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"Hoffentlich war es keiner unserer Leute":
Die Anschläge auf die Synagogen in Istanbul und die Rolle von Staat und Hizbullah

Von Corry Görgü

57 Menschen fielen den vier Terroranschlägen zum Opfer, die am 15. November 2003 auf die beiden Synagogen "Neve Shalom" und Beth Israel" und am 20. November auf das britische Konsulat und die HSBC-Bank in Istanbul verübt wurden; insgesamt 750 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt.

Der Schreck darüber, dass diese Anschläge quasi "vor der Haustür Europas" stattfanden mischten sich in den Analysen der meisten hiesigen Zeitungen mit erstauntem Entsetzen darüber, dass die Täter aus der Türkei stammten. Letztlich jedoch wurde "Al Qaeda" als Verantwortlich für diese Terrorakte identifiziert, verbunden mit der Hoffnung, die "gemäßigten Islamisten" der AKP-Regierung würden ihren Reformeifer fortsetzen und die "laizistischen Militärs" – als "Garant der Reformen Atatürks" - den Einfluss des Islam zurückdrängen. Die Ereignisse der vergangenen 30 Jahre, der Aufbau faschistischer und später islamistischer Milizen durch den türkischen Staat, die Pogrome und Massaker dieser Jahre und die Rolle des Staates dabei, scheint dem politische Kurzzeitgedächtnis zum Opfer gefallen. Vor allem in einem waren sich Kommentatoren von links bis rechts erstaunlich einig: Antisemitismus in der Türkei gab und gibt es nicht.

Innenminister Aksu : Wir waren's nicht!

"Hoffentlich war es keiner unserer Leute" war die erste Stellungnahme des türkischen Innenministers Abüdlkadir Aksu, noch am Tag der Anschläge auf die Istanbuler Synagogen. Erleichtert verwies er darauf, dass neben der IBDA-C, einer islamistischen Terrorgruppe der Türkei, auch Al Qaeda den Anschlag für sich reklamiert habe. Obwohl die Selbstmordattentäter (aller vier Anschläge) innerhalb kurzer Zeit identifiziert werden konnten und es sich bei ihnen, wie weiteren Festgenommenen, um türkische Staatsangehörige handelt, weigerte sich die türkische Regierung fast 15 Tage lang, den islamistischen Hintergrund der Täter auszusprechen.

Den wenigsten allerdings dürfte der tiefere Sinn von Aksus Worten aufgegangen sein: zumindest bei den vier Selbstmordattentätern, die alle aus der kurdischen Stadt Bingöl stammten, handelt es sich um ehemalige Anhänger der Hizbullah, und damit im engsten Sinne um "unsere" – Aksus - Leute.

Die Hizbullah der Türkei, nicht zu verwechseln mit der libanesisch-iranischen Hizbullah, organisierte sich Anfang der 90er Jahre unter dem direkten Schutz des heutigen Innenministers, der als Angehöriger des islamistischen Flügels der ANAP (unter dem ach so liberalen Turgut Özal) zunächst Polizeichef, dann bereits einmal (1991/92) Innenminister war. Entstanden war sie aus einem Kreis radikaler Islamisten, vor allem kurdischen Anhängern der iranischen "Revolution" (1) und kleinen islamistischen Terrorzellen, die während der 80er Jahre namhafte liberale Intellektuelle, so den Vorsitzenden der Anwaltskammer, Muammer Aksoy, ermordeten.

Als die kurdische Bewegung unter Führung der PKK Anfang der 90er Jahre zu einer Massenbewegung anschwoll, entdeckte der Staat die Nützlichkeit der Hizbullah. Unter dem Schutz der offiziellen Staatsorgane entwickelte sich die Hizbullah zu einer 20.000 Mann starken Killertruppe, die in den Jahren 1991 – 1994 in den kurdischen Gebieten über Tausend Menschen, vor allem kritische Intellektuelle, Journalisten, Gewerkschafter, Menschenrechtsaktivisten und Politiker liquidierten. Da die Hizbullah eng mit anderen paramilitärischen Einheiten der türkischen Sicherheitskräfte (der Kontraguerilla) verbunden waren, wurden sie kritisch als "Hizb-i-Kontra" bezeichnet. Bereits seit 1991 deckten engagierte Zeitschriften (2) auf, dass diese Mordbanden als Trainingscamps die Kasernen der türkischen Sicherheitskräfte in Diyarbakir, Batman und Nusaybin nutzten, oberster Dienstherr damals: Abdülkadir Aksu.

In Silvan, war es ein Beamter namens "Ramazan", der – angeblich als "Lehrer" in die Stadt versetzt - die Rekrutierung der Hizbullah vorantrieb, bis allein in dieser Stadt täglich 4-5 Menschen von der "Hizbullah" niedergemetzelt wurden, und die Kreisstadt komplett beherrscht war: in umliegenden Dörfern wurden unterirdische Gefängnisse und Folterverließe angelegt, die gewählte Stadtverwaltung vertrieben, ein Großteil der Bewohner aus der Stadt gejagt. Ziel: der kurdischen Bewegung das Rückgrat zu brechen und die kritische Intelligenz einer ganzen Region zu liquidieren oder ganz einfach liberal denkende Menschen einzuschüchtern. So zählte es zur perversen Spezialität der Gruppe in Bingöl, jungen Frauen, die sich zu "freizügig" benahmen, das Gesicht mit Säure zu verätzen!

Erst als die kurdische PKK nach der Entführung und Verurteilung ihres Parteichefs Abdullah Öcalan 1999 den bewaffneten Kampf einstellte, und die Hizbullah ihren Aktionsradius auch in den Westen der Türkei ausdehnte, holte der Staat im Jahr 2000 zum Schlag gegen die Hizbullah aus und verhaftete bzw. erschoss Hunderte ihrer Kader. Unbemerkt von der europäischen Öffentlichkeit wurden im Rahmen der sogenannten Teilamnestie vom vergangenen Jahr, einem der "Reformpakete" der AKP-Regierung um die Aufnahme in die EU zu erreichen, nicht nur Mitglieder der kurdischen Bewegung, einige linke Journalisten und Politiker sondern auch Hunderte verurteilte Mitglieder von Hizbullah und MHP (der faschistischen Partei) aus den Gefängnissen entlassen.

Terror als bewährtes Mittel staatlicher Politik

Die Urheberschaft auf religiös motivierten Terror in der jüngeren Geschichte der Türkei gehört dabei weder der Al-Qaeda noch den türkischen Islamisten, sondern dem Militär, genauer, dem "Büro für spezielle Kriegsführung", das wiederum eng mit "entsprechenden" US-Stellen zusammenarbeitete und an deren militärischen Anweisungen für "counter-insurgency" umsetzten. (3)

Um die seit Mitte der 70er Jahre erstarkende linke Bewegung, die unter den Binnenmigranten in den ärmlichen Randgebieten der Großstädte und der Landbevölkerung, in Kurdistan aber auch in linken Gewerkschaften rasch an Masseneinfluss gewannen, zu zerschlagen, dienten die Faschisten (Grauen Wölfe) der MHP. Im Dezember 1978, vor genau 25 Jahren, wurde in der Stadt Kahramanmarasch, deren Bevölkerung ethnisch wie religiös geteilt ist, (Kurden, Türken, Aleviten, Sunniten) durch eine organisierte Provokation (4) ein Pogrom (gegen die alevitische Bevölkerung) ausgelöst, das mehr als Hundert Todesopfer und fast Tausend Verletzte fordert. Während die Opfer bis heute mit den Folgen (Verstümmelungen, Unfruchtbarkeit, Stummheit usw.) leben müssen, zog einer der Haupttäter (Ökkes Kenger) als Abgeordneter (der MHP, später wechselte er zur ANAP) ins Parlament. Das Pogrom diente den Militärs als Vorwand, in 13 Provinzen das Kriegsrecht auszurufen und dort mit Notverordnungen zu regieren.

Hunderte, kritischer engagierter Persönlichkeiten, Journalisten und Gewerkschaften fielen damals dem Terror der MHP zum Opfer. Diese Verbrechen erfuhren niemals eine wirkliche (politische wie juristische) Aufarbeitung, wenn die Täter überhaupt ermittelt wurden, konnten sie durchweg auf gnädige Richtern rechnen wurden frühzeitig entlassen und sitzen heute im Parlament oder als angesehen Journalisten in den Talk-Shows.

Dies gilt gleichermaßen für die nationalistische Variante des Terrors (der MHP) wie für die islamistischen Gruppen, da beide Strömungen verfeindet und "Konkurrenten" sind, aber über eine jeweils eigene starke Lobby im Staatsapparat verfügen!

Islam als Kampfideologie der Militärs

Ausgerechnet die Militärs, die heute als "Garanten des Laizismus und der Reformen Atatürks" auftreten, bedienten sich nach dem Militärputsch von 1980 der islamischen Ideologie als "Gegengift zum Marxismus". Stündlich strahlte die gleichgeschalteten Bildschirme des türkischen Staatsfernsehens Koransuren aus, um die "sozialistische verblendete Jugend auf den rechten Pfad zurückzuführen". In den Schulen und Universitäten wurde der (islamische) Religionsunterricht zum Pflichtfach, an Universitäten für Studenten aller Fachbereiche eine "Reifeprüfung" obligatorisch, die eine reaktionäre Auslegung des Islam und türkischen Nationalismus zur Voraussetzung des Diploms machte. Religionsschulen (Imam-Hatip-Schulen) als bevorzugtes Rekrutierungsfeld radikal-islamischer Organisationen schossen wie Pilze aus dem Boden, und an den Universitäten entstanden unter Führung ausgesuchter Professoren islamistische Zellen. An jeder Straßenecke und jedem entlegenen Dorf wurden Moscheen gebaut.

Organisierung im Staatsapparat

Inhaltliche Grundlage dieser "Islamisierungspolitik von oben" war nicht allein die religiöse Lehre des Islam sondern die "türkisch-islamische Synthese", ein Amalgam türkisch-nationalistisch und islamischer Ideologie, welche politisch einem Bündnis der drei großen rechten Parteien (faschistsiche MHP, rechts-konservative AP und der islamischen MSP (5)) entsprach. Diese hatten bereits während der 70er Jahre zweimal Regierungen der "nationalistischen Front" gebildet . Nachdem die Parteien der 70er Jahre durch den Militärputsch verboten und aufgelöst waren, vereinte der spätere Regierungs- und Staatschef Turgut Özal diese drei Strömungen in seiner Mutterlandspartei ANAP, wobei das Bündnis der faschistischen und islamistischen Strömung als "heilige Allianz" bezeichnet wurde.

Während Özals Regierungszeit (6) gelang es – wiederum federführend Innenminister Aksu – Tausende von Islamisten im Sicherheitsapparat unterzubringen, die ihrerseits bei Aktionen ihrer Glaubensbrüder ein Auge zudrückten, sie wieder laufen ließen etc. Bei allen ideologischen Unterschieden zwischen den reaktionär-islamischen und faschistischen Parteien (und deren jeweiligen militanten Gruppen) , die wiederholt auch zu militanten Auseinandersetzungen führten, sind die Übergänge zwischen den Strömungen fließend, Partei- und Organisationswechsel häufig, Zeitungen, wie die Türkiye (in Deutschland zweitgrößte türkische Zeitung!) die beide Strömungen bedienen, bilden ein Bindeglied. An den Pogromen (wie K-Maras und Sivas) war jeweils die Basis beider Strömungen beteiligt, die nicht klar voneinander zu trennen ist.

Auch die jetzige AKP-Regierung, die die Wahlen vor einem Jahr haushoch gewann, stützt sich bei aller liberalen Rhetorik auf eine Wählerschaft, die all diese Strömungen einschließt, jene brisante Mischung aus türkisch-nationalistischen und reaktionär-islamischen Vorstellungen durchsetzt mit wilden Verschwörungstheorien.

Islamistische Gewalt

Auch wenn die Täter – wie von einem der Festgenommen ausgesagt, im Auftrag von Al Qaeda handelten und in ihren Lagern ausgebildet wurden, ist es naiv anzunehmen, die Islamisten der Türkei hätten einer Anleitung durch Al Qaeda bedurft, um ihre perversen Gedanken zu formulieren: Seit über zehn Jahren predigt z.B. die IBDA-C (7) in ihrer Zeitschrift "taraf" den Kampf gegen die "jüdisch-christlichen-westlichen Besatzer".

Im August 1993, direkt nach dem blutigen Pogrom von Sivas, dem 37 Menschen zum Opfer fielen, die bei lebendigem Leibe in einem Hotel verbrannten, während eine johlende Menge vor Begeisterung jubelt und klatscht (8), titelt die Zeitschrift "taraf" der Gruppe IBDA-C mit einem Bild des brennenden Hotels in das eine ebenfalls brennende US-Flagge hineinmontiert ist; Überschrift: "Die Stimme die sich aus Sivas erhebt: Besatzer raus" und "die Türkei wird dem Westen zum Grab werden". Neben Lobhudeleien auf den "Volksaufstand" von Sivas, enthält die Zeitschrift antisemitische Hetzartikel, Solidaritätsaufrufe für inhaftierte islamistische Terroristen (auch zwei der Täter, die beim Anzünden des Hotels selbst mit verbrannten werden als "Märtyrer" gefeiert).

Die Zeitschrift, die zwar immer mal wieder verboten wurde, war in der Türkei jahrelang problemlos zu erhalten. Im Impressum sind Kontaktadresse, zahlreiche Namen (auch der des Rechtsbeistandes) offen angegeben, gedruckt wurde sie bei "Yeni Asya" einem Riesenverlagshaus, in dem zahlreiche auflagenstarke Zeitungen der radikalen wie "gemäßigten" Islamisten erscheinen...

Die Ausgabe der taraf vom 1.10. 1993 zeigt auf der Titelseite als "gottlose Volksfeinde Besatzer" neben den Fotos von Koc und Sabanci (Besitzer der beiden größten Konzerne der Türkei) die von Ishak Alaton und Üzeyir Garih, zwei bekannten jüdischen Geschäftsleuten. Üzeyir Garih fiel vor zwei Jahren einem Mordanschlag zum Opfer (der bislang nicht aufgeklärt wurde).

Am 30.12. 1994 hatte die IBDA-C einen Bombenanschlag auf ein Cafe in Istanbul verübt, welches als Intellektuellentreffpunkt bekannt war. Der Filmkritiker Onar Kutlar und die Archäologin Ayse Cebenoyan, die aus einer jüdischen Familie stammte, wurden getötet. Im damaligen Bekennerschreiben verkündete die IBDA-C, sie werde weitere jüdischen Intellektuellen töten. Die IBDA-C wurde zwar ebenfalls durch Polizeiaktionen vor einigen Jahren weitgehend zerschlagen, ihre antisemitische menschenfeindliche Ideologie war jedoch niemals Thema. Dem Staat ging es allein um die Durchsetzung seines Machtmonopols.

Türkische Glaubenskrieger in Bosnien, Tschetschenien und an anderen Fronten

Eine weitere Augenwischerei ist das geheuchelte Erstaunen über die jüngsten "Enthüllungen" des türkischen Geheimdienstes, "mehr als Tausend" militanter Islamisten aus der Türkei hätten in den vergangenen Jahren an den verschiedenen Fronten und Bürgerkriegen im Balkan, Kaukasus und Mittleren Osten eine militärische Ausbildung genossen und gekämpft. Spätestens seit dem Bosnienkrieg ziehen unter dem Jubel der gesamten rechten und staatstragenden Presse türkischen Presse von islamistisch (Yeni Asir, Yeni Safak, Türkiye) bis nationalistisch (Hürriyet) Kämpfer gegen Serben, Kommunisten und Russen an die verschiedenen Fronten und berichten begeistert darüber. Adressen von Solidaritätskomitees für unsere "Volksgenossen" in Tschetschenien (9), die auch als Kontaktstellen fungieren, erschienen in diesen Zeitungen fast täglich. (Die Wand eines dieser Vereine schmückte ein großes Portait des damaligen, für seine Brutalität im Kurdistankrieg bekannten Generalstabchefs Dogan Güres (10), der später als Abgeordneter der DYP ins Parlament einzog.)

Die "Türkiye", politisch zwischen der faschistischen MHP und rechtsislamistischen Strömungen angesiedelt, (die in der BRD an jedem Kiosk verkauft wird und über beachtlichen Einfluss verfügt) titelte während des Höhepunkts des Bosnienkrieges mit dem begeisterten Bericht eines ihrer Reporter, der die türkischen Kämpfer in Bosnien begleiten durfte unter mit Balkenüberschrift: "Auch ich habe einen Serben erschossen" (mit Foto in Kampfmontur). Dies hat damals – außer einem kritischen Journalisten der "Özgür Gündem" – niemandem missfallen; auch die türkische Linke war in das Geheul gegen den "serbischen Terror" eingestimmt. Filmberichte angesehener Reporter – ebenfalls "eingebettet" in türkische Freiwilligenverbände liefen im Fernsehen zur besten Sendezeit.

Auch die "Hürriyet" , die als Sprachrohr der kemalistischen Militärs nicht müde wird, vor der "islamistischen Gefahr" zu warnen, lobte den Kampfgeist türkischer Freiwilliger in Tschetschenien und anderswo. Die türkischen Glaubenskrieger waren bis heute kein Thema kritischer Recherchen; weder die türkische Friedensbewegung, die im Frühjahr vergangenen Jahres Hunderttausende gegen den Irakkrieg auf die Straße brachte (mit Postern von Bush und Sharon), noch die Menschenrechtsvereine haben dieses Thema jemals auch nur thematisiert.

Dabei ist die Türkei nie davor zurückgeschreckt, islamistische Gruppen im Ausland zu unterstützen, wenn es ihren Zielen nützte. So unterstützte die Türkei im Nordirak zeitweilig die islamistische "Hareket-i Islamiye Kürdistan" (11), um dadurch die "großen kurdischen Parteien (PUK und KDP) unter Druck zu setzen. Vermittler war die Refah Partisi (die Vorläuferpartei der heutigen Regierungspartei AKP).

Verschwörungstheorien als Allgemeingut

Die Reaktionen in der Türkei auf die Anschläge zeigen die Dimension der Katastrophe: Zwar verurteilten alle türkischen Tageszeitungen die Terrorakte, Tenor der islamischen und radikal-islamischen Kommentare war jedoch Mutmaßungen, dass es sich bei den Täter nicht um Muslime gehandelt haben könne. Nutznießer der Anschläge seinen die USA und Israel, folglich seien hier die Täter zu suchen. In der einflussreichen (der Regierung nahe stehenden) Zeitung "yeni safak" (neue Morgendämmerung ) vom 22.11.2003 fragte der Chefredakteur Ahmet Tasgetiren in einem offenen Brief an al-Qaeda: "Über wen muss dieser Brief weitergeleitet werden, um dich zu erreichen? Über den MOSSAD? oder über die CIA? (...) Gehört es zur Hauptpolitik von El-Qaeda die Türkei anzugreifen, deren Bevölkerung mehrheitlich fastet und euch [dadurch] sogar den Hass der reinsten Muslime zuzuziehen? (...) Ey, Al-Qaeda, du beschmutzt den Islam, (...)das geht es zu weit."

Trauermärsche , zu denen in verschiedenen Städten Bündnisse von Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen und linken Gruppen aufgerufen hatten, erschienen trotz breiter Bündnisse jeweils nur einige Tausend Menschen, überwiegend aus dem "üblichen" linken Spektrum. Doch auch hier dominierten Verschwörungstheorien das Bild. "Wir kennen die Schuldigen" stand auf einem Riesentransparent, das neben den Köpfen von Bush und Blair auch den von Sharon zeigte.

Die Fixierung auf klare umrissene Feindbilder und ihr eignes Faible für Verschwörungstheorien hat die Linke der Türkei die – unterschiedlichen - islamistischen Strömungen in der Türkei kaum wirklich ernst nehmen lassen. Deren menschenfeindliche Ideologie wurde selten inhaltlich analysiert. Die Hizbullah in Kurdistan , aber auch der mordende Mob in Kahramanmarsch und anderen Städten wurden einzig als Produkt der staatlichen "Kontraguerilla" betrachtet, das gefährliche Potential, das in der Massenwirksamkeit ihrer Ideologie lag, wurde nicht einmal analysiert. Die IBDA-C, konnte 1994 sogar Solidaritätsadressen als Anzeigen in der prokurdischen "Özgür Gündem" plazieren, ihre Hungerstreiks und im Gefängnis wurden von manchen als "Widerstandsaktionen" gegen die Staatsmacht betrachtet. Während die meisten sich nie die Mühe machten, einen Blick auf die Inhalte dieser Machwerke zu verschwenden, betrachteten andere die IBDA-C eher als eine Konkurrenz von der "falschen Seite", denn nicht wenige Merkmale ihrer Ideologie – Verherrlichung von Militanz, Verschwörungstheorien und Antisemitismus, waren auch in linken (Splitter)-gruppen weit verbreitet.

Die Anschläge vom November sind abscheulich und erschreckend. Neu für die Türkei ist allerdings allein die Art der Ausführung (als Selbstmordanschläge) und die organisatorische Verbindung der Täter zur Al-Qaeda. Die antisemitische und "antiwestliche" Zielsetzung ist keineswegs neu, allein gegen die Neve-Shalom Synagoge wurde bereits zweimal blutige Anschläge verübt.

Der Nährboden auf dem islamistische Terrorgruppen in der Türkei ein Rekrutierungsfeld finden ist dabei nicht allein "der Islamismus", wie westliche Kommentatoren gerne glauben möchten. Die Geschichte der türkischen Republik - angefangen vom Völkermord an den Armeniern (1915 und 1919, also vor Gründung der Republik) die Vertreibung der Griechen 1923 und 1955, die Niederschlagung der Kurden während er 20er, 30er 80er und 90er Jahre, Pogrome an Aleviten und mehrfacher Niederschlagung linker Bewegungen bis hin zur physischen Liquidierung haben eine traumatisierte und verrohte Gesellschaft hinterlassen.

Zumal diese Ereignisse bis heute nicht ansatzweise aufgearbeitet wurde, sondern die Opfer (Armenier, Griechen, Kurden, Aleviten, Minderheiten generell und Kommunisten) in der offiziellen Ideologie sowie in der breiten Mehrheitsmeinung bis heute als Schuldige und Verräter gelten und die Volksseele jederzeit gegen diese Feindbilder zu mobilisierbar ist.

Betont werden muss, dass "der Westen" diese Politik in der Regel unterstützt hat und als "kemalistische Reformpolitik" begrüßt oder schlicht nicht wahrgenommen hat. So bietet die Doppelzüngigkeit einer Politik, die der Türkei erst die Waffen und das "know-how" zur Niederschlagung der Kurden liefert, die damit begangenen Menschenrechtsverletzungen dann aber als Argument benutzt, um der türkischen Bevölkerung ein anderes Menschenrecht (das auf Freizügigkeit in der EU) vorzuenthalten, willkommenen Stoff für ein diffuses, paranoides Weltbild, dass die Türkei als "von Feinden umzingelt" sieht.

Die Tatsache, dass der Vater zweier der Täter, vor 15 Jahre selbst wegen seines Engagements als linker Kurde von der (faschistischen) MHP ermordet wurde, und seine Kinder dann in die Fänge der Islamisten gerieten, macht die Täter keineswegs zu Opfern, ist aber Ausdruck einer von Gewalt und Terror gezeichneten Gesellschaft.

Türkei nutzt OSZE-Konferenz zur Selbstdarstellung:
Die Türkei ist frei von Antisemitismus - oder: Der Mond ist eine Scheibe

Anmerkungen:
(1) Ein Teil dieser Strömung wurde logistisch wie personell  vom Iran unterstützt, an mehreren Anschlägen der 90er Jahre waren iranische Staatsangehörige beteiligt.
(2) "gercek", "2000'e dogru" und "Yeni Gündem", mehrere der Journalisten mussten diese Enthüllungen mit dem Leben bezahlen!!
(3) Auch wenn dies nach Verschwörungstheorie riecht, es sind Fakten.
(4) In einem Kino wurde vor der Vorführung eines MHP-Propagandafilmes  ein Sprengsatz plaziert, der rechtzeitig "entdeckt" wurde, so dass niemand zu schaden kam. Die Tat wurde "den Kommunisten" angekreidet und so das Pogrom ausgelöst. Die Täter: MHPler, die eng mit den staatlichen Sicherheitsorganen verzahnt arbeiteten und ein gewaltbereiter Mob von Faschisten und Islamisten.
(5) Dies sind die Parteinamen der 70er Jahre. Nach dem Verbot durch den Putsch von 1980 gründeten sie sich 1985 unter veränderten Namen erneut, nach weiteren Verboten, Spaltungen und Namensänderungen entsprechen diese den heutigen Parteien, MHP, DYP und AKP.
(6) In der kurdischen Bewegung (und unter ihren deutschen Apologeten) geht die Amnesie leider so weit, daß Özal heute als Wegbereiter einer liberaleren Türkei angesehen wird (siehe z.B. die entsprechenden Veröffentlichungen des "Dialogkreises".
(7) Vorläufer der islamistischen Terrororganisation IBDA-C entstanden bereits Ende der  60er als militanter Arm der damaligen MSP. Bewusst  verwendet die IBDA-C auch Symbole und Slogans militanter linker Organisationen der 70er Jahre. Schon ihr Name erscheint als "islamische Version" der linken "THPK-C" In einer Ausgabe ihrer Zeitschrift von 1993 wird lobend erwähnt, einer der ersten Anschläge der THKP-C sei die Ermordung des israelischen Sicherheitsbeamten Efraim Elrom gewesen.
(8) Siehe z.B. ak Nr.374 und Ausgabe vom Juli  2003
(9) die nebenbei weder sprachlich noch sonst in einer Form mit den Türken verwandt sind, in der Türkei lebt allerdings eine Ende des 19. Jahrhunderts eingewanderte tschetschenische Minderheit.
(10)
Dogan Güres ist selbst tschetschenischer Abstammung
(11) Bericht in NOKTA vom 12. März 1995

hagalil.com 19-05-2004


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