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Jüdische Weisheit
 
 
Teil IX
Antisemitismus aus kritisch-theoretischer Sicht
Möglichkeiten und Grenzen politischer Bildungsarbeit in einem gesellschaftlichen Problemfeld


Von Ingolf Seidel

4.4.Volksgemeinschaft und Vernichtung

Was die autoritätsgebundenen Subjeke erstreben, die kapitalistische Ökonomie ihnen jedoch nicht geben kann, das Aufgehen des schwachen Ichs in der Gemeinschaft des Volkes als Gemeinschaft der 'Schaffenden', das verspricht ihnen die antisemitische Vorstellung. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts findet der organisierte Antisemitismus seinen Ausdruck in Parteien und Verbänden und perpetuiert sich in der Weimarer Republik in den Freikorps und der 'Schwarzen Reichswehr'.

"Das politische Prinzip der Weimarer Republik, der Volksstaat, steigerte sich zur ersatzrevolutionären Volksgemeinschaft auf Grundlage des Antisemitismus. In pathischer Projektion begriff die nationalsozialistische Volksgemeinschaft sich als die "organisch-konkrete schaffende Arbeitsfront" antagonistisch gegen "raffendes Kapital" (...), als Todfeind ebenso des "liberalistisch losgelassenen Kapitals, in Form des "internationalen Finanzjudentums" wie auch zur "kommunistisch entfesselten Arbeit" – die als vom Kapitalverhältnis befreite Arbeit erscheinen konnte – in Form des bolschewisischen Juden."[152]

Im Nationalsozialismus sind die Interessen der deutschen, autoritären Subjekte mit den kapitalistischen Interessen nach Krisenbewältigung zusammengefallen. Das autoritäre Subjekt, das den 'Anderen' in Gestalt der Juden das vermeintliche Glück der Nicht-Arbeit missgönnt und in deren Vernichtung des Prinzips des Nicht-Identischen seine Erfüllung findet, ist durchaus kompatibel mit den Interessen an einer Modernisierung der ökonomischen Strukturen in Deutschland. Die Juden gelten in der antisemitischen Volksgemeinschaft nicht bloß als Repräsentanten des Kapitals, sie sind dessen Personifikation. In der antikapitalistischen, konformen Revolte treiben die Autoritären "das herrschende Gesetz zur Konsequenz". Der innige Zusammenhang "zwischen Antisemitismus und Totalität, die sich in der wertförmig und herrschaftlich integrierten Gesellschaft realisiert" führt in verschiedenen Schritten volksgemeinschaftlicher Mobilisierung zu "Gleichmacherei, Auslöschung des Besonderen, Totalisierung der Unfreiheit."[153] Damit zeigt sich auch die Falschheit der Rede vom ‚Rückfall in die Barbarei', die der Holocaust darstelle. Vielmehr ist er Ausdruck des barbarischen Prinzips in der Moderne in seiner deutschen Ausprägung.

Das "Arbeit macht frei" über den Eingangstoren der Konzentrationslager paraphrasiert noch den Wahn, den die Mörder "zur vernünftigen Norm"[154] erhoben haben. Vor dem Hintergrund seiner sozialen Paranoia, die der Antisemit rationalisiert im Bild der ‚deutschen Arbeit', beginnt der er die Ausrottung der ‚jüdischen Nicht-Arbeit'. Dieses Irresein als Norm gestattet es dem Einzelnen "schlecht zu sein und sich dabei für gut zu halten"[155]. Zur Errichtung der "Todesfabriken"[156] von Auschwitz, Treblinka oder Majdanek ist die totale Integration der Einzelnen in das kollektive Über-Ich der Volksgemeinschaft eine Voraussetzung.

"Der Mechanismus der Anpassung an die verhärteten Verhältnisse ist zugleich einer der Verhärtung des Subjekts in sich", indem sich die Einzelnen als Individuum auslöschen, somit "sich selbst zum Ding" werden" [157]. Erst das solcherart entstandene faschistische Subjekt ist in der Lage, seinem antisemitischen Antikapitalismus bis zur Vernichtung der Juden zu fröhnen. In der Volksgemeinschaft findet es auf pathische Weise zu sich selbst, seine Subjektivität ist eine Verdinglichte. Die real Machtlosen fühlen sich durch den völkischen Antikapitalismus mächtig und leben ihre sadistische Lust an ihren Opfern aus, während die manipulativ Autoritären vom Schlage eines Eichmann kalt und berechnend, affektlos, den staatlichen eingebundenen Exzess organisieren.

In der schrittweisen Entmenschlichung der jüdischen Bevölkerung[158] macht das faschistische Subjekt sie sich in der Verdinglichung gleich und zu dem als was die Antisemiten die Juden eigentlich sieht: "Schatten, Ziffern, Abstraktionen."[159] In den Todesfabriken wird noch der letzte Rest von Konkretion abgeschöpft; die zuvor durch die Täter entmenschlichten Juden werden beraubt, Kleider, Haare und Gold verwertet.

"Eine kapitalistische Fabrik ist ein Ort, an dem Wert produziert wird, der "unglücklicherweise" die Form der Produktion von Gütern annehmen muß. (...) Die Ausrottungslager waren demgegenüber keine entsetzliche Version einer solchen Fabrik, sondern müssen eher als ihre groteske arische "antikapitalistische" Negation gesehen werden. Auschwitz war eine Fabrik zur "Vernichtung des Wertes", das heißt zur Vernichtung des Abstrakten."[160]

Es ist die Sinnlosigkeit dieses Geschehens, in dem der Wahn zum Realitätsprinzip geworden ist, vor welcher der Verstand kapitulieren will. Noch im Tod werden die Opfer durch die Massenverbrennungen verhöhnt: Dem jüdischen Ritus gilt der unversehrte Körper als sakral. Seine Vernichtung durch Verbrennen erst macht den Mördern die Vernichtung total. Das Phantasma vom 'faulen' und 'schmarotzenden' Juden hat im Nationalsozialismus seine diabolische Überhöhung gefunden. Mit zweckrationalen Motivationen kann die deutsche Vernichtungsmaschinerie, die kriegswichtige Ressourcen gebunden hat, nicht erklärt werden. Allein schon die Juden zur Arbeit zu zwingen bringt den Tätern emotionale Befriedigung. Die Berichte, dass Jüdinnen und Juden in Österreich genötigt werden Gehsteige mit kleinen Bürsten zu putzen, legen ein Zeugnis davon ab. In Mein Kampf spricht Hitler die Bedeutung eines deutschen Arbeitsbegriffs, "der schaffenden Arbeit, die selbst ewig antisemitisch war und antisemitisch sein wird"[161], deutlich aus.

An denjenigen Juden, die nicht sofort ermordet werden, führen die Täter vor, was deutsche Arbeit bedeutet: Arbeit um ihrer selbst willen, unabhängig vom Inhalt. Diejenigen, die als arbeitsfähig eingestuft worden sind, werden sowohl zu sinnlosen als auch produktiven Arbeiten gezwungen. In seiner frühen Studie Der SS-Staat aus dem Jahr 1946 hat Eugen Kogon beschrieben, wie die Häftlinge in den Konzentrationslagern zur Arbeit um ihrer selbst willen gezwungen werden:

"Es gab in den Lagern sinnvolle Arbeiten und es gab völlig sinnlose, die keinen anderen Zweck hatten als den zu quälen. (...) Im ganzen gesehen war ein erheblicher Teil der in den KL verlangten Arbeiten zwecklos, vielfach überflüssig oder miserabel geplant, so dass sie zwei- und dreimal wiederholt werden mußten."[162]

Die 'produktive' Arbeit zu der die Juden in der deutschen Industrie gezwungen sind, ist eine reine Arbeit zur Vernichtung, die versucht aus den Opfern noch einen maximalen Beitrag an Konkretem herauszupressen. Sie werden aus ideologischer Motivation zur Zwangsarbeit gebracht, die sich allerdings zum Ausgleich des kriegsbedingten Arbeitskräftemangels "dennoch mit rationalen Kapitalinteressen" verbunden hat und "gerade unter Einkalkulation der massenhaften Vernichtung vollends auf die Reproduktion des variablen Kapitals, der Ware Arbeitskraft verzichten" kann.[163] Aus diesem ideologischen "Krieg der Arbeit"[164], wie ihn Fritz Sauckel der "Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz" 1942 genannt hat, zieht die deutsche Wirtschaft einen Profit, der ihr später trotz Kriegsschäden mit zu einem 'gelungenen' ökonomischen Anschluss in der Demokratie verhelfen wird. So fundiert der bundesdeutsche Staat und dessen ‚Wirtschaftswunder' nicht nur auf den Wiederaufbauhilfen, sondern auf Zwangsarbeit[165], 'arisiertem' Vermögen und deutscher Arbeitsleistung als Teil von Verdrängung der eigenen Schuld. Das ist ein Teil von Geschichte, ebenso wie die Zahlungsverweigerung an die Opfer seitens der DDR-Regierung, den auch politische Bildungsarbeit zu vermitteln hätte, gegen einen schulischen Geschichtsunterricht und ein offizielles Geschichtsbild, welche solches verschweigen.

Die Massenvernichtung ist aber auch eine durch die Massen gewesen. Mögen auch die einzelnen Deutschen keine Details der Vernichtung gekannt haben, dass den Juden etwas grauenvolles geschieht, davon hat es ein Bewusstsein gegeben und Millionen sind in die Verbrechen mehr oder weniger direkt involviert gewesen[166]. Wo sich die sogenannten Mitläufer in der künstlichen Wärme der Volksgemeinschaft gesonnt haben, bleibt für diejenigen, die den Antisemiten das Abstrakte personifizieren nur die Kälte des bürgerlichen Geschäftsbetriebes. Der Nationalsozialismus kann auf eine Kultur zurückgreifen, deren Mitglieder, von den Eliten über weite Teile der Bevölkerung bis in die kommunistische Opposition, vom Antisemitismus affiziert ist. Wer nicht direkt an den Verbrechen beteiligt gewesen ist, hat noch den Mördern in seiner Gleichgültigkeit beigestanden. Einen organisierten Widerstand, wie beispielsweise in Dänemark oder den Niederlanden, der sich explizit gegen die Judenverfolgung gerichtet hat, hat es in Deutschland nie gegeben. So konnten schlussendlich die Antisemiten die Welt in jene Hölle verwandeln, als welche sie sie schon immer gesehen haben[167].

Die Frage nach Schuld und Verantwortung der Einzelnen im nationalen Kollektiv wiegt schwer und ist nicht in jeder Facette eindeutig zu beantworten. Trotz der Hingabe der autoritären Deutschen an die Volksgemeinschaft sind die Täter keine nur verblendeten Opfer der Ideologie, welche für ihr Handeln keine individuelle Verantwortung tragen. Dem bürgerlichen Historiker Goldhagen ist in der wichtigen Erkenntnis zu folgen, dass "die Täter nicht 'unbewußt' im System aufgegangen (sind), sondern (...) sich selbst politisch subjektiviert"[168] haben. Auch dort, wo Einzelne nicht in Gänze mit der nationalsozialistischen Ideologie und der Führerfigur Hitler in Übereinstimmung sind, erfahren sie noch narzisstische Befriedigung durch die Partizipation an der Größe der Macht und der Gewalt des Systems[169]. Bestehen bleibt, auch wenn die Einzelnen ein unterschiedliches Maß an Schuld getragen haben, der kulturelle Schuldzusammenhang: Auschwitz hat in seiner Totalität wahrhaft alles affiziert.

  • [152] Woeldicke, a.a.O., S. 73.

  • [153] Lars Rensmann: Dialektik des Antisemitismus in: Arbeitskreis Kritik des deutschen Antisemitismus (Hg): Antisemitismus – die deutsche Normalität, a.a.O., S. 115.

  • [154] Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 196.

  • [155] Max Horkheimer: Über das Vorurteil, in: Ders.: Vorträge und Aufzeichnungen 1949 – 1973. Gesammelte Schriften: Bd. 8, Frankfurt a. M. (Fischer) 1985.(1961), S. 196.

  • [156] Arendt, Hannah: Die vollendete Sinnlosigkeit in: Dies.: Nach Auschwitz. Essays und Kommentare 1, Berlin (Edition Tiamat) 1989 (1950), S. 11.

  • [157] Adorno: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, a.a.O, S. 60; vgl. auch Kapitel 2.1.

  • [158] Der Vernichtung der Juden ist in der bekannten Form nicht vornherein durchgeplant gewesen. Vielmehr hat es sich um es einen schrittweisen Prozess gehandelt, der ausgehend von der Definition derer, die als Juden gelten, über die Enteignung bis zu Konzentration und Vernichtung geführt hat (Vgl.dazu Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd.1, Frankfurt am Main (Fischer) 1991, S. 56ff).

  • [159] Postone, a.a.O., S. 254.

  • [160] Postone, a.a.O., S. 253f.

  • [161] Adolf Hitler, zit. nach Goldhagen, a.a.O., S. 337.

  • [162] Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Frechen (Komet) 1974 (1946), S. 90.

  • [163] Johanna Mueller/ Tobias Ebbrecht: Wahn und Kalkül. Antisemitismus und Vernichtung in der mörderischen Praxis der Zwangs- und Sklavenarbeit, in: gruppe offene rechnungen (Hg.): The Final Insult. Das Diktat gegen die Überlebenden, Münster (Unrast) 2003, S. 33.

  • [164] Zit. nach Manfred Weißbecker: "So einen Arbeiteinsatz wie in Deutschland gibt es nicht noch einmal auf der Welt!". Fritz Sauckel – Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz, in: Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte, Köln (PapyRossa) 2000, S. 41.

  • [165] Allein der geraubte Lohn der Sklavenarbeiter, den sich die deutsche Wirtschaft als Extraprofit einverleibt hat beträgt 180 Milliarden D-Mark, vgl. dazu: Thomas Kuczynski: Entschädigungsansprüche im "Dritten Reich", in Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen, a.a.O, S. 170ff.

  • [166] Vgl. Goldhagen, a.a.O., S. 201ff.

  • [167] Vgl. Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 209.

  • [168] Rensmann: Kritische Theorie über den Antisemitismus, a.a.O., S. 208.

  • [169] Vgl. Fromm: Der autoritäre Charakter, a.a.O., S. 121.

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17-08-2004


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