Das Herz der Welt:
Die Geschichte der Juden in New York
Von
Tekla Szymanski
Die Autorin
lebt als Journalistin in New York und ist Associate Editor des
World Press Review Magazine sowie USA-Korrespondentin der
Frankfurter Zeitschrift Tribüne.
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II.
1880-1930
Die anti-jüdischen Pogrome in Rußland führten
zu einer gewaltigen jüdischen
Einwanderungswelle nach Nordamerika: 1881-82
erreichten Tausende von Juden aus
Südrußland, über Österreich, die Hafenstadt
Brody, von wo europäische jüdische
Hilfsorganisationen die Flüchtlinge nach
Bremen und Liverpool weiterleiteten und sie
dort einschifften: das Ziel war New York.
Von 1820 bis 1880 kamen jährlich 200.000
Einwanderer - Juden wie Christen - nach New
York. Insgesamt erreichten in dieser
Zeitspanne 9 Millionen Einwanderer den New
Yorker Hafen. Die jüdische
Masseneinwanderung hatte ihren Anfang
genommen.
Um 1870 kamen rund 40.000 osteuropäische
Juden nach New York, 1880 weitere 200.000,
und 1890 folgten ihnen über 300.000 Juden.
Zwischen 1900 und 1914 schlossen sich ihnen
1.5 Millionen, meist jüngere osteuropäische
Juden an. 64 Prozent waren gelernte
Arbeiter, 60 Prozent von ihnen kamen aus der
Bekleidungsindustrie oder waren Kaufleute.
Die Mehrzahl der 1.4 Millionen jüdischen
Einwanderer, die zwischen 1880 bis 1910 nach
New York kamen, blieben in der Metropole und
verlegten ihr Shtetl an die "Lower East
Side" Manhattans. Sie bildeten New Yorks
viertgrößte Einwanderungsgruppe. Das erste
jiddische Theaterstück wurde 1882 an der
Zweiten Avenue aufgeführt - im "jüdischen
Rialto", wie der Straßenzug von jetzt ab
hieß. Um 1910 machten Juden ein Viertel der
New Yorker Gesamtbevölkerung aus. 1917 gab
es 800 Synagogen in der Stadt. 1900 wurde
der erste Jude in den Kongreß gewählt.
Schon 1890 lebten rund 300.000 osteuropäische
Juden an Manhattans Lower East Side in
horrenden Verhältnissen, und mehr als die
Hälfte waren Kinder. Die wohletablierten
deutschen Juden, die Jahre zuvor nach New
York gekommen waren, fürchteten um ihr
Ansehen und distanzierten sich von den
"kikes", wie sie sie nannten, d.h. von den
osteuropäischen Juden, deren Familienname
meist auf -ki endete. ("Kikes" wurde später
zum antisemitischen Schlagwort
amerikanischer Rassisten...).
Die Juden an der "Lower East Side" fanden
Arbeit in der Bekleidungsindustrie, und
ganze Familien schufteten unter harschen
Verhältnissen in den sogenannten
"sweatshops". 1895 gab es 6.000 solcher
"sweatshops" in Manhattan und 900 weitere in
Brooklyn, in denen rund 80.000 Menschen rund
um die Uhr arbeiteten. Um 1885 gehörten 234
der 241 Bekleidungsfabriken Juden - 97
Prozent von ihnen waren deutsche Juden, die
Jahre zuvor ins Land gekommen waren.
Zwischen den Arbeitgebern und den
osteuropäischen Arbeitern herrschten krasse
Klassenunterschiede, die von den
Alteingesessenen teilweise schamlos
ausgenutzt wurden. Die ersten modernen
sozialen Klassenkämpfe in der New Yorker
Bekleidungsindustrie waren "jüdische
Klassenkämpfe", an denen die christlichen
New Yorker nicht teilnahmen. Immer mehr arme
jüdische Neuankömmlinge aus Osteuropa zog es
in die Bekleidungsindustrie, eben weil die
meisten Fabriken von Juden geleitet wurden -
man also "unter sich" war, kein Englisch
gesprochen wurde, am Shabat nicht gearbeitet
zu werden brauchte, und ganze Familien, vom
Kleinkind bis zum Greis, dort zusammen
Verdienst finden konnten. 60 Prozent der
Einwanderer arbeiteten dort 14 Stunden am
Tag, sechs Tage die Woche. Und die meisten
hatten einfach keine andere Wahl. Doch mit
dem nichtabreißenden Strom von billigen
Arbeitskräften in die Stadt, fielen
zwangsläufig auch die Löhne.
Um 1888 waren die Hälfte der 4.000 New Yorker
Fleischereibetriebe und der 300
Fleischgroßhandel jüdisch. 1890, es waren
erst zehn Jahre vergangen seit Beginn der
großen osteuropäischen Einwanderungswelle,
gab es 43 koschere Bäckereien, 58 Buchläden
und 112 Süßigkeitengeschäfte an der Lower
East Side, die alle von osteuropäischen
Juden aufgebaut waren. Die erste
Urbanisierung der osteuropäischen Juden
vollzog sich in New York: Die aus den
kleinen Dörfern kommenden Juden fanden sich
zum ersten Mal in einer Metropole wieder.
New York schockierte, manifestierte aber das
Neue, das krasse Gegenteil von ihrem
bisherigen Leben. Die Stadt
versinnbildlichte noch Generationen später
diesen Wendepunkt in ihrem Leben, und diese
Erinnerung machte New York zu einem rein
"jüdisches Ereignis". Die Enkel und Urenkel
spürten, und spüren noch heute diese
Energie.
Mit dem Einzug in die "Neue Welt" gingen die
Traditionen des osteuropäischen Judentums
langsam verloren. Die Zahl der sogenannten
"Luftmenschen", d.h. Juden, die sich mehr
und mehr säkularisierten, nahm zu. Wenige
orthodoxe Rabbiner waren nach Nordamerika
eingewandert, und die Jüngeren wandten sich
von der "Shtetlmentalität" ab, kehrten der
Alten Welt naserümpfend den Rücken zu und
wollten sich so schnell wie möglich
"amerikanisieren". Sie wurden "regeleh
Yankees" - gewöhnliche Yankees. Doch sie
vergaßen die Lower East Side und ihre
Wurzeln nie. Die traditionellen Werte wurden
durch politische Ideale ersetzt:
Liberalismus, Kommunismus, Sozialismus: Die
Verbesserung der Arbeitsverhältnisse in den
sweatshops wurde zum ersten Ziel der neu
gegründeten politischen Vereinigungen. 1897
wurde die jiddische Zeitung "Forverts"
["Vorwärts"] gegründet, die dem jüdischen
Arbeiterbund nahestand und die Belange der
jüdischen Einwanderer vertrat. (Heute
erscheint die Zeitung wöchentlich auf
Englisch ["Forward"], hat eine jiddische und
seit 1995 eine russische Beilage und gehört
zu den anerkanntesten jüdischen Zeitungen
New Yorks.)
Die Assimilation der jüdischen Einwanderer in
New York hatte begonnen, und deren
Auswirkungen sind bis heute zu spüren. Die
kosmopolitische und multi-religiöse
Metropole, das rohe, manchmal grausame
Alltagsleben, und daneben die grenzenlose
Freiheit unter atemberaubend vielen
Möglichkeiten wählen zu dürfen, bot den
jüdischen Einwanderern Alternativen,
hinterließ zwangsläufig Spuren und weckte
Zweifel an alten Traditionen. Denn jeder
Neuankömmling, der nach New York kam (und
kommt), gewinnt Energien, die er weitergeben
will: Zum Guten wie zum Schlechten.
"[Die Juden], die aus der Alten Welt
verstoßen wurden, in der Neuen Welt
empfangen wurden, hatten manchmal Makel, die
sie nicht mitbrachten, sondern die ihnen
hier zugefügt wurden", schrieb Jacob Riis um
1896 in seiner entlarvenden Dokumentation
über die Verhältnisse des "anderen New York"
- der Lower East Side. "Sie bleiben nicht in
den Slums, sondern schaffen es, ihnen zu
entfliehen. Wo Juden leben, stagniert
nichts. ... Sie haben eine grenzenlose
Energie. Sie fügen sich nicht der Armut. ...
Die Armen liegen der Stadt nicht auf der
Tasche. Die Juden haben ihr Versprechen
gehalten, das sie zu Kolonialzeiten abgeben
mußten, und sie kümmern sich um ihre Armen
selbst. Es gibt keine jüdischen
Führsorgeempfänger", schreibt Riis. "Die
jüdischen Wohltätigkeitsorganisationen sind
bewundernswert. Ihre Synagogen sind das
Zentrum der sozialen Energie der Gemeinden.
Ich bin sicher, daß unsere Stadt keine
besseren und loyaleren Bürger hat wie die
Juden, arm oder reich - und keine, denen
sich New York weniger zu schämen braucht."
Mit der Amerikanisierung der Einwanderer kam
es jedoch immer wieder zu Spannungen.
Etablierte jüdische Einwanderer, die es zu
Reichtum gebracht hatten - etwa durch
eigenes Geschäft oder Gewinne an der Börse -
und somit in die gehobene Mittelschicht
aufgestiegen waren und die Lower East Side
weit hinter sich gelassen hatten, suchten
sich von ihren Glaubensgenossen abzugrenzen.
Sie wurden jedoch gleichzeitig selbst von
der reichen christlichen Elite in New York
geschmäht, die nicht auf
Klassenunterschiede, sondern ausschließlich
auf ihrem erworbenen Reichtum beruhte, und
glaubte, um ihre Exklusivität behalten zu
können, andere von sich weisen zu müssen.
Dazu dienten ihnen die reichen jüdischen
Familien.
Deutsche etablierte Juden gründeten 1901 das
"Industrial Removal Office", eine
philanthropische Organisation, das die
osteuropäischen Einwanderer an Arbeitsplätze
innerhalb Amerikas weiterleitete, sie
finanziell unterstützte, bis sie auf eigenen
Füßen stehen konnten. Die IRO leitete
insgesamt 80.000 Juden in mehr als 1.000
amerikanische Städte und Dörfer in
Mittelamerika. Viele jedoch wollten nach New
York zurückkehren. Das Leben dort war zwar
hart gewesen - aber es pulsierte.
Weitere Artikel
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01-09-2000
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