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Jüdische Weisheit
 
 
Teil IX
Antisemitismus aus kritisch-theoretischer Sicht
Möglichkeiten und Grenzen politischer Bildungsarbeit in einem gesellschaftlichen Problemfeld


Von Ingolf Seidel

4.3. Die Nationalisierung des Arbeitsbegriffs gegen die "jüdische Nicht-Arbeit"

Während sich die bürgerliche Gesellschaft immer weiter entfaltet hat, wird auch die Zirkulationssphäre das Allgemeine. Mit der Verallgemeinerung des Tauschprinzips wird auch die unmittelbare Gewalt mehr und mehr ersetzt; "ein Schein von Freiheit entsteht, der unabhängig vom unmittelbaren Geschäft der Selbsterhaltung macht."[135]

Nicht von ungefähr knüpft die Aufklärung an die Reformation an, deren Subjekte bereits das ‚innere Reich der Freiheit’ und die Verlegung der äußeren Macht Gottes in ihr Inneres kennen. Luther hat jedoch nicht nur die Kirche reformiert, sondern auch bereits den Antijudaismus. Seine späte Schrift Von den Juden und ihren Lügen aus dem Jahr 1543 wirkt nicht nur an verschiedenen Stellen wie die Aufforderung und Anleitung zum Pogrom. Sie nimmt bereits ein zentrales Element des modernen Antisemitismus voraus und ideologisiert es: Die scheinbar wunderhafte Schaffung der Vermehrung des Geldes in der Zirkulation und die Personalisierung dieses Prozesses in den Juden.

"Denn die Juden, als im Elende, sollten ja gewisslich nichts haben, und was sie haben, das muß gewisslich unser sein. So arbeiten sie nicht, verdienen uns nichts ab, so schenken und gebens wir ihnen nicht, dennoch haben sie unser Geld und Gut und sind damit unsere Herren in unserem eigenen Land und in ihrem Elende."[136]

Martin Luther, der für die erste Bibelübersetzung vom Griechischen ins Deutsche verantwortlich zeichnet, hat in eben dieser Übersetzung das Wort ‚Arbeit’ mit ‚Beruf’ übersetzt. Ist Arbeit bis dahin ausschließlich verbunden gewesen mit dem Lebenserhalt, Mühsal und Plage, so lädt Luther den neuen Begriff auf. Beruf wird konotiert mit "göttlichem Willen, Berufung, Schickung und Fügung."[137] Arbeit soll fortan ein Werk sein, um Gott zu gefallen. Sie soll in Demut gegenüber der Obrigkeit und in Fügung in die göttliche, also natürliche, Ordnung verrichtet werden. In Luthers Arbeitsbegriff liegt die Grundlage einer Arbeitsideologie, die Arbeit als Wert an sich, unabhängig von deren Gehalt fetischisiert. Luther hat sich nicht nur als Kirchenreformator betrachtet, sondern auch als ‚deutschen Patrioten’ im Kampf gegen den römischen Kaiser. In solcher Sicht scheint es nur konsequent, einen ‚deutschen Volkscharakter’ zu konstatieren, der dem Lutherschen Arbeitsethos gerecht wird und sich durch Naturgebundenheit, Arbeitsfreude, Traditionsverbundenheit und sittlichem Verhalten hervorhebe.[138] Als Antipoden solcher sittlichen Arbeitsamkeit gelten dem Reformator die Juden, ‚Zigeuner’ und ‚Hexen’. In diesen Gruppen wird von Luther personifiziert, was sich seinem Arbeitsethos, der aufkeimenden instrumentellen Vernunft und der Verinnerlichung der göttlichen Ordnung zu entziehen scheint. Sie werden neben den Bettlern zu Symbolen der Nicht-Arbeit stilisiert und entsprechend verfolgt. Alles Dasein, welches real oder scheinbar außerhalb der reformatorischen Ordnung, sich anmaßte zu existieren, ist dem Luthertum und dem sich daraus herausbildenden Pietismus ein Werk des Teufels. Nur in den Projektionen auf die Juden jedoch, die "mit dem sich selbst erzeugenden Geld identifiziert"[139] werden, findet die Personifizierung der Nicht-Arbeit ihr System der Welterklärung.

Die bürgerliche Askese bildet die religiös untermauerte Grundlage der Kapitalakkumulation im Individuum nicht nur in den deutschen Ländern. Die deutschen Pietisten interpretieren, in Nachfolge Luthers, die Arbeit als Gottesdienst. Sie sei natürlicher Selbstzweck des Daseins, unabhängig vom Inhalt, und diene nicht der individuellen Bereicherung. Dem deutschen, romantischen Ideal einer ‚Gemeinschaft der fröhlich Schaffenden’ gibt schließlich Friedrich Schillers Lied von der Glocke von 1800, auch in Abgrenzung zur französischen Revolution und deren Werten, Ausdruck:

"Fest gemauert in der Erden / steht die Form aus Lehm gebrannt. / (...) / Von der Stirne heiß / Rinnen muß der Schweiß / Soll das Werk den Meister loben; / Doch der Segen kommt von oben. / (...) / Dann fließt die Arbeit munter fort / (...) / Das ist’s ja was den Menschen zieret / Und dazu ward ihm der Verstand / (...) / Tausend fleiß’ge Hände regen, / Helfen sich im munterm Bund, Und in feurigem Bewegen / Werden alle Kräfte kund. / Meister rührt sich und Geselle / (...) / Jeder freut sich seiner Stelle / Bietet dem Verächter Trutz. / Arbeit ist des Bürgers Zierde, / Segen ist der Mühe Preis; / Ehrt den König seine Würde, / Ehret uns der Hände Fleiß."[140]

Diese Vorstellung der Arbeit, gewendet gegen die Erscheinungsebene zunehmender Durchkapitalisierung der Gesellschaft, versteht die Produktion als ‚organisches’ Miteinander der ‚Schaffenden’, das sich als Nation im "Trutz" gegen den "Verächter", Symbol des Unproduktiven, formiert. Solch Arbeitsverständnis, in dem die Einzelnen zu Ehren eines höheren Wertes tätig sind, sei es Gott, Vaterland oder der König, wendet sich in Deutschland explizit gegen die Aufklärung, "die alles nur auseinander nähme und auf >Einzelteile< reduziere."[141]

Die Entwicklung des bürgerlichen Subjekts ist ein langandauernder Prozess. Schon bei Luther zeichnet sich die Koppelung von verinnerlichter Autorität, Projektion und Personalisierung ab, sowie die Abgrenzung einer vorweg imaginierten deutschen Nation von den Juden. Dem Kirchenreformator Luther wird von Fromm dessen sado-masochistischer Charakter bescheinigt, da er sich durch "das beständige Nebeneinander einer feindselig-trotzigen Einstellung zu einer Autorität und der masochistischen Unterwerfung unter eine andere"[142] auszeichne.

In der deutschen Romantik ist der christliche Antijudaismus weitgehend säkularisiert. Die Form der romantischen Denunziation des Judentums gleicht "der christlichen Verteufelung (...), wobei das Christentum in ihr in neuer Weise verinnerlicht" wird.

"Nicht Gott, sondern die Menschen, die sich als Volk untereinander lieben, schließen die Juden aus der (...) Erlösungsgemeinschaft aus."[143]

In den sogenannten Hep-Hep Unruhen des Jahres 1819 findet das fetischisierte Bewusstsein der deutschen Erlösungsgemeinschaft zu sich selbst. Die Handwerkszünfte strebten in dieser Zeit der Wirtschaftskrise danach die jüdischen Handwerker als Konkurrenten auszuschalten. Die ‚ehrliche’ Handarbeit soll einzig der Ausdruck des "deutschen Gemüts"[144] werden. Nicht nur die Hep-Hep Pogrome jedoch sind getragen durch alle Schichten der Bevölkerung. Sehr deutlich kommentiert dies der preußische Diplomat Varnhagen von Ense in einem Brief vom 3. September 1819:

"Man sieht aus der Allgemeinheit dieser Ausbrüche gegen die Juden, dass diejenigen irren, welche in unserer politischen Zerstückelung ein Hindernis allgemein durchgreifender Volksbewegungen glauben wahrnehmen zu müssen. Die größte Einheit der Deutschen ist in dem Gefühle zu erkennen, welches sie von ihrem Zustand äußern. Übrigens sind diese Stürme gegen die Juden ein Anfang solcher Ereignisse, die ihnen späterhin alle Gleichheit der Rechte von Volkswegen bringen werden"[145]

Wo die Assimilation und Säkularisierung, gerade der deutschen Juden, diese aus dem Ghetto zu befreien sich anschickt und sie so gesellschaftlich ‚unsichtbar’ macht, schafft der rassistisch aufgeladene Antisemitismus künstlich eine neue Sichtbarkeit. Wenn der moderne Antisemitismus auch in anderen europäischen Ländern virulent gewesen ist, so hat er sich in Deutschland verbunden mit einer idealistischen Philosophie, die sich in vielen Aspekten in Abgrenzung zu den Werten der französischen Revolution verstanden hat oder diese in obrigkeitsstaatliche, autoritäre Denkmuster transformiert hat. Historisch ist das Aufkommen des deutschen Nationalismus nicht zu trennen vom Antisemitismus, beide verhalten sich wie ein Zwillingspaar. So findet sich beispielsweise in Johann Gottlieb Fichte nicht nur ein Wegbereiter des deutschen Nationalismus und Republikanismus. Fichte begründet auch philosophisch einen "Antisemitismus der Vernunft"[146], den später Hitler für den Nationalsozialismus zu mobilisieren gedenkt. Parallel zum aufkommenden Nationalismus geht die Liberalisierung des Marktes, die in Preußen mit der Hardenbergschen Reform von 1810/11 ihren Ausgangspunkt hat. Der Marktliberalismus in den deutschen Ländern führt allerdings nicht zu einer Beschneidung der Vorrechte der Handwerkszünfte, die ihre starke Position ebenso behalten wie die feudale Landwirtschaft.

"Dies ist ein Grund für die Tradierung und Reformulierung einer feudalen Sicht von Arbeit in Deutschland"[147]

Die Emanzipation des Judentums ist zugleich erkauft mit dem Zwang zur Assimilation, was häufig auch den Übertritt in das Christentum eingeschlossen hat. Der aufkommende Liberalismus des 19. Jahrhunderts gewährt zwar den Juden Besitz, "aber ohne Befehlsgewalt."[148] Ihre Sicherheit bleibt damit abhängig von der Anbindung an die staatliche Gewalt.

Die Antisemiten im Gefolge Wilhelm Marrs setzen wie der Journalist Otto Glagau den Begriff des ‚schaffenden’ Kapitals mit guter, deutscher Produktivität gleich. So liest man  1874 in der "Gartenlaube", einer Zeitschrift für die deutsche Mittelschicht, die in einer Auflage von 400.000 Stück vertrieben wurde:

"Die Judenschaft (...) arbeitet nicht, sie beutet die mit der Hand verrichtete oder die geistige Arbeit des Mitmenschen aus (...)"[149]

Diese Haltung fußt auch in der Tradition der mittelalterlichen Judenfeindschaft, welche in der Moderne keinen expliziten, vielmehr einen gesellschaftlich impliziten Charakter besitzt. Das christliche Motiv ist bei Glagau in den Hintergrund gedrängt und säkularisiert: "Die soziale Frage ist die Judenfrage.[150]" Hierin liegt der qualitative Unterschied des modernen Antisemitismus gegenüber dem mittelalterlichen, christlichen Antijudaismus. Am Ende des 19. Jahrhunderts wird das dichothome Verhältnis von ‚deutscher Arbeit’ und jüdischer ‚Nicht-Arbeit’ zum kulturellen Code geronnen sein. Der Börsenkrach von 1873, in dem die Kleinanleger ihre gesamten Ersparnisse verloren haben, scheint die Mär vom unehrlich an der Börse erworbenen ‚jüdischen’ Kapital in den Augen des Großteils der Bevölkerung zu untermauern. Schnell werden die eigenen ‚Spekulationsgelüste’ verdrängt. So haben sich "Katholiken und Protestanten, Christen und Atheisten, Konservative und Demokraten (...) ungeachtet aller Gegensätze vereint in der Opposition gegen den als >jüdischen Manchesterkapitalismus< halluzinierten Kapitalismus."[151]

  • [135] Ebda. S. 58.

  • [136] Martin Luther zit. nach Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus II, a.a.O., 119.

  • [137] Woeldicke / Schatz, a.a.O., S. 18.

  • [138] Vgl. ebda., S. 18.

  • [139] Gerhart Scheit: Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus, Freiburg (ça ira) 1999, S. 67.

  • [140] Zit. nach Woeldicke / Schatz, a.a.O., S. 25.

  • [141] Ebda., S. 23.

  • [142] Fromm: Der autoritäre Charakter, a.a.O., S. 129.

  • [143] Woeldicke / Schatz, a.a.O., S. 26f

  • [144] Heinrich von Treitschke, zit. nach Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Bd. VI: Emanzipation und Rassenwahn, Worms (Verlag Georg Heintz) 1987, S. 102.

  • [145] Zit. nach ebda., S. 105.

  • [146] Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhass, München (Luchterhand) 2002 (2000), S. 76.

  • [147] Woeldicke / Schatz, a.a.O., S. 28.

  • [148] Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 181.

  • [149] zit. nach Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. VII. Zwischen Assimilation und »Jüdischer Weltverschwörung«, Frankfurt a. M. (Athenäum – Jüdischer Verlag) 1988, S. 30.

  • [150] Zit. nach Woeldicke/Schatz, a.a.O., S. 50.

  • [151] Ebda., S. 54.

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25-04-2004


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