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IV. 1950
- 1990
In den 60er Jahren erreichte ein neue
Einwanderungsgruppe New York: Juden aus
Marokko und Ägypten. Gleichzeitig nahm die
jüdische Bevölkerung in der Bronx und in
Brooklyn ab. Während ältere, etablierte
Juden nach Florida oder Kalifornien zogen,
junge Familien die Außenbezirke New York
vorzogen, füllten sich ihre alten Gemeinden
- wie Washington Heights im Norden
Manhattans - mit Neueinwanderern aus der
Karibik, besonders aus Puerto Rico und der
Dominikanischen Republik.
Bis heute leben in New York mehr Juden als in
jeder anderen Stadt der Welt: 16 Prozent der
Gesamtbevölkerung - ein Viertel der weißen,
nicht-spanischen Bevölkerung Manhattans und
der größte Prozentsatz in der Geschichte der
Stadt. 1991 lag die Einwohnerzahl bei 1.4
Millionen Juden und sank 1999 auf 1.13
Millionen.
Dann geschah etwas Unvorhergesehenes: Eine
"unsichtbare Einwanderung" hatte in den
letzten Jahren begonnen, von der die
jüdischen Gemeinden vollkommen überrascht
wurden: Tausende Juden aus der ehemaligen
Sowjetunion kamen in die Stadt. War die
größte Einwanderungswelle Ende des letzten
Jahrhundert aus Rußland und Polen gekommen,
so stammten diese Einwanderer aus der
gleichen Gegend. Der Kreis schloß sich. Man
schätzt, daß in den letzten 30 Jahren über
eine halbe Million Juden aus Rußland und der
Ukraine nach New York gekommen sind. Die
russische Gemeinde bildet heute mehr als ein
Viertel der gesamten New Yorker jüdischen
Bevölkerung: 325.000 russische Juden leben
heute in der Stadt, die meisten in Brighton
Beach in Brooklyn, das auch das "Kleine
Odessa" genannt wird. Die Mehrheit ist gut
ausgebildet und jünger als 50 Jahre, hat
aber keine jüdische Bildung. Die
amerikanischen jüdischen Organisationen und
Gemeinden in New York haben erst vor kurzem
das ungeheure Potential in ihnen erkannt,
die New Yorker Jüdische Gemeinde zu beleben,
und man versucht erst jetzt, sie in führende
Positionen innerhalb der jüdischen
Organisationen einzubeziehen.
New Yorker Juden haben durchschnittlich ein
höheres Einkommen als andere
Bevölkerungsgruppen, gehören der gehobenen
Mittelschicht an und sind besser
ausgebildet. 80 Prozent aller jungen Juden
besuchen ein College.
Aber es gibt auch Armut, besonders unter den
orthodoxen kinderreichen Familien, die 14
Prozent der New Yorker Juden ausmachen. In
Brooklyn leben zwei hassidische Gruppen, die
Lubavitcher Juden in Crown Heights und die
Satmar Juden in Williamsburg.
Einige ältere Juden leben auch heute noch an
der Lower East Side - in Armut. Die Lower
East Side, das Herz der osteuropäischen
Einwanderung um die Jahrhundertwende, ist zu
einem billigen Einkaufsstreifen geworden, wo
alte jüdische "Bubbe Läden" neben schicken
Boutiquen um ihr Überleben kämpfen. Die
alten Synagogen sind teilweise verfallen
oder werden als Kunst- und Kulturzentrum
jungen Künstlern zugängig gemacht. Hier und
da sieht man noch die alten hebräischen und
jiddischen Inschriften an den Läden, und ein
einsamer Gurkenverkäufer oder Schneider ist
noch da. Aber das jüdische Leben spielt sich
jetzt weniger auf der Straße, sondern
innerhalb der jüdischen Organisationen und
Gemeindezentren ab.
Die meistem jüdischen Organisationen in den
USA haben ihren Hauptsitz in New York, wie
das "American Jewish Committee" (AJC), der
"World Jewish Congress", der "American
Jewish Congress", der "United Jewish Appeal"
und die "Anti Defamation League".
Amerikanische Rabbiner erhalten ihre
Ausbildung in New York. New Yorker Juden
sind in sämtlichen politischen regionalen
und überregionalen Zweigen vertreten, und
mit dem Demokraten Ed Koch war von 1977 bis
1989 zum ersten Mal ein Jude Bürgermeister
von New York. Die New Yorker Juden sind in
der Mehrheit demokratisch eingestellt, und
man spöttelt in der Stadt, sie "leben wie
reiche Episkopalisten, und wählen wie arme
Puertoricaner."
Dennoch: Die Jüdische Gemeinde New Yorks ist
heute an einem Scheidepunkt angelangt: Die
Gemeinde ist nicht homogen, sondern in
Hunderte von kleinen Nachbarschaftsgemeinden
aufgesplittert. Das Reformjudentum hat viele
Juden von ihren religiösen Wurzeln gelöst
und die Heiratsrate zwischen Juden und
Christen ist in den letzten Jahren
alarmierend angestiegen - einer Umfrage von
1991 zufolge handelt es sich um 52 Prozent.
Damals, zu Beginn des Jahrhunderts an der
Lower East Side, wurden diese assimilierten,
säkularen Juden "Luftmenschen" genannt.
Heute nennt man sie die "Bagel and Lox
Jews", junge Juden, deren Jiddischkeit sich
auf "Matzeball Soup" und Gefilte Fisch
beschränkt. Doch sie wollen jetzt mehr: New
Yorker Juden fordern weniger die
traditionelle, rein religiöse Bindung an
ihre Gemeinden, sondern eine spirituelle
Lebenshilfe - und die 91 Synagogen der Stadt
werben eifrig um sie.
Noch in den 50 Jahren dienten Synagogen als
reine Betstube und zur Vorbereitung für die
Bar-Mitzvah. Jüdische Identität baute sich
auf die Vergangenheit auf, auf das Stetl,
die Lower East Side, den Holocaust. Die
kulturelle, kommunale und soziale Bindung an
das Judentum übernahm die Familie. Mit
steigender Assimilierung ist die Familie
nicht mehr fähig, diese Aufgabe zu
übernehmen. Junge Juden, sowie Juden der
"Baby Boomer Generation" - der nach ‘45
Geborenen - blicken in die Zukunft und
streifen die Vergangenheit von sich ab. Der
Holocaust ist kein Bindemittel mehr für sie
und auch mit Israel identifizieren sie sich
immer weniger: Nur 10 Prozent der New Yorker
Juden hat jemals Israel besucht.
Ein neuer Trend wird sichtbar: Mehr und mehr
jüdische Gemeindezentren werden in New York
errichtet, für Junge, Ältere, für Eltern,
Kinder, für Singles, Homosexuelle. Sie
dienen als interreligiöser Treffpunkt, als
Kulturzentrum, Kindertagesstätte, religiöse
Betstube, Konzerthalle, Sportstadium,
Lehrzentrum. Diese Gemeindezentren sind
zurechtgeschnitten auf die jungen Juden, die
seit den letzten Jahren zu Tausenden aus den
Außenbezirken in die Metropole zurückkehren,
angezogen von den Hunderten von Hi-Tech und
Internet Firmen, die in Manhattan wie Pilze
aus dem Boden schießen. Rabbiner besuchen
täglich die Wall Street, geben Lehrseminare
in den Mittagspausen der jungen, jüdischen
Börsenmakler. Die Klassen sind brechend
voll. Das Interesse am Judentum wächst, aber
die internen Problem der Gemeinden in New
York nehmen zu.
Die New Yorker Gemeinde, die für ihren
philanthropischen Charakter bekannt war,
kümmert sich jetzt lieber um sich selbst.
Noch in den 60er Jahren waren Juden
politisch aktiv, kämpften Seite an Seite mit
der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und für
andere soziale Belange, wie für das
Wohlergehen Israels. Heute ist die jüdische
Gemeinde in New York weit weniger daran
interessiert, sich politisch zu engagieren.
Noch vor weniger Jahren war das Hauptziel
der Gemeinden, große, internationale
Organisationen für die Belange in der
Diaspora und Israel zu errichten. Heute
zeichnen sie sich durch einen wachsenden
Isolationismus aus.
Unlängst schlossen sich deshalb drei globale
New Yorker Institutionen - der "United
Jewish Appeal", der "Council of Jewish
Federations" und der "United Israel Appeal"
- zu einer Dachorganisation, dem "United
Jewish Communities of North America" (UJC),
zusammen. Hauptziel der neuen Organisation
ist "Jewish Renaissance and Renewal", also
eine Erneuerung innerhalb der New Yorker
jüdischen Gemeinden. Der UJC wird sein
Augenmerk nach innen richten; die
automatische, manchmal wahllose finanzielle
Unterstützung Israels und der Diaspora wird
umstrukturiert werden. Die Diaspora soll
dabei weiterhin gestärkt werden - alle drei
Organisationen tragen jährlich 790 Millionen
Dollar zusammen. Hauptziel wird jedoch das
amerikanische Judentum selbst werden. Der
UJC wird darüber hinaus dieses Jahr eine
jüdische Volkszählung durchführen - die
letzte demographische Studie wurde 1991
abgehalten - die die Zusammensetzung der
amerikanischen Juden, und der New Yorker
Jüdischen Gemeinde insbesondere, erfassen
soll. Das Ergebnis wird Mitte 2001 bekannt
gegeben werden, und wird bestimmen, wie die
jüdischen Gemeinden in Zukunft unterstützt
werden können.
Der "Jewish Community Relations Council"
(JCRC) widmete im Oktober 1999 eine
Podiumsdiskussion den Problemen, die im
neuen Jahrtausend auf die New Yorker
Jüdische Gemeinde zukommen werden. Man kam
zu dem Schluß, daß eine breite Koalition
zwischen den vielen ethnischen und
religiösen Gruppierungen in New York von
Nöten ist, die über die Belange der
einzelnen Gruppen hinausgeht - wie
Schulwesen, Gesundheitswesen, Wohnungen und
Gewaltbekämpfung. Einige jüdische Gemeinden
in New York beginnen jetzt, eine
Vermittlerposition zwischen Schwarzen und
Weißen, Chinesen und Koreanern, zwischen
Juden und Muslimen und anderen ethnischen
Gruppen einzunehmen. In vielen Fällen wird
der interkulturelle Dialog direkt innerhalb
der jüdischen Gemeinden ausgetragen.
Vertreter aller Bevölkerungsschichten
treffen sich in den Synagogen.
"Die jüdische Gemeinde in New York hängt
immer noch an der Infrastruktur, die 1945
ins Leben gerufen wurde", meint Steven
Solender, Präsident des UJC. "Wir müssen uns
mehr um die Probleme außerhalb unserer
Gemeinden kümmern, Allianzen bilden mit
anderen ethnischen und religiösen Gruppen in
der Stadt. Wir müssen wieder an den
nationalen Debatten teilnehmen, wie
Waffenkontrolle. Aber ich bin optimistisch.
Nie in unserer Geschichte waren wir in einer
besseren Position, anderen zu helfen. Wir
können die Juden in der Diaspora beschützen,
wir können sie ins Land holen. Unsere
inneren Strukturen sind fest."
New York. Stadt der Juden, jüdische Stadt.
Juden aller Generationen haben ihre
Identität über ihre Verwurzelung in New York
gefunden. Die Stadt hat aus den verwirrten,
schutzlosen Einwanderern eine homogene
Gruppe gemacht - und die amerikanischen
Juden sind durch die Dynamik und die
Lebenslust New Yorks zu einer selbstbewußten
Einheit geworden. New Yorker Juden wurden
über die Jahre radikal in ihren
Vorstellungen, reformiert in ihren Taten,
bourgeois in ihrer Art - und jüdisch.
Weitere Artikel
der Autorin unter:
http://www.tekla-szymanski.com
haGalil onLine
01-09-2000
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