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Zum Thema:
Zeugen, die aus der Hölle kommen

von Thorsten Schmitz

Wovon die Rede ist, wenn David Irving im Londoner Prozess 
die Judenvernichtung in Auschwitz bestreitet

Tel Aviv, 1. März – Manchmal verstummt man einfach nur noch, wenn man erfährt, was ein Mensch erlebt hat. Es muss sich dabei nicht um etwas Neues handeln. Selbst wenn man das, was man hört, schon hundert Mal zuvor gehört und gelesen hat, fehlen einem Worte – Begriffe wie „Hölle“ oder „Albtraum“ klingen verschlissen. Was Josef Sackar und Schaul Chasan in einer kurzen Periode ihres langen Lebens widerfahren ist, kann man auch bei viel Fantasie nicht fassen.

Das ist auch der Grund, weshalb die beiden heute 76 Jahre alten Männer erst vor wenigen Jahren angefangen haben, anderen Menschen von dieser Periode zu erzählen. Selbst ihre Söhne und Töchter hatten die beiden Väter nie in diese Jahre ihres Lebens eingeweiht. Nur die Frauen von Schaul Chasan und Josef Sackar wussten all die Jahre, wer da neben ihnen im Ehebett liegt und mit aller Anstrengung Erlösung im Schlaf sucht. Die Verdrängungsleistung der zwei Männer, die bis zur Pensionierung Bauarbeiter und Mechaniker waren, schlägt tagsüber fehl: Schon beim Zähneputzen sehen sie die tätowierten Nummern 182739 und 182527 auf ihren Unterarmen.

Josef Sackar und Schaul Chasan waren im Konzentrationslager Auschwitz gewesen – aber nicht nur einfache Häftlinge, die überlebt haben. Und hier beginnt die Sprachlosigkeit, deshalb dieses verstörende „Nicht nur“: Denn die griechischen Juden Sackar und Chasan waren von den Nazis zur Zwangsarbeit im „Sonderkommando“ verpflichtet worden: Sie mussten bei der Vernichtung der jüdischen Häftlinge mit Hand anlegen. Sie arbeiteten in den Krematorien von Auschwitz-Birkenau, je nach Dienstplan zwölf Stunden am Tag oder in der Nacht, und zum Schlafen legten sie sich auf die Strohmatratzen im ersten Stock der Krematorien – genau eine Etage über den Gaskammern.

Das Gebäude durften die Häftlinge des Sonderkommandos nie verlassen, als Zeugen der Vergasungen waren sie Mitwisser. Die Nazis wollten nicht, dass die Welt erfährt, dass und wie Menschen getötet wurden – so vergasten sie die meisten Männer vom Sonderkommando. Schaul Chasan und Josef Sackar sind die einzigen Auschwitz-Überlebenden, die den Mord in den Gaskammern mit eigenen Augen gesehen haben. Sie zwangsarbeiteten beim Empfang der Häftlinge im Entkleidungsraum und an der Tür zur Gaskammer. Unter den Befehlen und den Peitschenhieben von KZ-Kommandanten forderten sie die Häftlinge auf, sich auszuziehen, wer alt und krank und zu schwach war, dem mussten sie helfen. Nie erzählten sie den Menschen, dass aus den Duschköpfen nicht Wasser, sondern das Gas Zyklon B strömen wird.

Wenn 2000 Menschen nackt in der unterirdischen Gaskammer standen, schlossen Nazis die einzige große Tür, aus der die Menschen nie lebend heraus kamen. Chasan kann sich an die Schreie der Menschen erinnern. Eine halbe Stunde nach der Vergasung mussten Chasan und Sackar und die anderen Männer des Sonderkommandos die Tür öffnen und wegrennen – um das entweichende Gas nicht selbst einzuatmen. Dann mussten sie die ineinander verknäulten Leichen, deren Haut vom Gas zum Teil aufgeplatzt war, aus der Gaskammer ziehen, mit Händen und mit Stöcken. Zu einem Leichenaufzug schleppen, der zwischen sechs und acht Leichen auf einmal zu den Öfen hinauf ins Erdgeschoss transportierte. Dort wurden die Leichen verbrannt. Bis 2000 Menschen nur noch Asche und Knochen waren, vergingen zwölf bis 14 Stunden.

Josef Sackar, der nach der Leerung der Gaskammer diese auch von Kot und Urin und Blut reinigen musste, dachte all die Zeit: „Ich werde verrückt. Aber ich wusste, ich muss hier lebend wieder heraus kommen, um der Welt davon zu berichten.“ Schaul Chasan erzählt von den Gruben, in denen Tausende Tote verbrannt wurden, wenn die Verbrennungsöfen die Massen nicht schnell genug verbrennen konnten: „Wir fühlten uns nicht mehr wie denkende Menschen, sondern wie Maschinen. Wir mussten Leichen aufstapeln, wie Sardinen. Holz, Leichen, Holz, Leichen, Leichen, Leichen, bis die Grube voll war. Ein SS-Mann schüttete Benzin auf die Leichen, zog seine Pistole und schoss. Das Feuer entzündete sich, und Leichen, Leichen, Leichen, reinwerfen, reinwerfen, verbrennen, verbrennen, verbrennen, ohne Pause. Das Feuer brannte Tag und Nacht. So war das.“ So war das.

In London lebt einer, der anderer Ansicht ist: Der Brite David Irving, der nicht in Deutschland einreisen darf, nicht in Italien und Kanada – eben weil er sagt, dass Auschwitz nicht so gewesen sei, wie es war. Irving ist eng befreundet mit Rudolf Hess‘ Sohn und Hitlers Privatsekretärin und sagt, er finde den Holocaust „unendlich langweilig“. Irving behauptet, Hitler habe von den Vergasungen in Auschwitz keine Kenntnis gehabt, es seien Vergasungen „lediglich auf kleiner experimenteller Basis“ vorgenommen worden, auf „der Rückbank von Edward Kennedys Auto in Chappaquiddick sind mehr Frauen gestorben als in den Gaskammern von Auschwitz“. „Spreche mit dem Feind“ Und wenn der israelische Schriftsteller Tom Segev, der Irving vor zwei Wochen in London besucht hat, fragt, wo denn all die sechs Millionen Juden seien, die angeblich nicht ermordet wurden, sagt Irving: „Weiß ich nicht.

Tatsache ist: Juden sind überall. So sind sie: Sie tauchen immer wieder auf. Vielleicht haben sie ihre Namen einfach nur in israelische abgeändert.“ Während des Interviews in London, berichtet Tom Segev, hatte ein deutscher Freund Irvings angerufen. Irving sprach auf Deutsch mit dem Anrufer, nicht ahnend, dass Segev ihn versteht: „Ich rufe dich zurück“, hatte Irving gesagt, „ich spreche gerade mit dem Feind.“ Man müsste kein Wort verlieren über den selbst ernannten Historiker Irving, wenn der es nicht geschafft hätte, einen Prozess anzustrengen, bei dem quasi der Holocaust vor Gericht steht.

Vor dem Royal Court in London wird seit Januar darüber verhandelt, ob Irving ein Holocaust-Leugner ist und ob er mit dieser Bezeichnung verleumdet wird. Er hat eine Klage gegen die amerikanische Historikern Deborah Lipstadt angestrengt, die Irving in einem ihrer Bücher als Holocaust-Leugner bezeichnet.

Der 61 Jahre alte Irving verteidigt sich selbst, hat aber Assistenten, die ihm während des Prozesses Akten reichen und Notizen. Lipstadt, die keine Interviews gibt, hat drei renommierte Anwälte, die eine Hand voll Experten vor Gericht gebeten haben – sie sollen den Beweis führen, dass Juden systematisch umgebracht worden sind. Nachts macht sich Irving auf seiner Website lustig über die Beklagten, schreibt in seinem Gerichtstagebuch von den „verzweifelten Versuchen“, ihn der Holocaust-Leugnung zu überführen, füttert seine Website mit Hitlerpostern, die man kaufen kann, und mit Post neonazistischer Gesinnungsgenossen, etwa den Briefwechsel mit Rudolf Hess‘ Sohn.

Irving offeriert im Net auch seine Bücher über Hitler und Goebbels zum Runterladen – denn kein Verlag der Welt druckt ihn mehr. Für Irving ist der Holocaust eine Erfindung der Juden – er deutet an, die Juden hätten sich die Nummern selbst in die Unterarme geritzt, um an Geld zu kommen. So sieht das Irving. Über ihre Zwangsarbeit im Entkleidungsraum, in der Gaskammer, an den Gruben, am Leichenaufzug und vor den Verbrennungsöfen haben Schaul Chasan und Josef Sackar erstmals vor fünf Jahren dem israelischen Historiker Gideon Greif berichtet, („Wir weinten tränenlos“, Fischer-Verlag).

Greif ist der einzige Mensch, der je mit den Männern vom Sonderkommando geredet hat, zu ihm haben sie Vertrauen gefasst – und unter großen Schmerzen davon berichtet, was sie tief in ihrem Herzen vergraben hatten. Schaul Chasan etwa hat Gideon Greif nach den Gesprächen erzählt, „jetzt ist etwas in mir frei geworden“ – 40 Jahre lang hatte er niemandem etwas von seiner Tätigkeit in Birkenau erzählt. Gideon Greifs Interviews dienen den Anwälten von Deborah Lipstadt in London als Beleg für das, was in Auschwitz passiert ist. Greif, der in einer Zweigstelle von Yad Vashem in Tel Aviv lehrt, wundert sich, dass man in London nicht einen kurzen Prozess macht: „Man müsste die Männer vom Sonderkommando einfach nur als Zeugen vorladen, dann hätte der ganze Spuk ein Ende.“ Und über die nun freigegebenen Eichmann-Memoiren sagt er, sie „sind mit Vorsicht zu genießen“.

Erst vor ein paar Tagen hat Gideon Greif mit Schaul Chasan und Josef Sackar über den Prozess in London gesprochen. Die beiden sind empört, berichtet Greif, und haben ihm gesagt: „Bring diesen Irving zu uns, und wir werden ihm alles erzählen. Und wenn es sein muss, fahren wir mit ihm nach Auschwitz und erklären ihm alles vor Ort.“ Diese Idee findet Gideon Greif gar nicht so schlecht: Denn Irving war noch nie dort.

Süddeutsche Zeitung(SZ vom 2.3.2000, Seite Drei)

Das Urteil Irving vs. Lipstadt u. Penguin Publ. im Volltext:
Eine selten deutliche und klare Abrechnung mit dem "Revisonismus".
Berliner Zeitung:
Die Lüge als Geschäftsgrundlage

haGalil onLine 12-04-2000

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