"Hoffentlich war es keiner unserer Leute":
Die Anschläge auf die Synagogen in Istanbul
und die Rolle von Staat und Hizbullah
Von Corry Görgü
57 Menschen fielen den vier Terroranschlägen
zum Opfer, die am 15. November 2003 auf die beiden Synagogen "Neve
Shalom" und Beth Israel" und am 20. November auf das britische
Konsulat und die HSBC-Bank in Istanbul verübt wurden; insgesamt 750
Menschen wurden zum Teil schwer verletzt.
Der Schreck darüber, dass diese Anschläge quasi
"vor der Haustür Europas" stattfanden mischten sich in den Analysen
der meisten hiesigen Zeitungen mit erstauntem Entsetzen darüber,
dass die Täter aus der Türkei stammten. Letztlich jedoch wurde "Al
Qaeda" als Verantwortlich für diese Terrorakte identifiziert,
verbunden mit der Hoffnung, die "gemäßigten Islamisten" der
AKP-Regierung würden ihren Reformeifer fortsetzen und die
"laizistischen Militärs" – als "Garant der Reformen Atatürks" - den
Einfluss des Islam zurückdrängen. Die Ereignisse der vergangenen 30
Jahre, der Aufbau faschistischer und später islamistischer Milizen
durch den türkischen Staat, die Pogrome und Massaker dieser Jahre
und die Rolle des Staates dabei, scheint dem politische
Kurzzeitgedächtnis zum Opfer gefallen. Vor allem in einem waren sich
Kommentatoren von links bis rechts erstaunlich einig: Antisemitismus
in der Türkei gab und gibt es nicht.
Innenminister Aksu : Wir waren's nicht!
"Hoffentlich war es keiner unserer Leute" war die
erste Stellungnahme des türkischen Innenministers Abüdlkadir Aksu,
noch am Tag der Anschläge auf die Istanbuler Synagogen. Erleichtert
verwies er darauf, dass neben der IBDA-C, einer islamistischen
Terrorgruppe der Türkei, auch Al Qaeda den Anschlag für sich
reklamiert habe. Obwohl die Selbstmordattentäter (aller vier
Anschläge) innerhalb kurzer Zeit identifiziert werden konnten und es
sich bei ihnen, wie weiteren Festgenommenen, um türkische
Staatsangehörige handelt, weigerte sich die türkische Regierung fast
15 Tage lang, den islamistischen Hintergrund der Täter
auszusprechen.
Den wenigsten allerdings dürfte der tiefere Sinn
von Aksus Worten aufgegangen sein: zumindest bei den vier
Selbstmordattentätern, die alle aus der kurdischen Stadt Bingöl
stammten, handelt es sich um ehemalige Anhänger der Hizbullah, und
damit im engsten Sinne um "unsere" – Aksus - Leute.
Die Hizbullah der Türkei, nicht zu verwechseln mit
der libanesisch-iranischen Hizbullah, organisierte sich Anfang der
90er Jahre unter dem direkten Schutz des heutigen Innenministers,
der als Angehöriger des islamistischen Flügels der ANAP (unter dem
ach so liberalen Turgut Özal) zunächst Polizeichef, dann bereits
einmal (1991/92) Innenminister war. Entstanden war sie aus einem
Kreis radikaler Islamisten, vor allem kurdischen Anhängern der
iranischen "Revolution" (1) und
kleinen islamistischen Terrorzellen, die während der 80er Jahre
namhafte liberale Intellektuelle, so den Vorsitzenden der
Anwaltskammer, Muammer Aksoy, ermordeten.
Als die kurdische Bewegung unter Führung der PKK
Anfang der 90er Jahre zu einer Massenbewegung anschwoll, entdeckte
der Staat die Nützlichkeit der Hizbullah. Unter dem Schutz der
offiziellen Staatsorgane entwickelte sich die Hizbullah zu einer
20.000 Mann starken Killertruppe, die in den Jahren 1991 – 1994 in
den kurdischen Gebieten über Tausend Menschen, vor allem kritische
Intellektuelle, Journalisten, Gewerkschafter,
Menschenrechtsaktivisten und Politiker liquidierten. Da die
Hizbullah eng mit anderen paramilitärischen Einheiten der türkischen
Sicherheitskräfte (der Kontraguerilla) verbunden waren, wurden sie
kritisch als "Hizb-i-Kontra" bezeichnet. Bereits seit 1991 deckten
engagierte Zeitschriften (2) auf,
dass diese Mordbanden als Trainingscamps die Kasernen der türkischen
Sicherheitskräfte in Diyarbakir, Batman und Nusaybin nutzten,
oberster Dienstherr damals: Abdülkadir Aksu.
In Silvan, war es ein Beamter namens "Ramazan",
der – angeblich als "Lehrer" in die Stadt versetzt - die
Rekrutierung der Hizbullah vorantrieb, bis allein in dieser Stadt
täglich 4-5 Menschen von der "Hizbullah" niedergemetzelt wurden, und
die Kreisstadt komplett beherrscht war: in umliegenden Dörfern
wurden unterirdische Gefängnisse und Folterverließe angelegt, die
gewählte Stadtverwaltung vertrieben, ein Großteil der Bewohner aus
der Stadt gejagt. Ziel: der kurdischen Bewegung das Rückgrat zu
brechen und die kritische Intelligenz einer ganzen Region zu
liquidieren oder ganz einfach liberal denkende Menschen
einzuschüchtern. So zählte es zur perversen Spezialität der Gruppe
in Bingöl, jungen Frauen, die sich zu "freizügig" benahmen, das
Gesicht mit Säure zu verätzen!
Erst als die kurdische PKK nach der Entführung und
Verurteilung ihres Parteichefs Abdullah Öcalan 1999 den bewaffneten
Kampf einstellte, und die Hizbullah ihren Aktionsradius auch in den
Westen der Türkei ausdehnte, holte der Staat im Jahr 2000 zum Schlag
gegen die Hizbullah aus und verhaftete bzw. erschoss Hunderte ihrer
Kader. Unbemerkt von der europäischen Öffentlichkeit wurden im
Rahmen der sogenannten Teilamnestie vom vergangenen Jahr, einem der
"Reformpakete" der AKP-Regierung um die Aufnahme in die EU zu
erreichen, nicht nur Mitglieder der kurdischen Bewegung, einige
linke Journalisten und Politiker sondern auch Hunderte verurteilte
Mitglieder von Hizbullah und MHP (der faschistischen Partei) aus den
Gefängnissen entlassen.
Terror als bewährtes Mittel staatlicher Politik
Die Urheberschaft auf religiös motivierten Terror
in der jüngeren Geschichte der Türkei gehört dabei weder der
Al-Qaeda noch den türkischen Islamisten, sondern dem Militär,
genauer, dem "Büro für spezielle Kriegsführung", das wiederum eng
mit "entsprechenden" US-Stellen zusammenarbeitete und an deren
militärischen Anweisungen für "counter-insurgency" umsetzten. (3)
Um die seit Mitte der 70er Jahre erstarkende linke
Bewegung, die unter den Binnenmigranten in den ärmlichen
Randgebieten der Großstädte und der Landbevölkerung, in Kurdistan
aber auch in linken Gewerkschaften rasch an Masseneinfluss gewannen,
zu zerschlagen, dienten die Faschisten (Grauen Wölfe) der MHP. Im
Dezember 1978, vor genau 25 Jahren, wurde in der Stadt
Kahramanmarasch, deren Bevölkerung ethnisch wie religiös geteilt
ist, (Kurden, Türken, Aleviten, Sunniten) durch eine organisierte
Provokation (4) ein Pogrom (gegen
die alevitische Bevölkerung) ausgelöst, das mehr als Hundert
Todesopfer und fast Tausend Verletzte fordert. Während die Opfer bis
heute mit den Folgen (Verstümmelungen, Unfruchtbarkeit, Stummheit
usw.) leben müssen, zog einer der Haupttäter (Ökkes Kenger) als
Abgeordneter (der MHP, später wechselte er zur ANAP) ins Parlament.
Das Pogrom diente den Militärs als Vorwand, in 13 Provinzen das
Kriegsrecht auszurufen und dort mit Notverordnungen zu regieren.
Hunderte, kritischer engagierter Persönlichkeiten,
Journalisten und Gewerkschaften fielen damals dem Terror der MHP zum
Opfer. Diese Verbrechen erfuhren niemals eine wirkliche (politische
wie juristische) Aufarbeitung, wenn die Täter überhaupt ermittelt
wurden, konnten sie durchweg auf gnädige Richtern rechnen wurden
frühzeitig entlassen und sitzen heute im Parlament oder als
angesehen Journalisten in den Talk-Shows.
Dies gilt gleichermaßen für die nationalistische
Variante des Terrors (der MHP) wie für die islamistischen Gruppen,
da beide Strömungen verfeindet und "Konkurrenten" sind, aber über
eine jeweils eigene starke Lobby im Staatsapparat verfügen!
Islam als Kampfideologie der Militärs
Ausgerechnet die Militärs, die heute als "Garanten
des Laizismus und der Reformen Atatürks" auftreten, bedienten sich
nach dem Militärputsch von 1980 der islamischen Ideologie als
"Gegengift zum Marxismus". Stündlich strahlte die gleichgeschalteten
Bildschirme des türkischen Staatsfernsehens Koransuren aus, um die
"sozialistische verblendete Jugend auf den rechten Pfad
zurückzuführen". In den Schulen und Universitäten wurde der
(islamische) Religionsunterricht zum Pflichtfach, an Universitäten
für Studenten aller Fachbereiche eine "Reifeprüfung" obligatorisch,
die eine reaktionäre Auslegung des Islam und türkischen
Nationalismus zur Voraussetzung des Diploms machte. Religionsschulen
(Imam-Hatip-Schulen) als bevorzugtes Rekrutierungsfeld
radikal-islamischer Organisationen schossen wie Pilze aus dem Boden,
und an den Universitäten entstanden unter Führung ausgesuchter
Professoren islamistische Zellen. An jeder Straßenecke und jedem
entlegenen Dorf wurden Moscheen gebaut.
Organisierung im Staatsapparat
Inhaltliche Grundlage dieser
"Islamisierungspolitik von oben" war nicht allein die religiöse
Lehre des Islam sondern die "türkisch-islamische Synthese", ein
Amalgam türkisch-nationalistisch und islamischer Ideologie, welche
politisch einem Bündnis der drei großen rechten Parteien
(faschistsiche MHP, rechts-konservative AP und der islamischen MSP (5))
entsprach. Diese hatten bereits während der 70er Jahre zweimal
Regierungen der "nationalistischen Front" gebildet . Nachdem die
Parteien der 70er Jahre durch den Militärputsch verboten und
aufgelöst waren, vereinte der spätere Regierungs- und Staatschef
Turgut Özal diese drei Strömungen in seiner Mutterlandspartei ANAP,
wobei das Bündnis der faschistischen und islamistischen Strömung als
"heilige Allianz" bezeichnet wurde.
Während Özals Regierungszeit (6)
gelang es – wiederum federführend Innenminister Aksu – Tausende von
Islamisten im Sicherheitsapparat unterzubringen, die ihrerseits bei
Aktionen ihrer Glaubensbrüder ein Auge zudrückten, sie wieder laufen
ließen etc. Bei allen ideologischen Unterschieden zwischen den
reaktionär-islamischen und faschistischen Parteien (und deren
jeweiligen militanten Gruppen) , die wiederholt auch zu militanten
Auseinandersetzungen führten, sind die Übergänge zwischen den
Strömungen fließend, Partei- und Organisationswechsel häufig,
Zeitungen, wie die Türkiye (in Deutschland zweitgrößte türkische
Zeitung!) die beide Strömungen bedienen, bilden ein Bindeglied. An
den Pogromen (wie K-Maras und Sivas) war jeweils die Basis beider
Strömungen beteiligt, die nicht klar voneinander zu trennen ist.
Auch die jetzige AKP-Regierung, die die Wahlen vor
einem Jahr haushoch gewann, stützt sich bei aller liberalen Rhetorik
auf eine Wählerschaft, die all diese Strömungen einschließt, jene
brisante Mischung aus türkisch-nationalistischen und
reaktionär-islamischen Vorstellungen durchsetzt mit wilden
Verschwörungstheorien.
Islamistische Gewalt
Auch wenn die Täter – wie von einem der
Festgenommen ausgesagt, im Auftrag von Al Qaeda handelten und in
ihren Lagern ausgebildet wurden, ist es naiv anzunehmen, die
Islamisten der Türkei hätten einer Anleitung durch Al Qaeda bedurft,
um ihre perversen Gedanken zu formulieren: Seit über zehn Jahren
predigt z.B. die IBDA-C (7) in
ihrer Zeitschrift "taraf" den Kampf gegen die
"jüdisch-christlichen-westlichen Besatzer".
Im August 1993, direkt nach dem blutigen Pogrom
von Sivas, dem 37 Menschen zum Opfer fielen, die bei lebendigem
Leibe in einem Hotel verbrannten, während eine johlende Menge vor
Begeisterung jubelt und klatscht (8),
titelt die Zeitschrift "taraf" der Gruppe IBDA-C mit einem Bild des
brennenden Hotels in das eine ebenfalls brennende US-Flagge
hineinmontiert ist; Überschrift: "Die Stimme die sich aus Sivas
erhebt: Besatzer raus" und "die Türkei wird dem Westen zum Grab
werden". Neben Lobhudeleien auf den "Volksaufstand" von Sivas,
enthält die Zeitschrift antisemitische Hetzartikel,
Solidaritätsaufrufe für inhaftierte islamistische Terroristen (auch
zwei der Täter, die beim Anzünden des Hotels selbst mit verbrannten
werden als "Märtyrer" gefeiert).
Die Zeitschrift, die zwar immer mal wieder
verboten wurde, war in der Türkei jahrelang problemlos zu erhalten.
Im Impressum sind Kontaktadresse, zahlreiche Namen (auch der des
Rechtsbeistandes) offen angegeben, gedruckt wurde sie bei "Yeni
Asya" einem Riesenverlagshaus, in dem zahlreiche auflagenstarke
Zeitungen der radikalen wie "gemäßigten" Islamisten erscheinen...
Die Ausgabe der taraf vom 1.10. 1993 zeigt auf der
Titelseite als "gottlose Volksfeinde Besatzer" neben den Fotos von
Koc und Sabanci (Besitzer der beiden größten Konzerne der Türkei)
die von Ishak Alaton und Üzeyir Garih, zwei bekannten jüdischen
Geschäftsleuten. Üzeyir Garih fiel vor zwei Jahren einem
Mordanschlag zum Opfer (der bislang nicht aufgeklärt wurde).
Am 30.12. 1994 hatte die IBDA-C einen
Bombenanschlag auf ein Cafe in Istanbul verübt, welches als
Intellektuellentreffpunkt bekannt war. Der Filmkritiker Onar Kutlar
und die Archäologin Ayse Cebenoyan, die aus einer jüdischen Familie
stammte, wurden getötet. Im damaligen Bekennerschreiben verkündete
die IBDA-C, sie werde weitere jüdischen Intellektuellen töten. Die
IBDA-C wurde zwar ebenfalls durch Polizeiaktionen vor einigen Jahren
weitgehend zerschlagen, ihre antisemitische menschenfeindliche
Ideologie war jedoch niemals Thema. Dem Staat ging es allein um die
Durchsetzung seines Machtmonopols.
Türkische Glaubenskrieger in Bosnien, Tschetschenien und an
anderen Fronten
Eine weitere Augenwischerei ist das geheuchelte
Erstaunen über die jüngsten "Enthüllungen" des türkischen
Geheimdienstes, "mehr als Tausend" militanter Islamisten aus der
Türkei hätten in den vergangenen Jahren an den verschiedenen Fronten
und Bürgerkriegen im Balkan, Kaukasus und Mittleren Osten eine
militärische Ausbildung genossen und gekämpft. Spätestens seit dem
Bosnienkrieg ziehen unter dem Jubel der gesamten rechten und
staatstragenden Presse türkischen Presse von islamistisch (Yeni
Asir, Yeni Safak, Türkiye) bis nationalistisch (Hürriyet) Kämpfer
gegen Serben, Kommunisten und Russen an die verschiedenen Fronten
und berichten begeistert darüber. Adressen von Solidaritätskomitees
für unsere "Volksgenossen" in Tschetschenien (9),
die auch als Kontaktstellen fungieren, erschienen in diesen
Zeitungen fast täglich. (Die Wand eines dieser Vereine schmückte ein
großes Portait des damaligen, für seine Brutalität im Kurdistankrieg
bekannten Generalstabchefs Dogan Güres (10),
der später als Abgeordneter der DYP ins Parlament einzog.)
Die "Türkiye", politisch zwischen der
faschistischen MHP und rechtsislamistischen Strömungen angesiedelt,
(die in der BRD an jedem Kiosk verkauft wird und über beachtlichen
Einfluss verfügt) titelte während des Höhepunkts des Bosnienkrieges
mit dem begeisterten Bericht eines ihrer Reporter, der die
türkischen Kämpfer in Bosnien begleiten durfte unter mit
Balkenüberschrift: "Auch ich habe einen Serben erschossen" (mit Foto
in Kampfmontur). Dies hat damals – außer einem kritischen
Journalisten der "Özgür Gündem" – niemandem missfallen; auch die
türkische Linke war in das Geheul gegen den "serbischen Terror"
eingestimmt. Filmberichte angesehener Reporter – ebenfalls
"eingebettet" in türkische Freiwilligenverbände liefen im Fernsehen
zur besten Sendezeit.
Auch die "Hürriyet" , die als Sprachrohr der
kemalistischen Militärs nicht müde wird, vor der "islamistischen
Gefahr" zu warnen, lobte den Kampfgeist türkischer Freiwilliger in
Tschetschenien und anderswo. Die türkischen Glaubenskrieger waren
bis heute kein Thema kritischer Recherchen; weder die türkische
Friedensbewegung, die im Frühjahr vergangenen Jahres Hunderttausende
gegen den Irakkrieg auf die Straße brachte (mit Postern von Bush und
Sharon), noch die Menschenrechtsvereine haben dieses Thema jemals
auch nur thematisiert.
Dabei ist die Türkei nie davor zurückgeschreckt,
islamistische Gruppen im Ausland zu unterstützen, wenn es ihren
Zielen nützte. So unterstützte die Türkei im Nordirak zeitweilig die
islamistische "Hareket-i Islamiye Kürdistan" (11),
um dadurch die "großen kurdischen Parteien (PUK und KDP) unter Druck
zu setzen. Vermittler war die Refah Partisi (die Vorläuferpartei der
heutigen Regierungspartei AKP).
Verschwörungstheorien als Allgemeingut
Die Reaktionen in der Türkei auf die Anschläge
zeigen die Dimension der Katastrophe: Zwar verurteilten alle
türkischen Tageszeitungen die Terrorakte, Tenor der islamischen und
radikal-islamischen Kommentare war jedoch Mutmaßungen, dass es sich
bei den Täter nicht um Muslime gehandelt haben könne. Nutznießer der
Anschläge seinen die USA und Israel, folglich seien hier die Täter
zu suchen. In der einflussreichen (der Regierung nahe stehenden)
Zeitung "yeni safak" (neue Morgendämmerung ) vom 22.11.2003 fragte
der Chefredakteur Ahmet Tasgetiren in einem offenen Brief an
al-Qaeda: "Über wen muss dieser Brief weitergeleitet werden, um dich
zu erreichen? Über den MOSSAD? oder über die CIA? (...) Gehört es
zur Hauptpolitik von El-Qaeda die Türkei anzugreifen, deren
Bevölkerung mehrheitlich fastet und euch [dadurch] sogar den Hass
der reinsten Muslime zuzuziehen? (...) Ey, Al-Qaeda, du beschmutzt
den Islam, (...)das geht es zu weit."
Trauermärsche , zu denen in verschiedenen Städten
Bündnisse von Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen und
linken Gruppen aufgerufen hatten, erschienen trotz breiter Bündnisse
jeweils nur einige Tausend Menschen, überwiegend aus dem "üblichen"
linken Spektrum. Doch auch hier dominierten Verschwörungstheorien
das Bild. "Wir kennen die Schuldigen" stand auf einem
Riesentransparent, das neben den Köpfen von Bush und Blair auch den
von Sharon zeigte.
Die Fixierung auf klare umrissene Feindbilder und
ihr eignes Faible für Verschwörungstheorien hat die Linke der Türkei
die – unterschiedlichen - islamistischen Strömungen in der Türkei
kaum wirklich ernst nehmen lassen. Deren menschenfeindliche
Ideologie wurde selten inhaltlich analysiert. Die Hizbullah in
Kurdistan , aber auch der mordende Mob in Kahramanmarsch und anderen
Städten wurden einzig als Produkt der staatlichen "Kontraguerilla"
betrachtet, das gefährliche Potential, das in der Massenwirksamkeit
ihrer Ideologie lag, wurde nicht einmal analysiert. Die IBDA-C,
konnte 1994 sogar Solidaritätsadressen als Anzeigen in der
prokurdischen "Özgür Gündem" plazieren, ihre Hungerstreiks und im
Gefängnis wurden von manchen als "Widerstandsaktionen" gegen die
Staatsmacht betrachtet. Während die meisten sich nie die Mühe
machten, einen Blick auf die Inhalte dieser Machwerke zu
verschwenden, betrachteten andere die IBDA-C eher als eine
Konkurrenz von der "falschen Seite", denn nicht wenige Merkmale
ihrer Ideologie – Verherrlichung von Militanz, Verschwörungstheorien
und Antisemitismus, waren auch in linken (Splitter)-gruppen weit
verbreitet.
Die Anschläge vom November sind abscheulich und
erschreckend. Neu für die Türkei ist allerdings allein die Art der
Ausführung (als Selbstmordanschläge) und die organisatorische
Verbindung der Täter zur Al-Qaeda. Die antisemitische und
"antiwestliche" Zielsetzung ist keineswegs neu, allein gegen die
Neve-Shalom Synagoge wurde bereits zweimal blutige Anschläge verübt.
Der Nährboden auf dem islamistische Terrorgruppen
in der Türkei ein Rekrutierungsfeld finden ist dabei nicht allein
"der Islamismus", wie westliche Kommentatoren gerne glauben möchten.
Die Geschichte der türkischen Republik - angefangen vom Völkermord
an den Armeniern (1915 und 1919, also vor Gründung der Republik) die
Vertreibung der Griechen 1923 und 1955, die Niederschlagung der
Kurden während er 20er, 30er 80er und 90er Jahre, Pogrome an
Aleviten und mehrfacher Niederschlagung linker Bewegungen bis hin
zur physischen Liquidierung haben eine traumatisierte und verrohte
Gesellschaft hinterlassen.
Zumal diese Ereignisse bis heute nicht ansatzweise
aufgearbeitet wurde, sondern die Opfer (Armenier, Griechen, Kurden,
Aleviten, Minderheiten generell und Kommunisten) in der offiziellen
Ideologie sowie in der breiten Mehrheitsmeinung bis heute als
Schuldige und Verräter gelten und die Volksseele jederzeit gegen
diese Feindbilder zu mobilisierbar ist.
Betont werden muss, dass "der Westen" diese
Politik in der Regel unterstützt hat und als "kemalistische
Reformpolitik" begrüßt oder schlicht nicht wahrgenommen hat. So
bietet die Doppelzüngigkeit einer Politik, die der Türkei erst die
Waffen und das "know-how" zur Niederschlagung der Kurden liefert,
die damit begangenen Menschenrechtsverletzungen dann aber als
Argument benutzt, um der türkischen Bevölkerung ein anderes
Menschenrecht (das auf Freizügigkeit in der EU) vorzuenthalten,
willkommenen Stoff für ein diffuses, paranoides Weltbild, dass die
Türkei als "von Feinden umzingelt" sieht.
Die Tatsache, dass der Vater zweier der Täter, vor
15 Jahre selbst wegen seines Engagements als linker Kurde von der
(faschistischen) MHP ermordet wurde, und seine Kinder dann in die
Fänge der Islamisten gerieten, macht die Täter keineswegs zu Opfern,
ist aber Ausdruck einer von Gewalt und Terror gezeichneten
Gesellschaft.
Türkei nutzt
OSZE-Konferenz zur Selbstdarstellung:
Die Türkei ist frei von
Antisemitismus - oder: Der Mond ist eine Scheibe
Anmerkungen:
(1) Ein Teil dieser Strömung wurde logistisch
wie personell vom Iran unterstützt, an mehreren Anschlägen der
90er Jahre waren iranische Staatsangehörige beteiligt.
(2) "gercek", "2000'e dogru" und "Yeni Gündem", mehrere der
Journalisten mussten diese Enthüllungen mit dem Leben bezahlen!!
(3) Auch wenn dies nach Verschwörungstheorie riecht, es sind Fakten.
(4) In einem Kino wurde vor der Vorführung eines
MHP-Propagandafilmes ein Sprengsatz plaziert, der rechtzeitig
"entdeckt" wurde, so dass niemand zu schaden kam. Die Tat wurde "den
Kommunisten" angekreidet und so das Pogrom ausgelöst. Die Täter:
MHPler, die eng mit den staatlichen Sicherheitsorganen verzahnt
arbeiteten und ein gewaltbereiter Mob von Faschisten und Islamisten.
(5) Dies sind die Parteinamen der 70er Jahre. Nach dem Verbot durch
den Putsch von 1980 gründeten sie sich 1985 unter veränderten Namen
erneut, nach weiteren Verboten, Spaltungen und Namensänderungen
entsprechen diese den heutigen Parteien, MHP, DYP und AKP.
(6) In der kurdischen Bewegung (und unter ihren deutschen
Apologeten) geht die Amnesie leider so weit, daß Özal heute als
Wegbereiter einer liberaleren Türkei angesehen wird (siehe z.B. die
entsprechenden Veröffentlichungen des "Dialogkreises".
(7) Vorläufer der islamistischen Terrororganisation IBDA-C
entstanden bereits Ende der 60er als militanter Arm der
damaligen MSP. Bewusst verwendet die IBDA-C auch Symbole und
Slogans militanter linker Organisationen der 70er Jahre. Schon ihr
Name erscheint als "islamische Version" der linken "THPK-C" In einer
Ausgabe ihrer Zeitschrift von 1993 wird lobend erwähnt, einer der
ersten Anschläge der THKP-C sei die Ermordung des israelischen
Sicherheitsbeamten Efraim Elrom gewesen.
(8) Siehe z.B. ak Nr.374 und Ausgabe vom Juli 2003
(9) die nebenbei weder sprachlich noch sonst in einer Form mit den
Türken verwandt sind, in der Türkei lebt allerdings eine Ende des
19. Jahrhunderts eingewanderte tschetschenische Minderheit.
(10) Dogan Güres ist selbst tschetschenischer
Abstammung
(11) Bericht in NOKTA vom 12. März 1995
hagalil.com
19-05-2004
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