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Jüdische Weisheit
 
 

Nationalismus und Antisemitismus

Der Zusammenhang zwischen der Entstehung antisemitischer Strukturen und nationalistischer Ideologien in der arabischen Welt unter besonderer Berücksichtigung des ägyptischen Nationalismus bis 1920

Von Jens Heibach

2. Der Eintritt der europäischen "Moderne" in den Vorderen Orient und die Folgen

Ohne weiter auf diese Epoche eingehen zu können, findet jüdisches Leben in muslimischen Gesellschaften des 7. bis 19. Jahrhunderts – natürlich unter Berücksichtigung situations- und zeitbedingter Unterschiede (vgl. hierzu Cohen 1973) – aufgrund einer Vielzahl ökonomischer, juristischer, politischer, sozialer und religiöser Unterschiede unter relativ günstigeren Umständen statt als dies zur gleichen Zeit im christlichen Europa der Fall ist (vgl. Cohen 1996:53f.). Grundlage des jüdisch-muslimischen Zusammenlebens sind dabei die Regelungen der Dhimma, die allerdings in den seltensten Fällen restriktiv eingehalten wurden (vgl. Bunzl 1989:16). Die Dhimma ist ein Regelwerk für die "Völker des Buches" (ahl al-Kitab, anfangs sind damit Christen und Juden gemeint), das sich zunächst aus koranischen Bestimmungen und dem Umgang des Propheten mit den jüdischen Stämmen in und außerhalb Medinas zusammensetzt. Dieses Regelwerk erfährt im Pakt von ‘Umar eine staatliche Kodifizierung. In diesem Pakt wird die Unversehrtheit von Leben und Eigentum sowie die Freiheit der Religionsausübung der Dhimmi's, der Schutzbefohlenen, festgeschrieben, eingefordert wird im Gegenzug die Anerkennung der muslimischen Oberherrschaft, die Abführung der jizya an die Umma wird nochmals bestätigt. Außerdem beinhaltet der Dhimma-Status weitere diskriminierende Vorschriften und Verbote, die bei strikter Handhabung Benachteiligungen und eine Verschlechterung der Lebenssituation der Juden bedeuten. Wenngleich die Beschränkungen eher weitherzig ausgelegt werden, garantiert der Dhimma-Status für die Juden, aber auch Christen und andere Vertreter der "Völker des Buches" nur Autonomie in persönlichen, familiären und religiösen Angelegen-heiten, keinesfalls bedeutet er jedoch Gleichheit mit den Muslimen (vgl. Noth 1998:137ff.).

Gemeinhin wird der Anbruch der Moderne im Vorderen Orient auf das Jahr 1798 gelegt, also auf das Jahr, in dem französische Revolutionstruppen unter Führung Napoleons in Ägypten landen. Diese Festlegung ist aus zwar unter mehreren Gesichtspunkten problematisch, soll aber dennoch im Folgenden Ausgangspunkt der weiteren Ausführung sein. (3)

Das Jahr 1798 ist nicht alleine aufgrund des Aufeinanderprallens zweier Kulturkreise bedeutsam, in dessen Folge sich ein Austausch kultureller und ökonomischer Güter (vornehmlich vom Okzident in den Orient) entwickelt. Der vergleichsweise leichte Einmarsch französischer Revolutionstruppen nach Ägypten offenbart der muslimischen Bevölkerung in erster Linie die militärische und ökonomische Stärke der europäischen Großmächte. Zwar hatte sich der langsame Niedergang des osmanischen Reiches bereits seit dem Ende des 17. Jahrhunderts angedeutet, bis 1798 ist die weitgehend unbehelligte Bevölkerung allerdings noch so von der Überlegenheit des Islams gegenüber dem christlichen Westen überzeugt, dass der Einfall Napoleons für sie wie aus heiterem Himmel kommt (vgl. Matuz 1985:211).

Zudem zeichnet sich in dieser relativ kurze Okkupationsphase der Beginn einer Verschiebung des innergesellschaftlichen Machtgefüges ab, als es unter Napoleon erstmals zur Abschaffung des Dhimma-Systems in Ägypten kommt. Die empörten Reaktionen der muslimischen Bevölkerung hierauf im Besonderen und die – auch nach der Wieder-einführung der Dhimma-Regeln durch Selim III. – schwerwiegenden Konsequenzen für das fortan zerrüttete Verhältnis zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen im Allgemeinen (vgl. Kiefer 2002:38) sind im Zusammenhang des symbolischen Werts der Dhimma als Zeichen muslimischer Überlegenheit gegenüber den ungläubigen Minderheiten zu verstehen (vgl. Lewis 1987a:165). Entsprechend wird die formelle Emanzipation aller Nicht-Muslime 1856 im Rahmen der Tanzimat-Reformen (vgl. hierzu Yapp 1987:108ff.) nicht nur in islamisch-orthodoxen Kreisen abgelehnt, sondern es kommt auch in gemäßigteren Bevölkerungsteilen zu Kritik an der als Abwertung der religiösen Grundprinzipien empfundene Emanzipation (vgl. Matuz 1985:226).

Dabei ist die rechtliche Gleichstellung der nicht-muslimischen Minderheiten eigentlich nur die logische Konsequenz aus dem Prozess der indirekten Aushöhlung des Dhimma-Systems von Seiten der europäischen Großmächte durch die Institution der Kapitulationen (Imtiyazat). Kapitulationen sind vertragliche Vereinbarungen zwischen den europäischen Mächten und dem (geschwächten) osmanischen Reich zum Schutze der jeweiligen religiösen Minderheiten. Sie eröffnen den europäischen Staaten die Möglichkeit, durch willkürliche Ausdehnung vertraglicher Privilegien jeder Zeit bei den osmanischen Behörden zu intervenieren. Somit werden christliche und jüdische Minderheiten (letztere v.a. seitens Großbritanniens) von europäischen Großmächten zur Durchsetzung der eigenen Interessen instrumentalisiert. Nach Ansicht Bernard Lewis ist der Ausgangspunkt der qualitativen Änderung der muslimischen Judenfeindlichkeit vor allem der wahrgenommene Machtverlust der muslimischen Mehrheit, auch infolge des Systems europäischer Protektion. "Machtverlust führte zu Vertrauensverlust und dieser wiederum zum Verlust von Toleranz." (Lewis 1987a:152) Diese Feindlichkeiten beschränken sich aber keineswegs nur auf die jüdische Minderheit, sondern richten sich v.a. gegen Christen, denen die Hauptschuld für den Verfall der islamischen Vorherrschaft gegeben wird (vgl. Kiefer 2002:48).

Neben den aus ihrer Vermittlerposition zwischen europäischem Kapital und den modernisierten, lokalen Eliten des Osmanischen Reiches erwachsenen Vorteilen, welche die ehemaligen Dhimmi's (v.a. Christen) innehaben und welche unter Muslimen häufig Konkurrenzängste schüren (vgl. Bunzl 1989:32,38), sind es vor allem die antijüdischen und antisemitischen Anschuldigungen der christlichen Minderheiten und ihrer europäischen Protektoren, welche die Situation der Juden im Vorderen Orient verschlechtern. Einen Wendepunkt in der bisherigen muslimischen Wahrnehmung christlicher Ritualmords- und Verschwörungsvorwürfen gegenüber Juden bildet die sogenannte "Damaskus-Affäre" im Jahre 1840 (vgl. hierzu Barnai 1988). Die "Damaskus-Affäre", die im gesamten Osmanischen Reich auf große öffentliche Aufmerksamkeit stößt, leitet einen folgenschweren Transformationsprozess in der arabisch-muslimischen Bevölkerung ein und schafft einen Präzedenzfall, der das ursprüngliche christlich-antisemitische Stereotyp allmählich auch vielen muslimischen Arabern geläufig werden lässt (vgl. Kiefer 2002:43). Zwar erfolgen bis in die 1890er Jahre vergleichbare Ritualmordvorwürfe in nahezu allen Fällen von christlicher Seite, wobei auffallend ist, in welchem Maße die Vorwürfe Unterstützung von Seiten des diplomatischen Personals sowie der britischen und französischen Presse finden. Der Import dieses aus Europa stammenden Vorurteils (4) zeitigt nach einer gewissen Dauer schließlich auch seine Wirkung in der arabischen Bevölkerung, so dass Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten antijüdischen Standartthemen in ägyptischen Zeitungen auszumachen sind (vgl. Lewis 1987a:144).

Das verstärkte Auftauchen antisemitischer Klischees in der damaligen Medienlandschaft ist freilich nicht nur Indiz für den ansteigenden Antisemitismus im Nahen Osten, sondern verdeutlicht überdies, wie gegen Ende des 19. Jahrhunderts nationalen, kulturelle und ökonomische Barrieren im Schwinden begriffen sind. Die Entwicklung der neuen Kommunikations- und Transporttechnologien gereicht den orientalischen Juden in gewisser Hinsicht zum Nachteil, da zu Hochzeiten des europäischen Antisemitismus alte christliche antijüdische Vorurteile und neu aufkommenden Verschwörungstheorien in kürzester Zeit eine relativ große Anzahl unbedarfter Muslime erreichen. Diese Veränderung der Raum-Zeit-Dimension wird am Beispiel der "Dreyfus-Affäre" ersichtlich, deren Geschehnisse auch in Kairo, Istanbul oder Damaskus diskutiert werden (vgl. Kiefer 2002:49f.).

3. Die verschiedenen Gesichter des Nationalismus
4. Ägyptischer und arabischer Nationalismus bis 1920
5. Nationalismus und aufkeimender Antisemitismus in Ägypten bis 1920
6. Nationaler Antisemitismus in Ägypten und in der arabischen Welt?
7. Zusammenfassung
8. Literaturverzeichnis

Anmerkungen:
(3) Einerseits ist es, vergleichbar mit den Versuchen epochaler Einteilungen europäischer Geschichte, immer ein undankbares, weil umstrittenes Unterfangen, einen Termin zur Markierung einer Zeitenwende herauszusuchen, obwohl solche Definitionsfragen aus operativen Gründen unerlässlich sind. Schwerer wiegt jedoch die Problematik der Begrifflichkeit selbst. Angewandt auf den Vorderen Orient, aber ebenso auf zahlreiche andere außereuropäische Kulturkreise, zeigt sich, dass diese Europa unmittelbar benachbarte Region eigentlich durch das Raster der klassischen soziologischen Theorien von Marx bis Weber oder der „klassischen“ (westlichen) Modernisierungstheorien der 50er Jahre fällt (vgl. Eisenstadt 2001). Da die Moderne am industriellen, säkularen Typus westlicher Gesellschaften ausgerichtet ist, kann nur eine westliche oder „verwestlichte“ Gesellschaft eine wirklich moderne sein. Dieser Gedankengang ist nicht nur ausgesprochen engstirnig und kulturzentristisch, sondern verkennt auch die innere Dynamik der betroffenen Gesellschaften, in denen gerade nationalistische und traditionalistische Bewegungen in anti-westlichen und anti-modernen Themen ihre Existenzgrundlage finden. Überdies ist im Zusammenhang des wichtigen religiösen Faktors in der Lebenswirklichkeit des Nahen und Mittleren Osten vor allem ein Manko der Modernisierungstheorien hervorzuheben, nämlich dass der Faktor Religion in ihnen keine ausreichende Berücksichtigung findet (vgl. Eickelmann 2000:120).
(4) Die Antisemitismus-Import-These vertritt etwa Pfahl-Traughber (2004); vgl. des weiteren Kap. 5.

hagalil.com 01-11-2005


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