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Avi Primor
»...mit
Ausnahme Deutschlands«
Als Botschafter Israels in Bonn
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IVf.Teil
Steine und Rosen
1980 gab die Europäische Gemeinschaft auf ihrem Gipfeltreffen in Venedig
eine berühmt gewordene Erklärung ab. Sie kritisierte unsere Politik im Nahen
Osten und forderte Israel auf, künftig einen den arabischen Forderungen
entsprechenden Weg zu beschreiten. Bei der Beschlußfassung, die der
einstimmig gebilligten Erklärung zugrunde lag, war die Bundesrepublik in
gleichem Maße vertreten wie die übrigen EG-Staaten, für die Israelis aber
verteilten sich die Gewichte anders: Wieder machte sich jene
Sonderempfindlichkeit gegenüber den Deutschen geltend, für die es keinen
Parallelfall in den Beziehungen zu anderen Ländern gab.
Daß sich das Verhältnis fortwährend neu
bewähren mußte, gehört zu seinen Besonderheiten. So schienen uns die
Probleme, die im Zusammenhang mit der Frage der Verjährung von
Nazi-Verbrechen auftauchten, ungleich wichtiger als die
Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der israelischen Politik in den
besetzten Gebieten. Noch in den achtziger Jahren standen wir vor Ereignissen
und Entwicklungen, die wir nicht richtig zu interpretieren wußten und die
uns gelegentlich perplex machten. 1985 und 1986 waren in dieser Hinsicht
Schlüsseljahre.
Anläßlich des vierzigsten Jahrestags des
Endes des Zweiten Weltkriegs, 1985, zögerte Bundespräsident Richard von
Weizsäcker nicht, das Jahr 1945 das »Jahr der Befreiung« zu nennen. Alle, ob
schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müßten die Vergangenheit annehmen und
für sie haftbar gemacht werden. Versöhnung ohne Erinnerung könne es nicht
geben: »Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.« Die Jungen seien nicht
verantwortlich für das Geschehen von damals, wohl aber für das, was heute
geschehe.
Ähnlich äußerte sich schon vorher
Bundeskanzler Helmut Kohl in einer Ansprache, die er am 21. April desselben
Jahres im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen hielt. Er gedachte
der KZ-Häftlinge, die vierzig Jahre zuvor aus den Lagern befreit worden
waren. Auch hier stand die Aufforderung an alle Deutschen, ihre Geschichte
so anzunehmen, wie sie wirklich war, im Vordergrund, ohne diesen Schritt sei
keine Versöhnung mit den Hinterbliebenen und Nachkommen der Opfer möglich.
»Für die Untaten der NS-Gewaltherrschaft trägt Deutschland die Verantwortung
vor der Geschichte. Diese Verantwortung äußert sich auch in nie verjährender
Scham.« Der Versuchung, »daß etwas verfälscht oder verharmlost wird«, setzte
Kohl das Gebot entgegen, aus der Vergangenheit zu lernen: »Gerade die
Kenntnis der schuldhaften Verstrickung, der Gewissenlosigkeit, auch der
Feigheit und des Versagens kann uns in den Stand setzen, die Anfänge des
Verderbens zu erkennen und ihnen zu widerstehen. Denn Totalitarismus, wie er
sich in Deutschland nach dem 30. Januar 1933 durchsetzen konnte, das ist
keine unwiederholbare Entgleisung, kein ›Unfall der Geschichte‹.«
In dieser Zeit aber gab es auch den Eklat auf
dem Friedhof in Bitburg. Der Besuch, den Bundeskanzler Kohl an der Seite des
US-Präsidenten Ronald Reagan dem Soldatenfriedhof der Kreisstadt in der
Eifel abstattete, sollte eigentlich, über Gräber hinweg, als Zeichen der
Aussöhnung ehemaliger Kriegsgegner verstanden werden. Die wohlgemeinte Geste
sorgte jedoch in der Öffentlichkeit für erhebliche Irritationen, als bekannt
wurde, daß in Bitburg nicht nur Gefallene der Wehrmacht, sondern auch
Angehörige der Waffen-SS bestattet waren. Es dauerte Jahre, bis die
Verstimmung überwunden war, die der Auftritt der beiden Staatsmänner vor den
Bitburger Soldatengräbern auslöste. Auch wer sich von besten Absichten
leiten läßt, ist nie sicher, ob er damit nicht das Gegenteil dessen bewirkt,
was er erreichen wollte.
Bis heute aber nicht restlos überwunden sind
die Auswirkungen eines Phänomens, das uns total überraschte. Es kam aus ganz
anderer Richtung: der Historikerstreit. Auslöser war ein Artikel von Ernst
Nolte in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 6. Juni 1986
(»Vergangenheit, die nicht vergehen will«), in dem der Autor als Aufgabe an
die Zunft der Historiker formuliert, »ein objektiveres Bild des Dritten
Reiches und seines Führers zu zeichnen«. Nolte tat dies auch gleich, indem
er feststellte, daß »mit alleiniger Ausnahme des technischen Vorganges der
Vergasung« alle übrigen Verbrechen der Nazis wie Massendeportationen und
-erschießungen, Folter und menschliche Erniedrigungen, die Einrichtung von
Todeslagern und die Ausrottung ganzer ethnischer Gruppen,
selbst die öffentliche Forderung nach Vernichtung von Millionen schuldloser
Menschen bereits von anderer Seite begangen worden waren, lange bevor die
Nazis an die Macht kamen.
Noltes These lautete: »Die Morde der
Nationalsozialisten reihen sich in eine Kette anderer Verbrechen in die
Geschichte ein. Sie sind beileibe nicht das erste Glied dieser Kette,
sondern sind vermutlich eine Reaktion auf die stalinistischen Verbrechen.«
Die Vernichtung der Juden geschah aus der Furcht davor, durch sie vernichtet
zu werden; Hitler sei eigentlich erst von anderen Schreckensherrschern zu
einem Verteidigungskrieg gedrängt worden. Der Tenor dieses Revisionismus:
Das deutsche Volk, gut oder böse, unterscheidet sich nicht von anderen
Völkern.
Ernst Noltes Gedanken sind heftig kritisiert
und zurückgewiesen worden. So von Jürgen Kocka, der zu dem Schluß kommt: »Es
bleibt ein quantitativer Unterschied zwischen der bürokratisierten,
leidenschaftslosen, perfektionierten Systematik des Massenmordes im
durchindustrialisierten und vergleichsweise hochorganisierten Reiche Hitlers
und der brutalen Mischung von Bürgerkriegsexzessen, Massenliquidationen,
Sklavenarbeit und Verhungernlassen im rückständigen Reiche Stalins.« Wenn
man schon Vergleiche anstellen wolle, bemerkt Kocka anschließend, dann
müßten sie sich auf Gesellschaften der westlichen Welt beziehen, etwa auf
Frankreich oder England. Ebenso abwegig wäre es, Vergleiche zum Regime eines
Pol Pot oder dem Uganda zur Zeit Idi Amins zu ziehen.
Hinzuzufügen wäre, daß es noch andere,
grundlegende Unterschiede zwischen dem Kommunismus und dem
Nationalsozialismus gibt. Das beginnt schon an der Wurzel: Die alte
kommunistische Utopie verfolgt das Ziel, alle Menschen gleichberechtigt zu
machen und sie mit den gleichen Vorteilen zu beglücken. Der
Nationalsozialismus mit seinem Ausleseprinzip dagegen war von Anfang an
darauf gerichtet, nur einen Teil, im Grunde eine Minderheit, auf Kosten
aller anderen in den Genuß von Vorteilen kommen zu lassen. In der Praxis
verwirklichte er genau das, was seine Ideologen verkündet hatten, während
die Ideologie des Kommunismus das Gegenteil dessen erreichte, was sie
eigentlich wollte. Der Kommunismus tat sich selber Schaden an, die Nazis
häuften ihn über andere.
Der verbrecherische Charakter des Kommunismus
Stalinscher Prägung wird heute ebensowenig bestritten wie die
Unvermeidbarkeit inhumaner Akte bei Kriegshandlungen – Krieg ist stets ein
Geschäft, das mit Recht und Humanität nicht viel gemeinsam hat, auch dann
nicht, wenn ein Volk sich lediglich zu verteidigen sucht. Hitlers Krieg
aber, allein von ihm und ohne äußere Provokation vom Zaun gebrochen, war von
vornherein als Vernichtungskrieg geplant.
Spätestens seit März 1995, als in Hamburg die
Ausstellung »Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«
eröffnet wurde, ist bekannt, daß an den systematisch organisierten
Verbrechen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, begangen an Gefangenen wie an
Zivilisten, nicht nur die SS-Einsatzgruppen, der Sicherheitsdienst (SD) und
die Waffen-SS beteiligt waren. Die Ausstellung, die ausschließlich auf Akten
deutscher Militärarchive und Gerichte sowie auf Feldpostbriefen und Fotos
deutscher Wehrmachtsoldaten basiert, macht nachdrücklich klar, daß auch die
Wehrmacht derartige Verbrechen verübte. Ein erschreckendes Beispiel sind die
unter militärischen Gesichtspunkten völlig sinnlosen Grausamkeiten an der
Zivilbevölkerung, welche die 6. Armee auf Befehl des fanatischen
Generalfeldmarschalls von Reichenau beging.
Für uns, da sie uns am meisten betrafen,
waren natürlich das Programm und die Praxis der Judenvernichtung die
Hauptmerkmale des Nationalsozialismus. Gab es in der Menschheitsgeschichte
je ein ähnliches Verbrechen wie den Holocaust? Revisionisten würden
wahrscheinlich eine solche Frage bejahen. Stalin ließ Millionen Unschuldiger
willkürlich ermorden. Die Türken verübten im Ersten Weltkrieg Völkermord an
den Armeniern. Im Mittelalter war die Inquisition für ihre Grausamkeit
bekannt, und noch früher, am Anfang des 13. Jahrhunderts, hinterließen die
Feldzüge des Mongolenherrschers Dschingis-Khan blutige Spuren. Alle diese
schrecklichen Verbrechen aber sind mit denen der Nazis nicht zu vergleichen.
Dort waren es rücksichtslos verfolgte Ziele gewesen, Eroberungspläne,
Machtansprüche und Rachegelüste, die unzählige Opfer gefordert hatten,
manchmal auch – wie im Falle Dschingis-Khans – blinde Zerstörungswut., die
sich in der Hitze der Schlacht zu primitivem Blutrausch steigerte.
Nirgendwann in der Geschichte aber war es zu Verbrechen größeren Ausmaßes
gekommen, für die sich als Ursachen nicht materielle Interessen finden
ließen. Kein Volk hat jemals ein anderes vernichten wollen, ohne dessen
Feind und ohne von ihm in irgendeiner Weise bedroht zu sein. Morde geschahen
um der Vorteile willen, die sich der Verbrecher daraus versprach.
Um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert gab
es Dschingis-Khan. Er wollte Länder erobern, tötete, was sich ihm
entgegenstellte, gedachte die Unterworfenen aber keineswegs auszurotten; sie
sollten einmal »normale« Untertanen sein. Es gab die Inquisition, die
Nichtgläubige verfolgte und alle abtrünnigen Christen, die Ketzer, um die
einen in die Staatsreligion, die anderen auf den Scheiterhaufen zu führen,
sofern sie nicht ihrer Untreue zur Kirche abschworen. Und das während des
Ersten Weltkriegs von den Türken begangene Gemetzel an den Armeniern, so
unvorstellbar grauenvoll es war, ließ immerhin denjenigen eine Chance, die
als loyale Staatsbürger in die türkische Armee aufgenommen werden wollten.
Hätten Juden in der deutschen Wehrmacht
dienen können? Wie ihre Mitbürger betrachteten sie das Land, in dem sie
lebten, als ihr Vaterland. An ihrem Patriotismus gab es keinen Zweifel, im
Ersten Weltkrieg hatten sie sich, mit einem unverhältnismäßig hohen Anteil
an Gefallenen, als tapfere Frontsoldaten bewährt. Die emotionale Bindung,
der Glaube, sich mit Deutschland identifizieren zu müssen, war so stark, daß
viele Juden sich in der Nazi-Zeit weigerten, zu emigrieren. Später
vertrauten sie darauf, das Regime würde nur von kurzer Dauer sein. Meine
Mutter, die vor der Nazi-Zeit als junges Mädchen allein nach Palästina
gekommen war und dort ihren künftigen Mann kennengelernt hatte, zerstritt
sich mit ihrer Familie, als sie erklärte, sie käme nicht mehr nach
Deutschland zurück – wie konnte ein deutsches Kind die angestammte Heimat
verlassen und anderswo leben wollen?
Nein, auch nicht mit allergrößter Phantasie
hätte sich jemand im Ernst vorzustellen vermocht, die Juden seien Feinde
Deutschlands. Sie waren, soweit sie in Deutschland lebten, stolz auf ihr
Land, und unter den Juden anderer Völker, vor allem der osteuropäischen, gab
es zahllose Anhänger und Bewunderer der deutschen Sprache und Kultur. Juden
haben als erste die deutsche Sprache in Polen, in Rußland und der Ukraine,
im Baltikum, in den Balkanländern und im Gebiet der ehemaligen
Tschechoslowakai eingeführt. Und wenn sie nicht deutsch miteinander
sprachen, dann jiddisch. Der Herkunft und seinem Kern nach ist das Jiddische
nichts anderes als spätmittelalterliches Deutsch, mit weitgehend
unverändertem Wortschatz.
Nachrichtensendungen in dieser Sprache sind,
zweimal täglich, noch heute auf einer bestimmten Welle des israelischen
Rundfunks zu empfangen. Vorwiegend für Hörer aus osteuropäischen Ländern
bestimmt, werden sie wegen der Nähe des Jiddischen zum Deutschen nicht
selten auch von deutschsprachigen Israelis frequentiert, gelegentlich auch
von deutschen Gästen, die sich dann mehr oder minder zufällig mit einem
Stück Entwicklungsgeschichte ihrer Muttersprache überrascht sehen – so wie
jene Gruppe deutscher Journalisten, die ich einmal in meinem Büro im
Auswärtigen Amt in Jerusalem empfing. Sie kamen in ausgelassen fröhlicher
Stimmung und lachten, bis ich den Grund ihrer Heiterkeit erfuhr: Sie hatten
im Radio Nachrichten auf Jiddisch gehört, darunter die Meldung, Golda Meir
habe israelische Truppenteile am Suezkanal besucht. Die Ministerpräsidentin,
hieß es, habe sich in einer der Stellungen aufgehalten, um mit den Soldaten
zu »schmusen«. Ich hatte, mit der deutschen Sprache noch kaum vertraut, alle
Mühe, den von dieser Nachricht offensichtlich stark beeindruckten Gästen zu
erklären, daß »schmusen« das jiddische Wort ist für »sich unterhalten« oder
»plaudern«.
Die ostjüdische Kultur in Polen mit dem
Jiddischen als täglicher Umgangssprache blieb im Ersten Weltkrieg von den
deutschen Militärs unangetastet, ebenso wie die jüdische Bevölkerung selbst.
Man behandelte sie anständig und sah in ihr eine den eigenen Landsleuten
nahestehende, durch gemeinsame Sprachwurzeln sogar verbundene Gemeinschaft,
die das Leben der deutschen Besatzung in mancher Hinsicht erleichtern
konnte. Viele polnische Juden waren denn auch, als die Deutschen 1939 in ihr
Land einfielen, zunächst nicht weiter beunruhigt. »Man wußte ja, wofür die
Deutschen standen«, sagte meine Schwiegermutter Regina Herschenberg, eine
polnische Jüdin und eine der wenigen Auschwitz-Überlebenden, als sie mir von
ihren damaligen Erfahrungen berichtete. Die Eltern hatten die Gerüchte, die
über die Nazis in Umlauf waren, als Kriegspropaganda abgetan: »Wir kennen
die Deutschen doch, wir haben sie schon im Ersten Weltkrieg erlebt. Von
deren Seite kann uns nichts Schlimmes passieren.«
Theodor Herzl, Begründer des Zionismus und
Prophet des Staates Israel, dessen Bild als einziges in der Knesset hängt,
hatte sogar die Idee, Deutsch zur offiziellen Sprache des künftigen
jüdischen Staates zu machen. Sie sei nicht nur die würdigste Sprache, sie
stehe auch für die beliebteste Kultur, sei unter den Juden in aller Welt am
meisten verbreitet, Deutsch wäre für das neue Israel aus ideologischen wie
pragmatischen Gründen die einzig richtige neue Landessprache, man solle sich
auf ihre Einführung vorbereiten. Der Gedanke hat sich nicht realisieren
lassen, die Sprache der Bibel erwies sich für den Zusammenhalt der Juden als
stärkeres Bindemittel. Dennoch deutet Herzls Idee, Deutsch zur gemeinsamen
Sprache des jüdischen Volks zu machen, auf den Rang, den nicht allein die
deutsche Sprache einmal im Bewußtsein der Juden eingenommen hat, in Europa
wie auf dem amerikanischen Kontinent.
Was wäre, haben wir uns oft angesichts ihres
grenzenlosen Patriotismus gefragt, aus den deutschen Juden geworden, wenn
sie sich, statt Verfolgte zu sein, voll in den NS-Staat integriert hätten?
Hätte sich dieser Staat, mit ausgeklammerter »Judenfrage«, trotzdem zu dem
entwickelt, der er war? Hätte alles einen gleich schlimmen Verlauf genommen,
nur daß für den Holocaust ein anderes Volk ausgesucht worden wäre? Wären die
Juden mit dem Übermaß ihres Patriotismus gute Nazis geworden und Mitläufer
wie alle anderen in Deutschland?
Einen Teil der Antwort darauf gab Marcel
Reich-Ranicki 1995 während einer Podiumsdiskussion im deutschen Fernsehen.
Ihm, der in den dreißiger Jahren als Schüler in Berlin lebte, wurde als
selbstverständlich unterstellt, daß er als Jude gefeit gewesen sei gegen die
Verführung Hitlers, aber: »Wären Sie auch als Nichtjude gefeit gewesen?«
Reich-Ranicki antwortete: »Ich glaube, daß dazu nicht einmal die
Konzentrationslager, von denen ich damals nicht sehr viel wußte, nötig
waren. Ich hätte ein Regime nicht unterstützt, das die Bücher von Heine aus
den Bibliotheken zurückgezogen hat, das die Werke von Brecht verbrannte, das
Thomas Mann ausgebürgert hat und das auch noch die Kritik als Institution
beseitigt hat. Glauben Sie mir, das wäre nicht mein Regime, auch wenn ich
ein Arier wäre.«
Es konnte im Grunde nicht in Deutschlands
Interesse liegen, die Juden zu Feinden zu erklären. Es konnte kein Vorteil
daraus erwachsen, Juden zu vernichten. Hatte jemals zuvor ein Volk so viel
Mühe und Energie auf ein Ziel verwandt, das ihm keinerlei Gewinn bringen
konnte? Doch nicht nur, daß ihm die Judenvernichtung keine Vorteile eintrug,
Deutschland erlitt, was schwerer wog, nur Nachteile. Hierzu gehört der
Verlust an Wissenschaftlern und Künstlern, an Intellektuellen jeder Art. Von
den fünfundfünfzig Nobelpreisträgern, die es vor dem Zweiten Weltkrieg in
Deutschland und Österreich gab, waren dreiundzwanzig jüdischer Abkunft,
wobei der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung weniger als ein Prozent
betrug. Die letzten mit dem Nobelpreis Geehrten hatten die Auszeichnung
erhalten, nachdem sie den Nazis entkommen waren.
Diese aber, die Ideologen und Funktionäre des
Dritten Reichs, interessierte das nicht. Später versagte ihr Interesse auch
da, wo es nach ihren eigenen Kriterien besonders gefordert war, nämlich in
der Rüstungsstrategie, bei der Organisation des Nachschubs für die kämpfende
Truppe und bei Rettungsaktionen zur Entlastung und Rückführung bedrängter
Heereseinheiten. Dringend benötigte Transportmittel wurden mit Vorrang zur
Judenvernichtung eingesetzt. »Zu den grausigsten Absurditäten des
Rußland-Feldzuges zählt, daß Eichmanns endlose Deportationszüge ungehindert
in die Vernichtungslager fuhren, während für den Nachschub der Wehrmacht die
Güterwagen der Reichsbahn fehlten. Immer wieder sandte die im Osten
kämpfende Truppe verzweifelte Notrufe an das Führerhauptquartier. Aber
offenbar nahm Hitler eher die Niederlage in Kauf, als daß er, aus Mangel an
Eisenbahnwaggons, auf den Massenmord an den Juden verzichtet hätte.«
Generalfeldmarschall Fedor von Bock, Chef der
Heeresgruppe Mitte, aus dessen Kriegstagebuch das Zitat stammt, ist
unverdächtig, ein Gegner Hitlers gewesen zu sein. Als sein Neffe Henning von
Tresckow ihn beschwor, gegen die Untaten der SS einzuschreiten, wehrte er
entschieden ab, und die Attentäter vom 20. Juli 1944 verurteilte er als
Verbrecher. Aber er macht die Prioritäten der deutschen Kriegsführung
deutlich und liefert damit Argumente gegen die relativierenden Thesen der
Revisionisten, wonach der organisierte Judenmord lediglich die beiläufige
Antwort war auf anderswo begangene Verbrechen.
Daß es in Deutschland, ausgelöst durch den
sogenannten Historikerstreit, in den achtziger Jahren zu einem vom Ausmaß
der eigenen Schuld ablenkenden Revisionismus kommen konnte, mit
Diskussionen, die bis heute anhalten, erschreckt fast mehr, als die sich
fortwährend wiederholenden Meldungen über Ausschreitungen der Neonazis. Die
Raufbolde in den Straßen mit ihren Nazi-Emblemen und -Parolen machen zwar
angst, doch solange die Intelligenz nicht hinter ihnen steht, können sie
kaum auf Unterstützung aus breiteren Bevölkerungsschichten hoffen.
Andernfalls würde ihr Gedankengut sich wie eine Seuche verbreiten.
Für die Zukunft aber liegt eindeutig Gefahr
darin, daß der Revisionismus allmählich an Boden gewinnt. Denn bei
denjenigen, die ihm das Wort reden, handelt es sich häufig um gebildete und
zum Teil namhafte Personen. Ihren Überzeugungen und dem Einfluß, den sie in
der Öffentlichkeit ausüben, wird man deshalb um so entschiedener
entgegentreten müssen. Als ich 1995 für das Wochenmagazin der »Frankfurter
Allgemeinen Zeitung« den »Fragebogen« ausfüllte und auf die Frage stieß »Was
verabscheuen Sie am meisten?«, habe ich mit der Antwort nicht lange
gezögert: »Revisionisten«. |