 37, 10629
Berlin, e-mail
golem@hagalil.com, tel. 030 / 3961789, fax 030 / 39731371.
Quelle "Nachrichtenblatt
des Jüdischen Museums in Berlin"
haGalil onLine
20-03-2001
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