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"Eyn mah la´assot"
- da kann man nichts machen - ist ein beliebter Satz im alltäglichen
Israel. Kaum eine andere Phrase könnte die tiefsitzende Resignation
zum Ausdruck bringen, mit der sich viele Israelis einem alltäglichen
Wahnsinn entziehen, dem Wahnsinn des andauernden Konfliktes mit den
Nachbarvölkern und der bleiern wirkenden Behinderung der Entwicklung
des Landes, die immer und immer wieder durch diesen Konflikt
ausgelöst wird.
Wer aus einem konfliktarmen Land nach Israel reist, nimmt - bis die Gewöhnung
einsetzt - im israelischen Alltagsbild durchaus wahr, daß "irgendetwas nicht
stimmt". Die zahlreichen Uniformen der vielen wehrpflichtigen jungen Frauen und
Männer, die im Straßenbild kaum zu übersehen sein dürfte, die Taschenkontrollen
am Eingang jedes Einkaufszentrums oder Supermarktes, oder auch schon, bei der
Einreise, die Tatsache, daß Israel als wohl einziges westliches Land jede Ein-
und Ausreise, auch der eigenen Bürger, in einer Datei registriert, sind Hinweise
auf eine ständig präsente, sublime Gefahr, die "überall und nirgendwo" lauern
mag.
Es ist nicht etwa so, daß der Tourist, der ins Land kommt, oder auch der
gewöhnliche Bewohner sich aktuell bedroht fühlt oder fühlen müßte. Dort, wo man
sich gewöhnlicher weise aufhält, sieht man weder brüllende Horden
steinewerfender Jugendlicher, noch notdürftig aus Tonnen oder Betonblöcken
errichtete Straßensperren. Nirgends gewinnt man den Eindruck, man müsse nun
fortlaufen, um sich vor Angriffen zu schützen. Die im israelischen Alltag
sichtbaren Zeichen des Konfliktes wirken eher wie ständige Mahnungen, daß wir
bedroht sind - ohne aber daß die Bedrohung unmittelbar sichtbar wäre. Im
Interesse der eigenen Sicherheit, der Sicherheit des Landes muß man sich ständig
in die Tasche oder in den Kofferraum schauen lassen. Eyn mah la´assot. Kacha
b´Israel, so ist es in Israel.
Die Wehrpflicht beträgt im Regelfall für israelische Männer drei, für Frauen
zwei Jahre. Die Grundausbildung ist sehr hart. Theoretisch könnte man sich ohne
Mühe vor der Wehrpflicht drücken, was aber praktisch nur Ultrareligiöse tun und
künftig auch nicht mehr sollen: Die gemäßigt religiösen Männer absolvieren sehr
häufig einen mit einem religiösen Kurs kombinierten Wehrdienst, Frauen aus
dieser Gesellschaftgruppe dann eine Art Zivildienst.
Bei Bewerbungen ist es in in der israelischen Gesellschaft äußerst wichtig,
welcher Armeeeinheit man angehörte, ob man etwa nur als "Jobnik" irgendeine
Verwaltungstätigkeit ausübte oder aber in einer "ausgewählten Kampfeinheit"
womöglich sein Leben, in jedem Falle aber seine Gesundheit riskierte. Später
werden Männer zu "Miluim", Wehrübungen eingezogen, die nicht selten einen Monat
im Jahr andauern.
Ist gerade keine Präsenz in der Militärbasis erforderlich, geht man während
dieser Zeit, ständig abrufbereit, auch einmal in Uniform, mit Gewehr, für ein
paar Stunden ins Büro. Oder nimmt das Handy "ins Feld" mit, um mit
Geschäftspartnern eben von dort aus zu verhandeln. Niemand zweifelt an der
Notwenigkeit der Armee, der Miluim, des eigenen Einsatzes, aber dringende
Geschäftspost darf eben auch nicht liegenbleiben. Telearbeit vom Militär aus.
Eyn mah la´assot.
Wehrpflicht und Armee sind selbstverständlich nicht nur Trockenübungen, und das
bedeutet auch, daß es kaum eine Familie in Israel gibt, die nicht einen
Angehörigen in einem der Kriege verloren hat. Die ganz überwiegende Mehrheit der
Israelis ist davon überzeugt, daß es für Juden keinen anderen Ort als Israel
gibt, um wirklich in Würde zu leben.
Ohne Israel, dem Garanten jüdischer Freiheit und Ehre, auch in der Diaspora,
sind Juden der Willkür fremder Mächte ausgesetzt. Und was die Geschichte lehrt,
was sie vermittelt, ist, daß man sich nicht sicher sein kann, in der Minderheit
zu überleben, aller Garantien zum Trotz.
Die Reconquista in Spanien, die gescheiterte
"Judenemanzipation" in Europa, die Shoah, diese Ereignisse haben gezeigt, daß
die Rezepte der Integration in andere Gesellschaften, mit oder ohne
Assimilation, Luftschlösser sind. Kurzfristig vielleicht nicht, über
Jahrtausende aber schon. Heute in Ehren und allen Würden, sind in der Galluth,
der Diaspora, schon morgen, völlig überraschend und ohne eigenes Zutun, der Haß
und die denkbar größte Erniedrigung möglich.
Die Geschichte wird ungern abschnittsweise
betrachtet. Wunden der Vergangenheit vernarben, die Narbe bleibt aber. Es gibt
keinen Grund, zu vergessen, zu verdrängen. Nur auf sich selbst kann man sich
noch verlassen. Die Welt "außerhalb" ist manchmal erstaunlich bunt, vielfältig,
wohlhabend. Amerika, Europa, das sind Länder, in denen zu arbeiten es sich
lohnt, in Frieden, Freiheit, Wohlstand. Wäre man nicht zumindest doch
potentieller Außenseiter.
Mit Überraschung wird es gesehen, daß ein
religiöser Jude Vizepräsident der USA werden möchte. Daß es außerhalb Israels
doch nicht so viel Diskriminierung gibt, daß dies unmöglich wäre. Daß ein Jude,
der den Shabbat hält und keine Konzessionen an die Mehrheitsgesellschaft macht,
inmitten des Staatswesens eines nichtjüdischen Staates stehen kann und es nicht
nur in einer Nischenexistenz im geschäftlichen oder künstlerischen Bereich zu
etwas bringen kann.
Antisemitische Anwürfe gegen solche Menschen
würden aber kein Erstaunen auslösen. Die Erinnerung an die seltsamen Mechanismen
der Diaspora sind in Erinnerung geblieben. Dauerhaft können Juden dort nichts
werden, selbst wenn das Gold dort glänzt, selbst wenn Israel nicht Teil der
großen weiten Welt ist, sondern ein Staat, der ständig um seine Existenz bangt,
weil im Endergebnis doch alle, außer Juden selbst, gegen etwas Jüdisches in der
Gesellschaft sind.
Der Taxifahrer aus Jerusalem sprach von Israel
als großem Bluff. Nicht ernstzunehmen. Alles Leid, das ertragen werden mußte, in
der Erinnerung mitschwingt, führt zu Selbstmitleid, Resignation. Der Rückzug ins
Private, ins eigene Über-Leben, hilft dort weiter. Im Mittelpunkt steht, wie
sichere ich mit meinem mageren Gehalt, nach allen Abzügen, daß ich meine Wohnung
abbezahlen kann, meine Kinder eine halbwegs vernünftige Ausbildung erhalten. In
einer traurigen Phase wird eben nicht geglaubt, daß der große Wurf gewagt werden
kann. Es geht schlecht, manchmal gelingt auch eine Kleinigkeit. Es glänzt aber
nichts. Eyn mah la´assot.
In den Nachrichten hört man über die neuesten Entwicklungen des Konflikts. In
der Vergangenheit hat Israel seinen Staat etwas sichern können. Die Feinde sind
geblieben. Und sie werden wohl Feinde bleiben. Wer versteht schließlich Araber.
Das sind Gewalttätige, die schon als Kinder aufgehetzt werden. Gut, da ist der
Araber, der mit einem im Büro arbeitet. Ein netter Mann, der immer freundlich
ist und viel Verstand hat. Mit guter Berufserfahrung, im Ausland studiert,
spricht exzellentes Englisch und Hebräisch natürlich ohne Akzent. Schön, daß wir
ihn haben, da kann man ihn doch auch mal bitten, den Ordner mit den arabischen
Dokumenten durchzuschauen, in denen er auch prompt den Haken an der ganzen Sache
findet.
Unvorstellbar, daß ihn jemand diskriminieren würde. Als die Unruhen wieder
losgingen, war ihm das so peinlich, er wollte mit kaum jemandem reden. Man
wünscht ihm auch höflicherweise keinen schönen Feiertag, weil es ja nicht sein
Feiertag ist. Eine schöne Zeit, bis Dienstag, das sagt man eben. Einen schönen
muslimischen Feiertag wünscht man ihm auch nicht. Wir kennen seine Feiertage ja
nicht, die stehen ja nicht im Kalender. Wenn er dabei ist, spricht man auch
vorischtiger über Araber. Sagt nicht unbedingt, daß man Arabern eigentlich nicht
trauen kann, mit ihnen keine Verträge abschließen würde. Er könnte es so
verstehen, daß man ihn persönlich treffen wollte. Er ist so ein netter Kerl, das
will man nicht. Sonst weiß man nicht so viel über ihn.
Er wohnt irgendwo, wo man selbst nie hinfährt. Ist zwar in Israel, aber man
kennt den Ort nur von der Landkarte. Ihn zu Hause besuchen, das wäre vielleicht
gefährlich. Man weiß ja nie, wie die Leute dort reagieren. Israeli ist er auch.
Wählt bestimmt irgendwelche Araberparteien. Am besten redet man nicht darüber.
Sonst könnte es noch hochkommen, daß er vielleicht doch im anderen Lager steht.
Dem Lager, das einem gefährlich werden könnte. Eyn mah la´assot.
Ankommen will gelernt sein. Es ist schwierig, braucht Überwindung. Jedes Kind
lernt, nach zweitausend Jahren sind wir nun wieder angekommen, auf einem
Streifen nun begrünter Wüste. An das Land hat man sich schon gewöhnt. Der
vierzehnjährige Israeli, dessen erster Auslandsflug in Berlin endet, war beim
Landeanflug erstaunt über die vielen Seen, die man vom Flugzeug aus sehen kann.
Welch Luxus es doch in Europa gibt. Viel Wasser. Und alles sieht so fertig aus.
Gepflegt, augebaut.
Wenn in Europa gebaut wird, ist das ernst gemeint. Alles soll so lange halten,
wie es halten kann. In Israel merkt man erst langsam, daß Gebäude so errichtet
werden können, daß sie auch noch nach dreißig Jahren gut brauchbar sind. Und
nach etwas aussehen. So langsam will man nicht mehr alle zehn, zwanzig, hundert
Jahre irgendwo ausziehen, um wieder in der Welt herumzuwandern. Und sich wieder
provisorisch so niederzulassen, in Gebäuden fremden Baustils.
Der Baustil Tel Avivs kommt aus Dessau, in
Jerusalem baut man klassisch, mit Sandsteinfassade. Daraus wird der eigene Stil.
Man beginnt zu verstehen, die ersten Gebäude sind in Tel Aviv schon unter
Denkmalschutz gestellt, wegen der hervorragenden Architektur. Nun werden sie
sogar repariert und gestrichen. Nach fünfzig Jahren wird klar, das muß eventuell
Jahrzehnte halten, Ende der Improvisation.
Auch im Privaten sorgt man nun ein wenig vor. Das
Gehalt ist zwar immer noch gering, im Vergleich zu dem, was man in Europa oder
Amerika verdienen könnte. Aber vielleicht wird man hier sogar alt und gibt das
wenige Geld nicht nur zum Leben hier und jetzt aus. In den neuen High-Tech-Jobs
bleibt ein wenig zum Investieren in die Zukunft der eigenen Familie übrig, man
kann etwas tun: Yesh mah la´assot.
Und vielleicht ist der eigene jüdische Staat, das Israel der Zukunft, wirklich
nicht nur ein Witz. Vielleicht kann man hier wirklich, ohne laufend von den
Nachbarn angegriffen zu werden, über Jahrhunderte leben. Vielleicht ist auch die
zweite Utopie nach der vollzogenen Utopie der Staatsgründung, nämlich die
Utopie, als Volk im eigenen Land zu leben, ohne laufend Überfälle befürchten zu
müssen, irgendwann real.
Zur Zeit sieht es nicht nach Frieden aus. Aber
für eine kurze Zeit, eine kleine Weile, sah es so aus, als hätten die arabischen
Nachbarn ein paar wenige Interessen, die sie mit Israel teilen und gemeinsam
verwirklichen. Gut, kurze Zeiten sind immer trügerisch, wie die Erinnerung
zeigt. Und vielleicht ist es verführerisch, sich einseitig abzusetzen von der
Umwelt, sich wieder zurückzuziehen in das eigene kleine Land, das immer noch
etwas von einem großen Flüchtlingslager hat.
Die einseitige Abkoppelung von den Arabern zu
wagen, wir hier, die da, wie es auch mit Ägypten leidlich funktioniert, und so
mal wieder etwas Ruhe zu haben. Aber in der Zeitung steht nun auch zu lesen, auf
Dauer könne das vielleicht auch nicht funktionieren. Will man ankommen, muß man
auch mit den anderen dort in Frieden leben. Yesh mah la´assot.
haGalil onLine
26-10-2000
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