Türkei nutzt OSZE-Konferenz zur Selbstdarstellung:
Die Türkei ist frei von Antisemitismus
oder: Der Mond ist eine
Scheibe
Von Corry Görgü
"Antisemitismus ist der türkischen Bevölkerung
seit Alters her völlig fremd" - so der offizielle Vertreter der
Türkei auf der OSZE-Konferenz zum Thema Antisemitismus vom 28.-29.
April 2004 in Berlin. Das Zusammenleben von Türken und Juden in der
Türkei sei "ein lebendiges Beispiel von interreligiöser und
interkultureller Harmonie, Respekt und Toleranz". Eine Darstellung,
die auch in den hiesigen Medien weitgehend akzeptiert wird.
Anschläge vom November bereits vergessen
Die verheerenden Anschläge auf zwei Istanbuler
Synagogen, denen am 15. November 2003 57 Menschen zum Opfer fielen,
sind nach kaum sechs Monaten bereits in Vergessenheit geraten, in
der türkischen Presse sucht man vergeblich nach Berichten über den
Fortgang des Verfahrens gegen die Täter. Auch damals waren sich die
hiesigen Kommentatoren sofort einig: Antisemitismus spiele in der
Türkei keine Rolle, seit fünf Jahrhunderten lebe die jüdische
Gemeinde in Harmonie mit ihrer muslimischen Umwelt.
Die Aussagen der Täter sprachen allerdings eine
andere Sprache: "Aus Unerfahrenheit haben wir die Bomben zu früh
gezündet" bedauerte Y. Polat, der den Anschlag gegen die beiden
Synagogen koordinierte. "Wir hätten 5 – 10 Minuten warten sollen,
bis alle Juden zusammen aus dem Gottesdienst herauskamen." Die
Kinder von I. Kuncak, einem der Selbstmordattentäter des fünf Tage
später erfolgten Anschlages gegen die HSC-Bank antworteten, von der
türkischen Zeitung Milliyet nach ihrer Reaktion auf die
Bombardierung der Synagogen befragt: "Wir waren zufrieden, (...) es
richtete sich doch gegen die Juden (...) Wir und unser Vater konnten
die Juden nicht ausstehen."
Ein weiterer Terroranschlag auf eine
Freimaurerloge in Istanbul im März diesen Jahres, bei der zwei
Menschen starben, wurde in der hiesigen Öffentlichkeit nicht
wahrgenommen, obwohl er in inhaltlichem Zusammenhang zu denen vom
November stand: Den Tätern gelten Freimaurer als Teil der jüdischen
Weltverschwörung. Die Ermittlungen förderten rasch einen
Zusammenhang zu weiteren antijüdischen Gewalttaten zutage: Mit der
Schusswaffe eines der Attentäter war im August 2003 der jüdische
Zahnarzt Yasef Yahya in seiner Praxis ermordet worden. Mit dem
erbeuteten Telefonverzeichnis des Ermordeten hatten die Täter
weitere Mitglieder eines jüdischen Hilfswerks in Istanbul bedroht,
um Geld zu erpressen, mit dem sie den Aufbau einer militanten
Organisation finanzieren wollten. Im Oktober 2003 wurde ein weiteres
Mitglied dieser Telefonliste auf ähnliche Art ermordet.
Dies sind bei weitem nicht die einzigen
antisemitischen Gewalttaten der jüngeren Zeit: Der Anschlag auf die
Synagogen vom 15. November 2003 war bereits der dritte Anschlag auf
die Neve Shalom Synagoge. Am 6. September 1986 – ebenfalls während
des Sabbat-Gottesdienstes kurz vor 9.30 Uhr – waren bei einem
Anschlag 22 Gottesdienstteilnehmer ermordet worden. Ein zweiter
Anschlag ereignete sich am 1. März 1992, als Angehörige der
Hizbullah mit Schusswaffen und Handgranaten in die Synagoge
eindrangen.
Am 28. Januar 1993 wurde ein Mordanschlag auf den
jüdischen Industriellen Jak Kamhi, den Präsidenten der
"500-Jahres-Stiftung" (zur Feier des Jahrestages der Aufnahme der
aus Spanien vertriebenen Juden durch das damalige Osmanische Reich)
verübt. Zum Glück überlebte Kamhi den Anschlag fast unverletzt. Ende
Dezember 1994 wurden bei einem Bombenanschlag auf ein
Intellektuellencafé in Istanbul der Filmkritiker Onat Kutlar und die
(jüdische) Archäologin Ayse Cebenoyan getötet, das Bekennerschreiben
betonte die Bereitschaft, "noch mehr Juden zu töten". Am 15. Juni
1995 wurde gegen den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Ankara –
Yuda Yurum – ein Anschlag mit einer Autobombe verübt (er überlebte
verletzt), sechs Monate später traf es den jüdischen Geschäftsmann
Nessim Malki. Im Sommer 2001 schließlich wurde Üzeyir Garih,
ebenfalls einer der bekanntesten jüdischen Geschäftsleute und
herausragendsten Mitglieder der jüdischen Gemeinde ermordet. Im
April 1994 wurde der jüdische Friedhof in Istanbul geschändet, 1996
die Synagoge in Ankara.
Antisemitische Publikationen
Antisemitische Publikationen haben in der Türkei
seit Jahren Hochkonjunktur. Die türkische Übersetzung von "Mein
Kampf" (türkisch: "kavgam") erschien bereits in der 30. Auflage, die
türkische Version der "Protokolle der Weisen von Zion" wurde gar 93
mal aufgelegt – 25 mal allein in der letzten Dekade. Die
Milli-Gazete – Hauszeitung der Vorläuferparteien der jetzigen
Regierungspartei – verteilte im Wahlkampf 1995 das Büchlein "Wer
beherrscht die Welt – der geheime Weltstaat" als Treueprämie an ihre
Leser. Die Schriften von Harun Yahya (Pseudonym für Adnan Hoca)
werden professionell über Internet in verschiedenen Sprachen
vertrieben, Verkaufsstände finden sich in den Großstädten der Türkei
an jeder größeren Bahnhofsstation. Neben der Leugnung des Holocausts
und Schriften über eine angebliche
"zionistisch-nationalsozialistische" Kollaboration sind Freimaurer
(und deren Verbindung zum Judentum) Hauptthema seiner Publikationen.
Zunehmend bedienen sich Antisemiten verschiedener Strömungen auch
moderner Technologie, Internetseiten mit "ein-schlägigen" Inhalten
schießen wie Pilze aus dem Boden.
Dass diese Hetze ihre Wirkung in der breiten
Bevölkerung keineswegs verfehlt, beweist eine Untersuchung, die 1999
von zwei Wissenschaftlern in Adana unter 1.631 StudentInnen und
Oberschülern durchgeführt wurde: Aussagen wie z.B. "Juden haben in
der Geschichte viel Unheil angerichtet" oder "Es wäre gut für uns,
wenn die Juden (und Armenier) unser Land verließen" oder "Wenn
Hitler die Juden aus Deutschland vertrieben hat, kann man nicht
sagen, dass sie selbst daran völlig unschuldig waren" wurden
lediglich von 11 bis 31 Prozent der Befragten widersprochen.
Verschwörungstheorien
Dabei ist Antisemitismus in der Türkei keineswegs
nur unter Islamisten verbreitet, auch Nationalisten und türkische
Linke sind für Verschwörungstheorien äußerst empfänglich. 1996
bezeichnete der Publizist Tanil Bora in der kritischen
Theoriezeitschrift Birikim die Türkei als "Vorzeigeland" von
Verschwörungsmentalität.
Der "Vorteil" eines derart reduzierten Weltbildes
liegt darin, dass es je nach politischer Couleur und aktueller
politischer Konjunktur den eigenen Bedürfnissen angepasst werden
kann. So verbreiteten auch regierungsnahe Zeitungen nach den
Anschlägen vom 15. November, Nutznießer der Anschläge seien die USA
und Israel, folglich seien hier die Täter zu suchen.
Bezogen auf den Irakkrieg der USA stellt Necati
Dogru in der liberalen Sabah Bush wie Saddam als Opfer Sharons dar:
Die amerikanische Politik würde von jüdischem Kapital bestimmt, die
sämtliche Thinktanks und entscheidenden Regierungsausschüsse der
US-Administration unter ihre Kontrolle gebracht hätte. In der
islamistischen Yeni Safak vom 21.4.2004 bezeichnet Mustafa Özcan
Bush und die rechten Christen der USA als Teil eines
"Thora-Gürtels".
Kryptojuden
Eines der beliebtesten Themen ist die
vermeintliche Beherrschung der Türkei durch die als Dönme (wörtlich:
Konvertiten) bezeichneten Nachfahren der Anhänger des Sabbatai Zwi,
jenes "falschen Messias", der vor über 300 Jahren Juden aus ganz
Europa anlockte und schließlich in Izmir zum Islam konvertierte.
Nachfahren dieser Dönme, die seit Beginn der türkischen Republik
unter engagierten Journalisten und linken Intellektuellen stark
vertreten sind, werden bis heute als Kryptojuden denunziert und
angegriffen. Republikgründer Atatürk, dessen Geburtsstadt Saloniki
eine Hochburg der Dönme war, wird in zahllosen Publikationen als
Werkzeug von Freimaurern und Juden diffamiert.
Prof. Yalcin Kücük, der in der Türkei als
engagierter Linker gilt, veröffentlichte 2003 das Buch "Sebeke
-Gizli Yahudiler" ("Das Netzwerk - die Kryptojuden"), in welchem er
die Beherrschung der Türkei durch die Dönme behauptet; innerhalb
eines Jahres erschienen bereits vier Auflagen.
Kurdisch-jüdische Komplotte
Ein neues Topthema auf der Hitliste der
Verschwörungstheorien ist ein behauptetes kurdisch-jüdisches
Komplott. Als im Frühjahr dieses Jahres die irakische
Übergangsverfassung erklärt wurde, welche vertriebenen Irakern ein
Rückkehrrecht gewährte, das auch die irakischen Juden einschließt,
mutmaßten islamistische und nationalistische Kreise ein
kurdisch-jüdisches Komplott, um sich den Irak anzueignen. Auf dem
Höhepunkt der Antikriegsbewegung vor Beginn des Irakkrieges, die
auch in der Türkei stark antiisraelisch gefärbt war, erschien die
Hürriyet (auflagenstärkste Zeitung der Türkei) am 18. Februar 2003
mit dem Aufmacher, die Barzanis seien Juden (1).
Im Verlaufe des vergangenen Jahres sind mindestens drei Bücher zum
Thema "kurdisch-jüdische" Komplotte erschienen, die Rekordauflagen
erlebten.
Bereits seit einigen Jahren behauptet der oben
erwähnte Yalcin Kücük, dessen Theorien in der isla-mistischen Presse
begeistert aufgenommen werden, auch das als "GAP" (2)
bezeichnete gigantische Entwicklungsprojekt der türkischen Regierung
(!) sei Teil jüdischer Pläne, den Nahen und Mittleren Osten "vom Nil
bis zum Euphrat" zu beherrschen. Als "Beleg" dient ein Vers aus der
Genesis (Gott habe den Söhnen Abrahams das Land vom Nil bis zum
Euphrat versprochen). Beim GAP handelt es sich um ein in den 70er
Jahren begonnenes gigantisches Projekt, das mehr als zwanzig
Staudämme und Bewässerungsanlagen in den mehrheitlich kurdisch
bewohnten Gebieten umfasst.
Die kurdische Bewegung ihrerseits machte
(vermeintliche) Juden für die repressive Kurdenpolitik der Türkei
verantwortlich. In einer Broschüre zur Frage der Religion hatte der
PKK-Vorsitzende Öcalan bereits Ende der 80er Jahre das Judentum als
eines der Grundübel bezeichnet. Mitte der 90er Jahre trat die
PKK-nahe Presse mit einer Reihe antisemitischer Hetzartikel hervor.
Noch im August 1999 schrieb der Vorsitzende des kurdischen PEN,
Haydar Isik, unter Verweis auf die Abstammung des damaligen
türkischen Außenministers Ismail Cems aus einer Dönme-Familie: "Auch
die Außenministerin der USA Frau Albright ist jüdischer Abstammung,
viele der Politiker, die in der Clintonregierung etwas zu sagen
haben, sind Juden, und über den deutschen Außenminister Joschka
Fischer wird gesagt, er sei Jude. (...) den Rest kann man sich
denken".
Antisemitismus wird geleugnet
Die konsequente Leugnung des Antisemitismus in der
Türkei ist ebenso alarmierend wie seine Verbreitung selbst, da das
Problem nicht wahrgenommen und folglich auch nicht bekämpft wird.
Nur selten kommt es zu Verboten oder Beschlagnahmungen von
Druckerzeugnissen wegen antisemitischen Inhalten. Zwar verbieten das
türkische Strafrecht und die Verfassung Äußerungen und Schriften,
die "zum Hass einer Bevölkerungsgruppe gegen die andere
aufstacheln", diese Paragraphen werden jedoch fast ausschließlich
zum Verbot von Publikationen benutzt, die sich gegen die
Diskriminierung von Kurden, Aleviten oder anderen Minderheiten
einsetzen und deren Rechte einfordern.
Türkische Politiker – auch Vertreter der
islamischen Parteien – betonen stets, die Türkei sei "ihren Juden
gegenüber freundlich gesinnt", antijüdische Stimmen gäbe es schlicht
nicht. Dabei ist das Schweigen mancher Seite durchaus erklärlich:
Premier Erdogan, der noch 1997 als Bürgermeister von Istanbul die
Massen agitierte und behauptete, "heute ist das Image der Juden
nicht anders als das der Nazis", möchte heute weder sein
"geläutertes" Image verlieren noch seine Wählerschaft vor den Kopf
stoßen.
Mit wenigen Ausnahmen wird dieses
Problem von Linken und Demokraten einfach "übersehen". "Gemäßigte"
islamische Intellektuelle sind seit den Diskussionen um die "Zweite
Republik" beliebte Diskussionspartner linker Intellektueller.
Zeitschriften wie "Zaman" gelten als "seriös", die Tatsache, dass
auch dort beinahe täglich antisemitische Klischees verbreitet
werden, fällt niemandem auf.
Israel vermeidet es, den wichtigsten
militärischen Verbündeten in der Region zu brüskieren. Und die
kleine jüdische Gemeinde der Türkei, die mittlerweile auf 22.000
Seelen geschrumpft ist, zieht es verständlicherweise vor, keinen
Anstoß zu erregen.
Warum sich allerdings auch die hiesige Presse,
Politiker und sogar Institute, die Antisemitismus untersuchen,
gegenüber der Türkei blind stellen, ist nicht zu erklären. (Noch
1994 bezeichnete der vom Londoner Institute of Jewish Affairs
herausgegebene "Antisemitism World Report" die Türkei als einen der
Staaten weltweit, in dem der Antisemitismus besonders bedrohlich
sei. Für die letzten Jahre fällt der Bericht sehr gemäßigt aus.)
Befürchtungen, Berichte über das Ausmaß
antisemitischer Tendenzen in der Türkei arbeite dem "Feindbild
Islam" in die Hände und unterstütze türkeifeindliche Stimmungen in
der Bevölkerung, sind unbegründet, da der Antisemitismus eben kein
speziell islamisches Problem ist. Bei zahlreichen antisemitischen
Pamphleten, die in der Türkei zirkulieren, handelt es sich um
Übersetzungen europäischer Schriften.
"Hoffentlich war es keiner unserer Leute":
Die Anschläge auf
die Synagogen in Istanbul und die Rolle von Staat und Hizbullah
Anmerkungen:
(1) Mesut Barzani ist Vorsitzender der kurdischen KDP. Während der
70er Jahre hatte die Bewegung unter Führung seines Vaters Molla
Mustafa Barzani Unterstützung aus Israel erhalten. Ein kleiner Zweig
des mehrere Zehntausend Mitglieder umfassenden Barzani-Stammes sind
Juden.
(2) Die kurdischen Gebiete werden im offiziellen Türkischen
Sprachgebrauch als "Süd- oder Südost-Antaolien" bezeichnet,
"Güney-Anadolu", daher der Name GAP.
hagalil.com
18-05-2004
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