Unsentimentale Reisen durch Israel
(3):
Charlotte
Drei Partien Scheschbesch,
von Maxim Biller
[1.Partie]
- [2.Partie] - [3.Partie]
Teil III/3 - - - Meine Schwester lebt
schon lange nicht mehr in Israel. Warum, weiß ich nicht genau, ich dachte, sie
hätte sich dort wohl gefühlt, jedenfalls besser als an vielen anderen Orten der
Welt, wo sie später gewesen ist. Sie und ihr Mann hatten Arbeit, sie mochten
ihre Freunde und wohnten immer in den angenehmsten, ruhigsten Gegenden des
Landes, jedesmal ganz nah am Wasser, dort, wo der Meereswind eine Wohnung im
Sommer Tag und Nacht wie ein riesiger Ventilator kühlt. Wahrscheinlich ist sie
wegen ihrer beiden Söhne weggegangen, denke ich, wahrscheinlich wollte sie auf
keinen Fall, dass sie in die Armee kommen, aber sicher bin ich mir nicht, denn
wir haben noch nie darüber gesprochen.
Die Wohnung in der Schalagstraße, die
Charlotte und ich in den letzten Jahren im Sommer immer gemietet haben, ist
nicht mehr so, wie sie war. Früher gab es dort ein Schlafzimmer mit einem
einfachen Doppelbett, zwei abgegriffenen Holzstühlen und einem großen
unauffälligen Einbauschrank aus altmodischem, dunkelbraun gebeiztem Naturholz,
es gab eine kleine Küche, in der ich immer meine Auberginennudeln machte oder,
wenn es nicht ganz so heiß war, Borschtsch, und dann war da noch das Wohnzimmer,
ein großer, leerer Raum, in dem nur ein kleines schmales Sofa stand und ein –
wahrscheinlich vom Eigentümer selbst – weißlackiertes Sideboard für den
Fernseher und den Plattenspieler, dessen Nadel natürlich abgebrochen war. Immer,
wenn ich nachts auf dem Sofa lag und über Satellit deutsche Programme sah,
während Charlotte schon längst ins Bett gegangen war, spiegelte sich das
orangeblaue Licht des Fernsehbildschirms in der riesigen Fläche des glänzenden
Fußbodens, es kroch von Fliese zu Fliese bis zur Veranda vor, wo es sich mit dem
nächtlichen Grün des kleinen Parks vor unseren Fenstern vereinigte. Dahinter,
dachte ich wie früher schon so oft, in der Dunkelheit, schlafen sie, all diese
Menschen, die nicht wissen, daß ihre Zeit in dieser Gegenwart bereits wieder
abzulaufen beginnt.
Die Bücher, die Charlotte und ich immer
dabei hatten, ließen wir am Ende der Ferien meistens da, wir waren, nachdem wir
sie ausgelesen hatten, zu faul, sie wieder mit uns zurück nach Deutschland zu
schleppen – also verstauten wir sie im Sideboard, genau unter dem Fernseher, und
wenn wir ein Jahr später wiederkamen, standen sie jedesmal noch dort. Seit die
Wohnung renoviert wurde, sind sie weg. Alles ist weg, das Sideboard, der kaputte
Plattenspieler, die schöne alte Küche, und vor allem ist diese windumwehte und
sonnendurchflutete Großzügigkeit verschwunden, die wir an der Schalagstraße so
geliebt hatten, die Wohnung ist jetzt vollgestellt mit hässlichen, bauchigen,
modernen Möbeln, alles ist rosa, türkisblau und grün, aber das kann uns egal
sein, denn wir werden zusammen ohnehin nie mehr hinfahren.
Von der Schalagstraße waren es nur ein
paar Schritte zum Meer. Meistens gingen wir die ersten zehn, zwanzig Meter auf
unserer Seite der Straße, die so tief zum Strand hin abfiel, daß sie uns wie
eine Rutsche vorkam, auf der man direkt ins Wasser gleiten konnte. Kurz vor der
Kreuzung wechselten wir herüber, bei der großen, Tag und Nacht pausenlos
befahrenen Hajarkonstraße, und dann standen wir oft zwei, drei Minuten bei Rot
an der nervtötendsten Ampel der Welt. Sprang sie endlich auf Grün um, liefen wir
so schnell wie möglich hinüber, aber manchmal vergaßen wir, uns zu beeilen und
gerieten zwischen die bereits wieder anfahrenden Autos. Endlich drüben,
verschwanden wir sofort im Ramadah-Hotel, wo Benny meistens zur selben Zeit wie
wir mit seiner Familie Ferien machte. Seine Frau war mit den Kindern dann immer
schon unten am Strand, aber er saß noch verschlafen in der Lobby, mit einem
großen Glas Milch vor sich und einem Teller mit Blintzes und Quark, und dann
bestellte er dasselbe für uns, und so dauerte es oft noch ziemlich lange, bis
wir endlich am Strand ankamen. Dort blieben wir solange, bis die Sonne sich
langsam braun zu verfärben begann, bis sie immer größer und schwerer wurde, so
daß sie sich nicht mehr oben halten konnte. Es wurde plötzlich ganz ruhig am
Strand, man hörte nur das Klacken der Matkotbälle und ab und zu den Motor einer
vorbeirauschenden Marinepatrouille, und dann setzte sich Charlotte zu mir auf
meine Liege, sie zog das Scheschbesch-Brett aus ihrer Strandtasche, umarmte mich
und sagte: „Ein Spiel – eins machen wir noch . . .“
Charlotte könnte inzwischen, wenn sie
wollte, jederzeit den israelischen Pass kriegen. Sie könnte in Israel leben, sie
könnte dort arbeiten, sie könnte dort jemanden kennenlernen, sie könnte dort
unser Kind großziehen. Vielleicht macht sie das eines Tages sogar auch. Ich, das
weiß ich genau, werde immer in Deutschland bleiben, denn es gibt Orte, die sind
für die Gegenwart da, und es gibt Orte, die sind für die Erinnerung. Ich habe
mich, was das angeht, schon lange entschieden. Charlotte weiß noch nicht, was
sie tun wird, aber eine Entscheidung hat sie trotzdem auch schon getroffen, vor
kurzem, in New York, bei einem Beth Din, an einem Tisch mit drei jungen
lachenden Rabbinern. Es war, hat sie erzählt, damals ein kalter greller windiger
Frühlingstag gewesen, ein richtiger Tag zum Verrücktwerden.
Der Journalist
und Schriftsteller
Maxim Biller wurde 1960 in Prag als Sohn
russisch-tschechischer Juden geboren, verbrachte seine Kindheit in
der Tschechoslowakei und lebt seit 1970 in Deutschland. Er
veröffentlicht seine Erzählungen, Reportagen und Kolumnen u.a. im
Spiegel und der Süddeutschen Zeitung. Bekannt wurde er
durch den Erzählband 'Wenn ich einmal reich und tot bin', sein Buch
'Land der Väter und Verräter' wurde preisgekrönt.
Die Kurzgeschichten "Drei Partien Scheschbesch" sind am 7.1.1998 im
Feuilleton der SZ erschienen - unter dem Titel: "Unsentimentale
Reisen durch Israel, das heuer 50 Jahre alt wird". |