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Dienstagabend, Punkt fünf nach neun
(Greenwich Meantime): Eine riesige und rasch anwachsende Anzahl
arabischer Zuschauer sitzt in Europa, in Nord- und Südamerika, aber
vor allem in der arabischen Welt selbst vor den Fernsehschirmen und
verfolgt die Sendung mit dem Titel "Gegenrichtung". Die arabische
Version von "Brennpunkt" ist das populärste Programm des
panarabischen Satellitensenders al-Jazira. Der bietet seinem
Publikum unzensierte Nachrichten und die freiesten Kommentare, die
jemals in ihrer eigenen Sprache zu hören waren.
Mit diesem einfachen Rezept hat
al-Jazira die politisch eingehegte und beaufsichtigte Rundfunk- und
Fernsehszene des arabischen Raumes revolutioniert. Und damit dazu
beigetragen, das Regime der Regierungen über die Herzen und Köpfe
ihrer Untertanen zu erschüttern, das diese mittels der von ihnen
beherrschten Massenmedien aufrechterhalten wollen.
Moderiert wird die Sendung von Faisal
al-Kasim. Der Spross einer kinderreichen Bauernfamilie aus der
syrischen Provinz Dschebel Arab war schon immer von den Medien
fasziniert. Heute hat der 39-Jährige einen Kultstatus erlangt, den
er sich nicht hätte träumen lassen, als er im Alter von 14 Jahren
erstmals Radio Damaskus besuchen durfte. Und wahrscheinlich auch
später nicht, als er sieben Jahre lang für den arabischen Dienst des
BBC-Hörfunks arbeitete, der in der Zeit vor der Gründung von
al-Jazira in der arabischen Welt wohl die meistgehörte und
zuverlässigste Quelle für Nachrichten und Meinungen gewesen ist.
Vor fünf Jahren vollzog sich in Doha,
der Hauptstadt von Katar, eine unblutige Palastrevolution.(1) Als
Scheich Hamad bin Chalifa al-Thani seinen Vater stürzte, bekam der
Rest der Welt kaum etwas davon mit. Schließlich ist Katar mit seiner
einheimischen Bevölkerung von rund 100 000 Menschen das kleinste
arabische Land und Doha die vielleicht ödeste Hauptstadt auf dieser
Welt. Aber dann begann der 43-jährige neue Machthaber recht bald,
die politische Szene aufzumischen. Er brachte eine "Demokratisierung
von ganz oben" in Gang und errichtete einen panarabischen
Fernseh-Satellitensender.
Das war allerdings nichts ganz Neues
in der arabischen Welt von heute, die mit ihrer Stimmenvielfalt
einem modernen Turmbau zu Babel gleicht. Jede arabische Regierung
muss sich heute einen eigenen panarabischen Kanal zulegen, jenseits
der zahllosen - fast immer nichts sagenden und überflüssigen -
lokalen Medien, die von ihr kontrolliert und manipuliert werden.
Dominiert wird diese neue PR- und Kommunikationskultur von
Saudi-Arabien. Die saudische königliche Familie und ihre
Geschäftskumpane geben Milliarden Dollar für gigantische, an
westlichen Vorbildern orientierte "Offshore"-Sender aus, wie den
Londoner Sender MBC oder Orbit und ART, die in Rom stationiert sind.
Damit gilt auch für die arabische Welt
das Prinzip des "offenen Himmels", und tatsächlich gibt es für das
neue Medium - technologisch gesehen - keine Grenzen. Nur was die
ausgestrahlten Inhalte betrifft, hat sich sehr wenig geändert:
dieselbe alte Propaganda, dieselben Nachrichtensendungen mit braven,
oft unterwürfigen Verlautbarungen über das Tun von Präsidenten,
Monarchen oder Emiren. Kasim spricht von einem "Begrüßungs- und
Verabschiedungsjournalismus", der darin bestehe, dass "die Leute
aufgezählt werden, die der Landesfürst im Berichterstattungszeitraum
empfangen und wieder verabschiedet hat".
Ein paar Sender haben inzwischen mehr
Spielraum für seriöse politische, soziale oder ökonomische Themen,
aber nirgends kommen sie auch nur in die Nähe der Standards, die in
demokratischen Gesellschaften als selbstverständlich gelten. Die
Programme bestehen überwiegend aus eher schlichten
Unterhaltungssendungen: endlose ägyptische Seifenopern,
synchronisierte ausländische Filme, Quiz- und Gewinnspiele,
Talkshows und Revuen mit Tanz, Gesang und einer kleinen Prise Sex.
Das ganze Programm scheint darauf angelegt zu sein, das arabische
Publikum vom Nachdenken über politische Themen abzuhalten. Und
obwohl bekanntermaßen innerhalb der "arabischen Familie" viel Streit
und Zwietracht zwischen den einzelnen Staaten herrscht, achtet man
an der Medienfront weitgehend auf die Einhaltung der "Charta der
arabischen Ehre", also jener 1965 von der Arabischen Liga erlassenen
Verfügung, die vor allem die damals zwar notorisch korrupte, aber
zugleich aufmüpfige libanesische Presse zum Schweigen bringen
sollte.
Etwas völlig Neues war die
Entscheidung des Herrschers von Katar, dass die neue Fernsehstation
unabhängig sein sollte, obwohl sie zu Beginn von der Regierung
finanziert wurde. "Wir haben keine Armee und keine Panzer", meinte
ein junger Katari, "wir haben nur al-Jazira." Aber mit dem Sender
schaffte es der fast unbekannte Kleinstaat im hintersten Winkel der
Golfregion, die ganze arabische Welt zu erobern - und zwar mit dem
Wort, und nicht mit dem Schwert. Diese Leistung wird von kaum 300
Angestellten erbracht, die sich in einem Gebäude drängen, das wie
eine etwas bessere Nissenhütte in der Wüste steht. "So eine
Streichholzschachtel - und von hier aus machen die den ganzen
Ärger?", staunte der ägyptische Präsident Mubarak, als er einmal
unangemeldet bei al-Jazira vorbeischaute.
Den größten Anteil am Triumph dieses
David hat ironischerweise der Goliath der arabischen
Medienlandschaft: die saudische Monarchie. Der "große Bruder" der
Golfstaaten hatte über seinen Orbit-Kanal zunächst den neu
gegründeten arabischen Dienst des BBC-Fernsehens finanziert. Als
aber die BBC 1996 darauf bestand, einen kritischen Film über die
saudische Monarchie zu senden, kündigten die Saudis den Vertrag.
Kasim und weitere 19 arbeitslos gewordene Mitarbeiter ließen sich
durch die guten, aber keineswegs extravaganten Gehälter und das
Versprechen voller Pressefreiheit nach Katar locken. Das Versprechen
wurde - zur Verwunderung der meisten Mitarbeiter - weitgehend
gehalten. Die Redaktionspolitik von al-Jazira war so lax, dass Kasim
fast keine Anweisungen für seine Programminhalte bekam. "Ich kann
hier tatsächlich Themen aufgreifen, von denen ich während meiner
BBC-Zeit nicht im Traum angenommen hätte, dass ich sie bringen
könnte."
Live-Sendungen unterlaufen die Zensur
UM den Kern der ehemaligen
BBC-Mitarbeiter bildete sich ein Team, in dem fast jedes arabische
Land repräsentiert ist. Heute sendet al-Jazira seine Programme rund
um die Uhr. Der Sender hat sich einen Markt erschlossen, auf dem
neben den unvermeidlichen Trivialsendungen auch präzise und
ernsthafte Informationen gefragt sind. "Normalerweise geht man ja
davon aus, dass Teenager und Hausfrauen nicht auf so komplizierte
Sachen stehen", meint Kasim. "Aber ich weiß aus den Briefen, die ich
bekomme, dass das bei uns durchaus der Fall ist." Mit seinem
Qualitätskonzept hat der Sender seine Konkurrenten allesamt in die
Tasche gesteckt. Eine Umfrage ermittelte unlängst als schärfsten
Konkurrenten - allerdings mit großem Abstand - die saudische MBC und
dahinter bizarrerweise die von London aus arbeitende ANN, die im
Besitz von Rifaat Assad ist, dem abtrünnigen Bruder des verstorbenen
syrischen Präsidenten. Aber an al-Jazira reicht kein anderer Sender
heran, auch nicht der Gigant des ägyptischen Staatsfernsehens.
Englisch sprechende Araber, die früher
CNN eingeschaltet haben, verfügen heute über ein genauso gutes
arabisches Medium, das ihre Probleme mit einem tieferen Verständnis
und mit einer Leidenschaft und Detailkenntnis behandelt, die keine
nichtarabische Institution je erreichen könnte. Die Einschaltquote
ist sprunghaft in die Höhe gegangen. In Jordanien begann am Morgen
nach einem besonders spannenden Programm ein wahrer Run auf
Satellitenschüsseln. "Normalerweise bringen wir die Nachrichten als
Erste", meint Chefredakteur Salih Nam, "und fast immer sind wir die
Ersten, die Analysen und Einschätzungen von wichtigen Fachleuten
bekommen."
Ein einmaliger Erfolg für al-Jazira
war die Berichterstattung über die Bombardierung von Bagdad durch
die britische und US-amerikanische Luftwaffe im Dezember 1998. Der
Dauerrenner ist jedoch das aktuelle Nachrichtenprogramm. Im
Unterschied zu anderen arabischen Sendern werden die Nachrichten bei
al-Jazira als Live-Sendung ausgestrahlt, peinliche Fragen können
also nicht herausgeschnitten werden. "Ich habe das vom anderen Ende
angepackt", erklärt Kasim, "weil ich das Gefühl hatte, es ist an der
Zeit, auch oppositionellen Meinungen Gehör zu verschaffen. Die sind
in den letzten fünfzig Jahren in der arabischen Welt praktisch
mundtot gemacht worden." Damit gab es für die unendlich vielen
Oppositionsgruppen auf einmal eine prominente Tribüne, die im ganzen
arabischen Raum beachtet wurde. Kein Thema ist tabu - nicht einmal
die Frage nach der Legitimität der Regime. Und selbst der Islam
kommt nicht ganz ungeschoren davon.
In einem berühmt gewordenen Rededuell
zum Thema Polygamie brachte die jordanische Feministin Tujan Faisal
den Ägypter Safinaz Kazem, einen vom Marxismus zum Islamismus
konvertierten Schriftsteller, so sehr in Rage, dass er mitten in der
Diskussion aus dem Studio stürmte. Dasselbe tat der säkularistische
Politiker Reda Malek, ein ehemaliger algerischer Ministerpräsident,
als er von einem Islamisten attackiert wurde. Innerhalb der
arabischen Welt ist Kasim - der außerhalb so gut wie unbekannt ist -
inzwischen so prominent wie manch ein arabisches Staatsoberhaupt.
Wenn er ein Land besucht, wird er in der Regel von den Leuten auf
der Straße belagert wie ein Filmstar. Während seiner Sendungen sind
die Straßen der arabischen Städte oft wie leer gefegt, wie zum
Beispiel in seinem Heimatland Syrien an jenem Abend, als in seiner
Sendung darüber debattiert wurde, ob Präsident Assad wohl "die Sache
der Palästinenser im Stich lässt".
Mit der Kairoer "Stimme der Araber",
die auf dem Höhepunkt von Nassers Popularität die ganze arabische
Welt erreichte, lässt sich al-Jazira weder stilistisch noch
inhaltlich vergleichen. Aber manche Leute glauben, dass seit Nassers
Propagandastimme kein anderer Sender einflussreicher gewesen ist.
Seine Berichte über die britisch-amerikanischen Bombenangriffe auf
Bagdad haben vermutlich die syrischen Studenten im Dezember 1998
dazu gebracht, in die US-Botschaft von Damaskus einzudringen, und
wohl auch das syrische Regime zu dem weisen Entschluss veranlasst,
ihnen nicht entgegenzutreten. Wie man hört, sollen prowestliche
arabische Führer bereits bei Präsident Clinton angerufen und ihn
gewarnt haben: Wenn das so weitergehe, könnte es in den arabischen
Ländern demnächst zu "Straßenaufständen" kommen.
Das mag auch der Grund sein, warum der
viel geschmähte Saddam Hussein als ungefähr einziger arabischer
Führer bereit ist, die Angriffe von al-Jazira ohne große Proteste
hinzunehmen - offenbar in der Annahme, dass ihm einfühlsame Berichte
über das Elend seines Volkes mehr nützen, als ihm die heftigen
Attacken auf seine Person schaden können. Andere Herrscher, allen
voran Tunesiens Präsident Ben Ali, beschweren sich regelmäßig bei
ihrem neureichen Kollegen in Katar. Der katarische Außenminister hat
schon an die 400 offizielle Protestschreiben entgegengenommen. Die
syrische Regierung streut den Verdacht, al-Jazira stehe in Diensten
"des zionistischen Feindes". In den Augen der Kuwaitis ist der
Sender dagegen ein Instrument des Irak. Und Prinz Nayif, der
saudische Innenminister, hält seine Berichte zwar für "ausgezeichnet
und präzise", fügt jedoch hinzu: "Als Ableger der BBC serviert er
uns Gift auf einem goldenen Teller." Jordanien und Kuwait haben die
örtlichen Büros von al-Jazira geschlossen. Algerien drehte während
eines kritischen Beitrags den Strom ab. Saudi-Arabien setzte dem
einzigen saudischen Mitarbeiter so lange zu, bis er aus der
Redaktion ausschied. Saudische Unternehmen wurden - wenn auch mit
unterschiedlichem Erfolg - unter Druck gesetzt, dem Sender keine
Werbeaufträge zu geben. Und die Arabische Liga schließt al-Jazira
bei ihren Sitzungen von der Berichterstattung aus.
Freilich reagieren nicht nur die
Regierungen so empfindlich. Wenn al-Jazira wieder einmal den Islam
"beleidigt" hat, hagelt es in der ganzen Region wochenlang
lautstarke Proteste der islamischen Geistlichen.
Auch die Presse, einschließlich
"oppositioneller Zeitungen", reitet vehemente Attacken. Das gilt vor
allem für Länder wie Ägypten, wo eine relative Pressefreiheit
herrscht. Die führende ägyptische Wochenzeitung Akhbar al-Jaum
startete sogar eine Kampagne gegen Kasims Bruder, der als Sänger in
Ägypten lebt und arbeitet. Man wollte seine Ausweisung erreichen,
und ein jordanischer Kolumnist hat wörtlich gefordert: "Diesem Mann
sollte man die Zunge herausschneiden."
Bislang hat das kleine Scheichtum
Katar den Attacken aus dem arabischen Lager standgehalten. "Scheich
Hamad lässt sich eben nicht gerne einschüchtern", meint einer seiner
Beamten. Das Außenministerium leitet sämtliche Beschwerden an
al-Jazir weiter. Muhammad Jasim, der Geschäftsführer des Senders,
meint trocken: "Wir antworten denen: Wenn Sie glauben, wir hätten
etwas Falsches gebracht, haben Sie stets das Recht auf eine
Gegendarstellung." Wie weit al-Jazira mit seiner Provokation der
arabischen Regierungen, insbesondere gegenüber Saudi-Arabien, noch
gehen kann, bleibt abzuwarten. Vor der historisch schon immer
dominanten Macht, die im Umgang mit ihrem winzigen Nachbarstaat auch
vor subversiven Methoden nicht zurückschreckt, hat Katar am meisten
Angst.
Trotzdem sind die Grenzen der
Berichterstattung in aller Regel weiter gesteckt als bei den
konkurrierenden Sendern. Diese haben zwei Methoden, um sich zu
wehren: Sie können auf noch mehr poppige und triviale Sendungen
setzen. Nur hilft das offenbar nicht viel und lässt die Heuchelei,
als die viele Araber die strengen islamischen Praktiken der Saudis
ansehen, erst recht als schizophren erscheinen. Der mit saudischen
Geldern finanzierte Sender MBC zieht demnächst, um seine enormen
Kosten zu begrenzen, nach Dubai um. Warum er sich nicht in
Saudi-Arabien selbst niederlässt, erklärt ein gemäßigt
islamistischer Moderator so: "Machen Sie sich doch nicht lächerlich.
Wenn die saudische Geistlichkeit auf einem einheimischen Kanal
halbnackte Frauen sehen würde, wie sie der saudische Satellitenkanal
Orbit präsentiert, würden sie durchdrehen. Solange die Softpornos
von jenseits der Grenze kommen, bleibt wenigstens der Schein
gewahrt."
Die zweite Methode der Konkurrenz
heißt: Kopieren. Talkshows mit Titeln wie "Duell" oder "Offen
gesagt" schießen wie Pilze aus dem Boden. "Sie imitieren sogar die
Form meines Tisches", sagt Kasim, "aber um inhaltlich
gleichzuziehen, müssen sie sich noch ganz schön anstrengen. Nach
meiner festen Überzeugung besteht das Haupthindernis für den
Fortschritt in der arabischen Welt im Fehlen einer freien Presse. In
unserer Gesellschaft ist der Dreck schon viel zu lange unter den
Teppich gekehrt worden. Aber ich bin sicher, dass das nicht mehr
lange so weitergeht." Für Kasim ist durch al-Jazira immerhin ein
Silberstreif am Horizont erkennbar: "Eines Tages wird wohl eine
freie Presse der arabischen Welt zu wirklich demokratischen
Verhältnissen verhelfen."
Aus dem Engl. von Niels Kadritzke
Fußnote:
(1) Vgl. Françoise Sellier, "Katar nach allen
Seiten offen", Le Monde diplomatique,
November 1997.
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03-09-2000
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