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IN einem
Aufsatz von 1976 kündigte Herbert Marcuse das Aufkommen einer neuen
autoritären Ordnung an, die in den Vereinigten Staaten ihre
fortgeschrittenste Form gefunden habe. Diese neue Ordnung ist nichts
anderes als die Dynamik, die man heute "Globalisierung" nennt: ein
System, das sowohl "die traditionellen Formen" politischer
Repression einzusetzen versteht als auch einen "sich ständig
perfektionierenden Apparat technischer und ideologischer
Indoktrination" wie Medien, Schulen usw.(1), das heißt Formen der
sozialen Kontrolle, die Marcuse für Kennzeichen der eindimensionalen
Welt der Nachkriegszeit hielt.(2 )Weniger bekannt ist, dass Marcuse
in zwei Essays aus dem Jahre 1942 - "State and Individual under
National Socialism"(3) und "Die neue deutsche Mentalität"(4) -
dieselben Merkmale bereits im Nazismus ausgemacht hatte.
Marcuses
Überlegungen aus der Zeit, da er für die US-Nachrichtendienste
arbeitete, bewegen sich im Rahmen der damaligen Debatte über Wesen
und Bedeutung des Naziregimes, die maßgeblich von den in die Neue
Welt emigrierten Intellektuellen jüdischer Herkunft bestritten
wurde. Marcuse war damals ein führende Vertreter der Frankfurter
Schule, also eines heterodoxen Marxismus, der sich nicht zu der
offiziellen Linie der Dritten Internationale bekannte, das heißt zur
Definition des NS-Systems als "die offene Diktatur der
reaktionärsten, chauvinistischsten und imperialistischsten Elemente
des Finanzkapitals"(5).
Gleichwohl
gab es innerhalb der Frankfurter Schule unterschiedliche Positionen.
So interpretierten Max Horkheimer und Friedrich Pollack das
NS-System als eine Form von "Staatskapitalismus", eine neue Ordnung,
die das traditionelle Abhängigkeitsverhältnis zwischen Politik und
Wirtschaft umkehrt (weshalb Horkheimer nach dem Kriege die
marxistische Kategorie der "Klasse" durch die der "Erpresserbande"
ersetzte). Demgegenüber beschrieben Autoren wie Franz Neumann,
Arkadij Gurland und Otto Kirchheimer, die stärker dem Marxismus
verhaftet waren, das Naziregime als eine Form von "totalitärem
Monopolkapitalismus", die voll in der Kontinuität der hierarchischen
Struktur des kapitalistischen Systems verankert sei.(6)
Andere in die
USA emigrierte Intellektuelle wie Ernst Fraenkel sahen im NS-System
die Koexistenz eines "normativen Staates" (der das Funktionieren
einer weiterhin kapitalistischen Wirtschaft zu gewährleisten hatte)
und eines "Maßnahmestaates" (der außerhalb jeglicher Rechtsordnung
allein nach dem Kriterium "politischer Opportunität" agiere und sich
in erster Linie gegen die "Feinde des Regimes" richtete).(7) Diese
Überlegungen flossen auch in die "Totalitarismusdebatte" ein, an der
eine andere jüdisch-deutsche Emigrantin starken Anteil hatte: Hannah
Arendt. In ihrem Werk wird das Konzentrationslager - als
rechtsfreier Raum und Ort der Präparierung des Menschen - zur
prägenden Metapher einer neuartigen Form von Politik. Deren Wurzeln
sieht sie jedoch im rationalistischen Konstruktivismus der Moderne,
der davon ausgehe, dass alles, auch die menschliche Natur, durch
Ideologie transformierbar ist.(8)
Marcuses
Position steht quer zu diesen Interpretationen, hält aber an einer
marxistischen Perspektive fest. Entgegen der liberalen
Überzeugung(9) sind für ihn Totalitarismus und Kapitalismus keine
unvereinbaren Begriffe, der Kapitalismus sei vielmehr ein System,
das die Totalität sozialer Beziehungen regelt. Im Verlauf des 20.
Jahrhunderts tritt dieses Wesensmerkmal des Kapitals offen zu Tage,
und das System wird totalitär. Die Worte "monopolistisch" und
"totalitär" (später: "eindimensional") sind für ihn fast
austauschbar und bezeichnen zwei Seiten derselben Erscheinung: "die
Gesellschaft als Ganze hat sich gegen die Interessen der Einzelnen
erhoben", und zwar mittels einer auf Effizienz und Präzision
beruhenden technischen Rationalität.
"Totalitarismus" ist für Marcuse ein umfassender Begriff, der die
neue Tendenz des Systems Kapitalismus zu erklären vermag, die sich
in verschiedenen historischen Formen, in "Personifikationen" der
Totalität manifestieren (Nationalsozialismus-Faschismus,
sowjetischer Kommunismus und Welfare State), die ungeachtet ihrer
Besonderheit aus der monopolkapitalistischen Entwicklung
resultieren.
Die Studie
über den Nationalsozialismus stellt also den ersten Versuch Marcuses
dar, diese historischen Formen von Totalität zu analysieren (später
folgen dann seine bekannteren Arbeiten über den sowjetischen
Marxismus und die liberalen Demokratien des Westens).(10) Diese
Studie will die scheinbar gegensätzlichen, tatsächlich aber
spiegelbildlichen Thesen widerlegen, die im Nazismus lediglich eine
Revolution oder Restauration der traditionellen Ordnung Deutschlands
sehen. In der Tat hat das NS-Regime die Produktionsverhältnisse
nicht verändert, erst recht nicht den grundlegenden Widerspruch
zwischen Kapital und Arbeit überwunden. Dennoch gibt es nur wenig
Gemeinsamkeiten zwischen den politischen Strukturen des alten Reichs
und dem NS-Staat, der zudem die technische Modernisierung
Deutschlands betrieben hat. Für Marcuse handelt es sich um eine Art
Technokratie: "Die technischen Erwägungen hinsichtlich
imperialistischer Effizienz und extremer Rationalität treten an die
Stelle der traditionellen Kategorien von Profitabilität und
Allgemeinwohl."(11)
Die
NS-Herrschaft wurde nicht allein durch brutale Gewalt
aufrechterhalten, sondern auch "durch die geschickte Manipulation
einer der Technologie innewohnenden Macht: Die Intensivierung der
Arbeit, die Propaganda, das Drillen der Jugend und der Arbeiter, die
bürokratische Organisation von Regierung, Industrie und Partei -
alles Instrumente des alltäglichen Naziterrors - gehorchen den
Direktiven maximaler technologischer Effizienz."(12) Die
nationalsozialistische Realität ist die einer Staats-Maschine, deren
Bewegung sich scheinbar ihrer eigenen Notwendigkeit verdankt: der
von Wirtschaftswachstum und Massenproduktion. Mit dem Aufkommen der
technologischen Rationalität wurde das freie ökonomische Subjekt
"zum Objekt einer Organisation und Gleichschaltung großen Stils, und
die Umsetzung von individuellen Fähigkeiten hat sich in
standardisierte Effizienz verwandelt".
"Die
technologische Rationalität" ist für Marcuse "Standardisierung und
monopolistische Konzentration zugleich." Die Technologie ist "eine
Form, die sozialen Beziehungen zu organisieren und festzuschreiben
(oder zu verändern), eine Manifestation des herrschenden Denkens und
der bestehenden Verhältnisse, ein Kontroll- und
Herrschaftsinstrument". In diesem Sinne liefert der
Nationalsozialismus "ein anschauliches Beispiel für die Bedingungen,
unter denen eine hochgradig rationalisierte und technisierte
Wirtschaft, die über eine maximale Produktivkraft verfügt, im
Interesse totalitärer Unterdrückung agieren und ein Mangelregime
festschreiben kann"(13).
Das NS-System
ist also eine kapitalistische und autoritäre Antwort auf
diesozioökonomischen Veränderungen des 20. Jahrhunderts. In seinem
Kommentar zur Rede Hitlers vor den Ruhr-Industriellen von 1932
verdeutlicht Marcuse, wie sehr die Wirtschaft des Dritten Reiches
organisatorisch auf die Interessen der Großindustrie bezogen bleibt.
Allerdings sind diese Interessen an die neue Phase monopolistischer
Akkumulation angepasst, die eine "Veränderung der ökonomischen und
politischen Verhältnisse" erzwingt, um die Wettbewerbsfähigkeit auf
dem Weltmarkt abzusichern. Politische Expansion und Herrschaft
sollen die wirtschaftliche Expansion und Herrschaft nicht nur
ergänzen, sondern "überflügeln".
Der Staat
wird so zum Erfüllungsgehilfen der Wirtschaft, indem er die "totale
Mobilisierung" der Nation im Dienste des übergeordneten Ziels, der
wirtschaftlichen Expansion, organisiert und koordiniert.
Zwangsläufige Folge dieser Veränderung ist die Errichtung eines
offen autoritären Systems, in dem die Trennung zwischen Staat und
Gesellschaft weitgehend aufgehoben ist, indem der
Nationalsozialismus "den tatsächlich an der Macht befindlichen
gesellschaftlichen Gruppen politische Funktionen übertragen hat".
Das System tendiert mithin "zur Autonomie von direkter und
unmittelbarer Herrschaft der führenden Gesellschaftsschichten über
den Rest der Bevölkerung".
Das Ende der
Trennung von Öffentlichkeit und Privatsphäre, wie sie für die
liberale Ära des Kapitalismus typisch ist, äußert sich auf
individueller Ebene im Wegfall der Privatheit sowie in der
schleichenden Zerstörung traditioneller Tabus auf sexueller und
moralischer Ebene. Damit werden aber nicht etwa individuelle
Energien freigesetzt, sondern diese gehen in der Masse auf, was die
Vereinzelung der Menschen noch verstärkt. Denn die Masse verbindet
kein gemeinsames Interesse und Bewusstsein, vielmehr besteht sie
"aus Individuen, die ihr je eigenes primitives Eigeninteresse
verfolgen, das auf den reinen Selbsterhaltungstrieb reduziert ist.
Dieser Trieb ist allen gemeinsam."
Der für die
umfassende Mobilisierung der Arbeitskraft erforderliche Verlust an
Freiheit wird aufgewogen durch eine neue wirtschaftliche Sicherheit
und eine neue Sittenfreiheit: "Der Nationalsozialismus verwandelte
das freie in das wirtschaftlich abgesicherte Subjekt, und an die
Stelle des gefährlichen Ideals der Freiheit trat die Schutz
versprechende Realität der sicheren Existenz." Sieht man vom
Rückgriff auf eine martialische, urzeitliche Mythenwelt ab, trägt
das NS-System alle wesentlichen Züge der neuen Ordnung, wie sie in
"Der eindimensionale Mensch" beschrieben werden(14): einer Ordnung,
die( )"auch die gefährlichsten Schlupfwinkel der individualistischen
Gesellschaft" gleichschaltet. Der durch Vollbeschäftigung gesicherte
Wohlstand verleitet alle dazu, "eine Welt zu lieben und am Leben zu
halten, die sich seiner als Werkzeug der Unterdrückung bedient".
Wettbewerbsfähigkeit, Effizienz, Sicherheit: diese Begriffe haben
auch als Losungsworte der neuen globalen Ordnung Gültigkeit.
Unterschiedlich ist allerdings ihr Bedeutungsgehalt. Für Marcuse
zeigt sich die Aufhebung der Trennung von Staat und Gesellschaft -
erzwungen durch Forderungen nach Wettbewerbsfähigkeit und Effizienz
- in einer Politik, die durch staatliches Eingreifen in die
Wirtschaft ihre angestammten Grenzen überschreitet. Heute
manifestieren sich die gleichen Forderungen auf gegenteilige Weise:
durch den Rückzug der öffentlichen Hand zugunsten der Märkte, die
ungehindert das Feld politischer Entscheidungen erobern. Ebenso hat
sich auch die Bedeutung des Themas Sicherheit verändert: mit der
mittlerweile auch in den technologisch fortgeschrittenen
Gesellschaften wachsenden Massenarmut verliert "Sicherheit" ihren
ökonomischen Sinngehalt und gewinnt ihre polizeiliche Bedeutung von
"Null Toleranz" zurück: als Ein- und Wegschließen der Männer und
Frauen, welche die verarmte Festung belagern.
Es handelt
sich also um ein repressives System, für das es keine rationale
Rechtfertigung mehr gibt, das sich der Kritik ungeschützt darbietet
und womöglich Perspektiven für eine echten politischen Wechsel
eröffnet - und dennoch stärker und unangefochtener zu sein scheint
als je zuvor. Der Erfolg der Gegner des Neoliberalismus wird davon
abhängen, ob sie diesen eklatanten Widerspruch zwischen
außergewöhnlicher Stärke und fehlender Legitimität aufzubrechen
verstehen, ohne auf überholte Rezepte zu setzen. Oder wie Marcuse
sagte: "Gegen das Gespenst des Faschismus amerikanischer Prägung
liefert die durch ihre Zersplitterung geschwächte, einer effizienten
Organisation entbehrende Linke einen ungleichen Kampf. Ihre
wichtigste Waffe bleibt, theoretisch wie praktisch, die politische
Erziehung - die Gegen-Erziehung: ein langes und mühsames
Unterfangen, das darin besteht, den Leuten zu Bewusstsein zu
bringen, dass die zum Erhalt der bestehenden Gesellschaft
erforderlichen Repressionen überflüssig geworden sind, dass es
möglich ist, sie abzuschaffen, ohne sie deswegen durch ein anderes
Herrschaftssystem zu ersetzen."
dt.
Christian Hansen
Fußnoten:
(1) Herbert Marcuse, "Un Nouvel Ordre", Le Monde diplomatique,
Juli 1976.
(2) Vgl. Herbert Marcuse, "Der eindimensionale Mensch. Studien zur
Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft", München
(dtv) 1994. Zu Marcuse vgl. Douglas Kellner, "Herbert Marcuse and
the Crisis of Marxism", Berkeley (University of California Press)
1984.
(3) Der auf Englisch verfasste Essay erschien erstmals in Herbert
Marcuse, "Technology, War and Fascism", hg. von Douglas Kellner,
London/New York (Routledge) 1998.
(4) Der Essay ist erschienen in Herbert Marcuse "Feindanalysen. Über
die Deutschen", hg. von Peter-Erwin Jansen, Lüneburg (zu Klampen)
1998.
(5) Nach den Worten von Kommunistenführer (Generalsekretär der
Komintern) Georgi Dimitroff auf dem 7. Weltkongress der Komintern,
Juli-August 1935.
(6 )Rolf Wiggershaus, "Die Frankfurter Schule", München (Hanser)
1986.
(7 )Ernst Fraenkel, "Der Doppelstaat", Frankfurt (Fischer) 1984.
(8) Hannah Arendt, "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft",
München (Piper), 1996.
(9) Carl Friedrich und Zbignew Brzezinski, "Totalitarian
Dictatorship and Autocracy", Harvard University Press 1956, aber
auch Raymon Aron, "Etats démocratiques et Etats totalitaire",
Commentaire, 24, 1983-1984.
(10) Herbert Marcuse, "Die Gesellschaftslehre des sowjetischen
Marxismus", Schriften, Bd. 6, Frankfurt (Suhrkamp) 1989 und "Der
eindimensionale Mensch", op. cit.
(11 )Herbert Marcuse, "Some Social Implications of Modern
Technology", Studies in Philosophy and Social Science, 9, 3,
New York, 1941, S. 414-439.
(12) Herbert Marcuse, "Die neue deutsche Mentalität",
op. cit.
(13 )Herbert Marcuse,( )"Some Social Implications ...",
op. cit.
(14) Herbert Marcuse, "Der eindimensionale Mensch",
op. cit.
Le Monde
diplomatique vom 13.10.2000
Dokumentation RAFFAELE LAUDANI
Bücher von
Herbert Marcuse
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haGalil onLine
16-10-2000
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