antisemitismus.net / klick-nach-rechts.de / nahost-politik.de / zionismus.info

haGalil onLine - http://www.hagalil.com
     

hagalil.com
Search haGalil


Newsletter abonnieren
Bücher / Morascha
Koscher leben...
Jüdische Weisheit
 
 

Avi Primor
»...mit Ausnahme Deutschlands«
Als Botschafter Israels in Bonn

[Bestellen]

V.Teil

Am Anfang der Mission 

Die zwiespältigen Eindrücke, die ich im Laufe der achtziger Jahre von Deutschland gewann, haben – zusammen mit dem Wissen um die immer enger und intensiver werdende Zusammenarbeit zwischen Israel und Deutschland – dazu geführt, daß mir dieses Land zu einem zunehmend größeren Rätsel wurde. Die Neugier auf dessen Lösung wuchs mit der Erkenntnis, daß Deutschland ein unverzichtbarer Bestandteil der Europäischen Union geworden war, für die ich mich so interessierte.

Seit ich 1987 Botschafter in Brüssel war, verwandelte sich mein Interesse an Deutschland in eine pragmatische Haltung. Zum ersten Mal ergab sich Gelegenheit zu einer sachlichen Begegnung mit Deutschen innerhalb der verschiedenen Gremien der Europäischen Gemeinschaft und der Nato. In die Bundesrepublik fuhr ich zwar noch immer nicht, doch mein Verhältnis zu dem Land wurde ein anderes. So wäre es mir zum Beispiel nicht mehr eingefallen, deutsche Waren aus meinem Haus zu verbannen oder keine deutschen Kollegen einzuladen. Ein ganz entspanntes, normales Verhältnis also – doch was hinderte mich, ins Nachbarland zu reisen? Ich wußte es nicht, und es sollte noch Jahre dauern, bis ich eine Antwort darauf fand.

1989, im Jahr, als die Berliner Mauer fiel, hatte ich das Gefühl, daß sich meine Einstellung Deutschland gegenüber grundsätzlich gewandelt hatte. Die erwähnte Rede vor der Versammlung der »Freunde der Hebräischen Universität«, in der ich emotionslos und sachlich von der bevorstehenden Wiedervereinigung sprach, machte mir selber deutlich, daß sie das Ergebnis einer langjährigen inneren Entwicklung war. Anderen schien die damalige Situation noch nicht so einfach; allein schon der Gedanke an die sich abzeichnende Möglichkeit einer Wiedervereinigung weckte Vorbehalte und Ängste, nicht nur in Europa.

Bekannt ist das Wort des französischen Außenministers Maurice Couve de Murville aus den sechziger Jahren: »Wir lieben Deutschland, wir lieben es sogar so sehr, daß wir uns freuen, daß es zwei davon gibt!« Scherzhaft gemeint, enthielt diese Äußerung den durchaus ernstzunehmenden Wunsch, die Teilung Deutschlands möge noch recht lange anhalten, eine Auffassung, deren Geist Ende der achtziger Jahre keineswegs aus dem europäischen Bewußtsein verschwunden war. Mit dem Blick auf eine mögliche Wiedervereinigung war in Leitartikeln sogar vom kommenden »Vierten Reich« die Rede. Ich selber konnte mit dem Begriff wenig anfangen, hielt die damit verbundenen Befürchtungen für unbegründet und war dank meiner politischen Erziehung, die mit Ben Gurion begonnen hatte, nicht geneigt zu glauben, daß aus Deutschland in einem vereinigten Europa ein neues Drittes oder ein Viertes Reich hervorgehen könne.

In Israel waren allerdings nicht alle dieser Ansicht. Jitzhak Shamir, der Regierungschef, wurde am 15. November 1989 von einem amerikanischen Fernsehsender live zur aktuellen Lage in Deutschland und zu seiner Einschätzung einer eventuellen Wiedervereinigung befragt. Shamir betonte die Sondereinstellung des jüdischen Volks zu einem derartigen Akt und äußerte Bedenken im Hinblick auf Entwicklungen, die dahin führen könnten. Mehr wollte er zunächst nicht sagen, und er schloß mit der Annahme, die Wiedervereinigung käme wahrscheinlich nie. Im Zusammenhang mit der Antwort auf eine andere Frage ergänzte er jedoch: »Wir erinnern uns alle, was das deutsche Volk, was die Deutschen uns angetan haben, als sie vereinigt und stark waren. Die große Mehrheit des deutschen Volkes beschloß, Millionen von Juden zu ermorden, und jeder bei uns könnte denken, daß, hätten die Deutschen wieder eine Gelegenheit, der stärkste Staat in Europa beziehungsweise der Welt zu sein, sie es wieder versuchen würden. Ich weiß nicht, ob es so sein wird, ob solch ein Verdacht begründet ist, auf jeden Fall aber kann jeder unsere Angst verstehen.«

Von diesen Äußerungen zeigte sich der deutsche Bundeskanzler sichtlich betroffen. In einem längeren Schreiben vom 1. Dezember 1989 ließ Helmut Kohl den israelischen Ministerpräsidenten wissen, er halte Shamirs Urteil »für geeignet, unsere sonst guten und spannungsfreien Beziehungen zu belasten. Wie Sie, Herr Premierminister, bin ich der Meinung, daß die im deutschen Namen begangenen Untaten nicht verdrängt werden dürfen ... Andererseits aber bin ich der Überzeugung, daß Sie als Regierungschef des uns befreundeten Staates Israel mit Ihrem Urteil den heutigen Deutschen – in beiden deutschen Staaten – nicht gerecht werden, ja ihnen Gerechtigkeit verweigern.« Die Deutschen in der Bundesrepublik, schrieb Kohl, seien »über die Europäische Gemeinschaft und die Atlantische Allianz in die Wertegemeinschaft des Westens eingebunden. Über vierzig Jahre hindurch haben sie unter Beweis gestellt, daß sie aus der Geschichte gelernt haben.«

Kohl bat Shamir, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen in West und Ost nicht als »Kennzeichen eines neuen Nationalismus« zu deuten. Er schloß mit dem Ausdruck des Willens zu einer gerechten und dauerhaften europäischen Friedensordnung, »in der auch das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiederfindet. Niemand in Ost und West wird ein Votum aller Deutschen für die Einheit Ihres Landes ignorieren oder als nicht berechtigt in Frage stellen können. Von einem demokratischen und nach rechtsstaatlichen Prinzipien regierten Deutschland wird für niemanden in Europa oder sonstwo eine Bedrohung ausgehen. Insofern, so finde ich, verbietet sich jede Parallele zum nationalsozialistischen Unrechtsregime.«

Shamir dankte in seinem Antwortbrief vom 10. Dezember Helmut Kohl für dessen »offene Ausdrucksweise«, er werde in gleicher Art antworten. Die dramatischen Ereignisse in Osteuropa würden hoffentlich »zu einer besseren und stabileren Welt führen«, wenngleich niemand sagen könne, »zu welchem Ergebnis die jetzige Woge der Begeisterung und der Emotionen letzlich führen wird – am wenigsten das jüdische Volk. Unsere geschichtliche Erfahrung mit Deutschland in den dreißiger und vierziger Jahren dieses Jahrhunderts hat sich unauslöschbar in unser Gedächtnis eingegraben. Wir können die Bilder der jubelnden Massen in den dreißiger Jahren und das, was sich daraus ergab, nicht vergessen. Wir bewahren in uns das Andenken an die Juden, die dann während des Holocausts in den vierziger Jahren ermordet wurden. Das jüdische Volk mußte infolge dieser Entwicklungen unbeschreibliches und unvorstellbares Leid ertragen.«

Eindringlich erinnerte Shamir daran, wie anders sich die Lage seines Volks und Israels darstellte, wären jene Millionen nicht umgebracht worden. »Als Ministerpräsident dieses Staates habe ich die Pflicht, unsere Zweifel und Ängste zum Ausdruck zu bringen. Unsere Ansichten in dieser Frage können jedoch nicht so ausgelegt werden, als beeinträchtigten sie die besonderen Beziehungen, die im Laufe der Jahre mit großer Sorgfalt zwischen uns und der Bundesrepublik entwickelt worden sind.«

Die Vorbehalte in Israel gingen jedoch nicht nur auf die Erfahrungen der NS-Zeit zurück. Bedenken entstanden auch im Zusammenhang mit der Frage, mit wem die Bundesregierung sich da vereinigen wollte: War es eine zweite deutsche Demokratie, deren Kräfte mit denen der Bundesrepublik einfach nur zu bündeln waren? Die DDR war, kein Zweifel, eine Diktatur gewesen, ein Teil Deutschlands, der mit der kurzen Ausnahme der Weimarer Republik nie eine wirklich demokratische Atmosphäre gekannt und seiner Jugend keine demokratischen Werte vermittelt, sie vielmehr zu folgsamen Untertanen erzogen hatte. Ein Polizeistaat, der sich Israel gegenüber besonders feindselig verhielt, ein Land, das uns die Anerkennung verweigert hatte und nicht bereit gewesen war, sich wie die Bundesrepublik zu ihrem Teil der Verantwortung in bezug auf die Verbrechen der NS-Zeit zu bekennen. Ein Staat, der sich im gesamten Ostblock, der – mit Ausnahme Rumäniens – 1967 die Beziehungen zu uns abbrach, mit besonderer Gehässigkeit gegen Israel hervorgetan hatte.

Diese Sonderrolle der DDR im sowjetischen Herrschaftsbereich und dessen Verhältnis zu Israel hatte eine gewisse Tradition. Die Sowjetunion selbst hat 1947 immerhin in der Vollversammlung der Vereinten Nationen dem Ende des britischen Mandats in Palästina und der Zweiteilung des Landes zugestimmt, ebenso alle ihre Satelliten. 1948 war sie es gewesen, die als erster Staat – noch vor den Amerikanern und Franzosen – die Unabhängigkeit Israels anerkannte. Der Periode der Abkühlung der sowjetisch-israelischen Beziehungen bis zu deren totalem Abbruch 1967 folgte eine kurze Unterbrechung, während der die Sowjets einen vorübergehenden offiziellen Kontakt mit uns nicht vermeiden konnten.

Es war im Dezember 1973, nach dem Yom-Kippur-Krieg, den die Ägypter »Oktober-Krieg« nennen. Er war, als sich für Israel der Sieg abzeichnete, von den beiden Weltmächten, den USA und der Sowjetunion, am 21. Oktober durch einen erzwungenen Waffenstillstand beendet worden. Die Außenminister Henry Kissinger und Andrej Gromyko hatten sich bei ihrem überraschenden Treffen in Moskau nicht nur auf diese Waffenruhe geeinigt, sondern darüber hinaus auch eine Friedenskonferenz verlangt. Auf ihr sollten zum ersten Mal, seit der Staat Israel existierte, Israelis und Vertreter der arabischen Staaten gemeinsam an einem Tisch verhandeln.

Wegen der Weigerung Syriens, an ihr teilzunehmen, wurde die Konferenz mit dreitägiger Verzögerung am 21. Dezember 1973 in Genf eröffnet. Vorsitzender war der Uno-Generalsekretär Kurt Waldheim; die Schirmherrschaft lag bei den Sowjets und den Amerikanern, deren Außenminister anwesend waren. Ihre Rolle machte es den Russen unmöglich, nicht zu allen Beteiligten Kontakt aufzunehmen. So kam es, daß Andrej Gromyko zum ersten Mal nach langen Jahren wieder einen israelischen Politiker empfing, den Leiter unserer Delegation, Außenminister Abba Eban. Als deren Sprecher war ich Zeuge der Begegnung in Gromykos Hotelsuite. Der Russe war zwar übertrieben bemüht, Abstand zu uns zu halten, versicherte zugleich aber, er sei kein Gegner des Existenzrechts Israels. »Wir waren immer der Meinung, Israel habe das Recht zu existieren.« Dabei hob er den rechten Arm, wies mit dem Zeigefinger der linken Hand darauf und erklärte: »Diesen Arm erhob ich 1947 in der Vollversammlung der Uno, um die Entstehung eines Staates Israel zu ermöglichen!«

Von ähnlichen Gesten war die DDR weit entfernt. Lediglich ein bekannter DDR-Politiker, Paul Merker, Altkommunist und Mitglied der SED-Parteispitze, hatte 1948 die Unabhängigkeit Israels befürwortet, ebenso die Schadenserstattung für jüdisches Vermögen, das von den Nazis enteignet worden war. Beides wurde ihm zum Verhängnis. Im Dezember 1952 wurde er verhaftet und beschuldigt, ein Zionist zu sein – zur damaligen Zeit in der DDR ein Verbrechen. Vor seiner Verurteilung als »Verräter« rettete ihn nicht der Hinweis, daß seine Äußerungen von 1948 seinerzeit der offiziellen Politik des Sowjetblocks entsprachen. Vergeblich führte er zur Verteidigung einen Leitartikel im »Neuen Deutschland« aus dem Jahr 1948 an, der die arabischen Länder wegen ihrer Aggressionen gegen Israel scharf attackiert und sie beschuldigt, auf der Suche nach Nazi-Verbrechern gewesen zu sein, um sie im Nahen Osten im Kampf gegen die Juden einzusetzen.

Erst in den achtziger Jahren begann sich die DDR-Politik gegenüber Israel zu mäßigen. Das hatte nicht zuletzt wohl auch wirtschaftliche Gründe und hing mit dem damals schon maroden Zustand der Staatsfinanzen zusammen, für die, sofern es überhaupt eine Rettung gab, Hilfe nur aus dem Westen kommen konnte. Vielleicht spukte in den Köpfen der DDR-Oberen, wie seit fast hundert Jahren unter Antisemiten, der Glaube an das »Protokoll der Weisen Zions«, die berüchtigte Fälschung der Geheimpolizei des russischen Zaren aus dem vorigen Jahrhundert, welche die Juden als Teilnehmer einer Weltverschwörung – und damit auf dem Weg zur Weltmacht – darstellt. Vor der erwarteten Hilfe aus dem Westen, dachten sie, müßten sich die Beziehungen zu Israel verbessern.

Tatsächlich gestaltete sich das Leben der winzig kleinen jüdischen Gemeinden in der DDR von da an leichter, die Behinderungen bei Kontaktaufnahmen zu jüdischen Organisationen in anderen Ländern fielen fort. Die große Hauptsynagoge in Berlin, heute Sitz des Centrum Judaicum, wurde weitgehend restauriert, und am 9. November 1988 initiierten die DDR-Behörden erstmals eine offizielle Veranstaltung zum Gedenken an die »Reichskristallnacht«. Damals war es deren fünfzigster Jahrestag.

Zu den Versuchen der DDR, sich mit den Juden besser zu stellen, gehörten auch Einladungen an Juden aus dem westlichen Ausland. Offizielle Kontakte zu Israel aber blieben nach wie vor streng untersagt. Das Touristenvisum, das Israelis neuerdings für Reisen nach Ostdeutschland beantragen konnten, war als Teil der Bestrebungen der DDR zu sehen, durch die Lockerung der Einreisebestimmungen für ausländische Besucher der chronischen Devisennot abzuhelfen. Ich wußte, daß mich mein Amtskollege in Brüssel, der DDR-Botschafter Ernst Walkowski, nie ansprechen würde. Wenn wir uns einmal begegneten, etwa auf einem offiziellen Empfang, sah er durch mich hindurch, als bestünde ich aus Glas.

Daß die DDR selbst gegen Ende der achtziger Jahre nicht davon abließ, gegen Israel gerichtete Terroranschläge zu unterstützen, deutete auf einen im Grunde unveränderten Kurs ihrer Politik gegenüber unserem Land. Die schwersten Anschläge wurden 1987 und 1988 in einem Trainingslager für palästinensische Extremisten in der Nähe von Buchenwald organisiert – ausgerechnet hier, an einem Ort mit symbolträchtigem Namen. Im Ost-Berliner Palasthotel, dem heutigen Radisson SAS Berlin, hielt sich Abu Nidal auf, ein enger Vertrauter des international gesuchten Terroristen »Carlos«. Die Anschläge auf Einrichtungen der israelischen Fluggesellschaft EL-AL auf den Flughäfen von Rom und Wien Ende 1987 mit Dutzenden von Toten und enormen Sachschäden wurden von hier aus gesteuert. Im Januar des darauffolgenden Jahres beschossen Terroristen die große Synagoge in Istanbul während eines Gottesdienstes mit Granaten. Auch hier kam es zu einem Blutbad. Ein Fehlschlag, weil von israelischen Sicherheitsbeamten rechtzeitig entdeckt, war der Versuch, auf dem Londoner Flughafen Heathrow eine Bombe in eine EL-AL-Maschine zu schmuggeln. Der mißglückte Anschlag im Jahr 1988 ging zwar auf das Konto des syrischen Geheimdienstes, Spezialisten aus der DDR aber hatten daran mitgewirkt.

Die DDR-Regierung bestritt natürlich, mit diesen Vorfällen zu tun zu haben. Aber als wir im Januar und März 1990 mit ihr verhandelten, gab uns Ministerpräsident Modrow durch den Leiter der Nahost-Abteilung seines Außenministeriums, Botschafter Neumann, das schriftliche Versprechen, die Ausbildung von Terroristen bei Buchenwald und jede andere Unterstützung politischer Gewalttäter einzustellen.

Die Gespräche mit Botschafter Neumann waren übrigens im Dezember 1989 durch mich in Gang gekommen. Damals rief mich in Brüssel überraschend mein DDR-Kollege Walkowski an und bat um einen Gesprächstermin. Er zeigte sich, als er kam, ausnehmend freundlich, ich hatte für ihn offenbar meine gläserne Transparenz verloren. Zweck des Besuchs war, mir im Namen seiner Regierung die Aufnahme diplomatischer Beziehungen anzubieten. Im Januar des folgenden Jahres kamen aufgrund des Berichts, den ich nach Jerusalem geschickt hatte, tatsächlich – und zwar in Dänemark – Gespräche zwischen Abgesandten Israels und Unterhändlern der DDR, darunter Botschafter Neumann, zustande. Ihre Fortsetzung erübrigte sich aber bald infolge der weiteren innerdeutschen Entwicklung.

Bei der Übernahme meiner Amtsgeschäfte in Bonn existierte die DDR nicht mehr, für mich blieb sie ein Mysterium. In Gesprächen habe ich zwar viel über die Mentalität und den Lebensalltag der ehemaligen DDR-Bevölkerung gehört, das Wissen darum aber bleibt oberflächlich, wenn nicht gefühlsmäßige Erfahrungen dazukommen.

1994, kurz nach meiner Ankunft in Deutschland, besichtigte ich zum ersten Mal die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Buchenwald. Ein Historiker führte mich und zeigte mir auch das zu DDR-Zeiten errichtete »Museum des antifaschistischen Widerstandes der DDR: Zur Geschichte des KZ Buchenwald«. Postergroße Fotografien an den Wänden zeigten die Befreiung des Lagers im Jahr 1945. Schriftliche Erklärungen fehlten, aber man erkannte eindeutig, daß es Soldaten der Roten Armee waren, die hier als Befreier auftraten. Total entkräftete Lagerinsassen jubelten ihnen zu. Einige Häftlinge waren bewaffnet, denn die Befreiung hatte, so war den an dieser Stelle angebrachten Texten zu entnehmen, mit einem bewaffneten Aufstand gegen die Wachmannschaften begonnen.

Als wir den Rundgang beendet hatten, fragte der Führer nach meinen Eindrücken. Er wollte wissen, ob mir etwas Besonderes aufgefallen sei. Ich zögerte, ließ dann aber höflich und mit gebotener Vorsicht durchblicken, meiner Erinnerung nach seien es nicht die Sowjets, sondern die Amerikaner gewesen, die das Lager befreiten. Ich könne mich zwar irren, aber –. »Nein, nein«, unterbrach mich mein Gegenüber, »Sie haben völlig recht.« Und er erzählte mir, daß man das Museum bewußt in dem Zustand belassen habe, in dem es sich zu DDR-Zeiten präsentierte, als Beispiel einer grandiosen Geschichtsklitterung, von der auch die Fotomontagen an den Wänden zeugten.

Fälschungen dieser Art waren mir aus anderen kommunistischen Ländern bekannt. So erinnerte ich mich an Pressemitteilungen aus der Sowjetunion, welche die Bevölkerung anwiesen, aus einer offiziellen Enzyklopädie bestimmte Seiten zu entfernen, um sie durch solche zu ersetzen, die gerade die neueste Lesart irgendwelcher Thesen wiedergaben oder altgewohnte Dogmen außer Kraft setzten, sie sozusagen aus dem offiziellen Gedächtnis strichen. Ich lächelte also verständnisvoll – war das nicht alles Vergangenheit? War diese Welt nicht ein für alle Mal verschwunden?

Ein Jahr später war ich dessen nicht mehr so sicher. Es war der 9. April 1995. Zur Feier des fünfzigsten Jahrestags seiner Befreiung sah ich das KZ Buchenwald wieder, diesmal als offizieller Gast neben vielen anderen, auch solchen aus dem Ausland. Außer der Gedenkrede von Bernhard Vogel, dem thüringischen Ministerpräsidenten, waren Ansprachen von Vertretern der Delegationen ehemaliger Häftlinge sowie von Ex-Soldaten der amerikanischen Armee vorgesehen.

Als ich mich dem Appellhof näherte, wußte ich nicht, ob ich träumte oder Außenaufnahmen zu einem Film beiwohnte: Der ganze Platz war rot von kommunistischen Fahnen mit dem Hammer-und-Sichel-Emblem. Als Bernhard Vogel seine Rede mit dem Dank an die Dritte US-Armee begann, die das Lager befreit hatte, unterbrach ihn wütendes Protestgeschrei. Immer wieder von empörten Zwischenrufern gestört, hatte er Mühe, die Ansprache zu beenden. Danach ergriff Emil Karlebach das Wort. Der Repräsentant der ehemaligen Buchenwald-Häftlinge legte sich weder auf die Amerikaner noch auf die Russen als Lagerbefreier fest, als Kommunist aber, der er war, glaubte er diese Rolle pauschal seinen Genossen zuweisen zu müssen. Kommunisten also war, Karlebach zufolge, die Befreiung zu danken, und niemand erhob dagegen Widerspruch.

Für die Wahrheit trat erst Naphtali Lau-Lavie als Zeuge auf. Der Israeli, Vertreter der ehemaligen jüdischen Lagerhäftlinge, war bei Kriegsende siebzehn Jahre alt. Nüchtern schilderte er, wie es vor dem Eintreffen der Amerikaner am 11. April von seiten der kommunistischen Mitgefangenen in Buchenwald nicht an solidarischer Hilfe, vor allem für Kinder und Jugendliche gefehlt hatte. Lavie konnte sich auch an Versuche der Kommunisten zur Selbstbefreiung erinnern. Sie mußten, zwangsläufig, an den gegebenen Umständen scheitern – »bis zu dem Tag, an dem die amerikanische Armee hier hereingekommen ist. Nur so hat man uns gerettet. Das ist die Wahrheit, und diese Wahrheit müssen wir anerkennen.« Er erhielt zwar keinen Beifall für die Rede, wurde aber auch nicht, wie der Ministerpräsident vor ihm, niedergeschrien.

Wie würden die Medien auf dieses unglaubliche Ereignis reagieren? Ich war gespannt. Kaum eine größere Zeitung in Ost und West, kaum ein Hörfunk- oder Fernsehsender, der sich der skandalösen Seite der Veranstaltung annahm und sie entsprechend kommentierte. Das ließ mich frustriert zurück und mit dem unguten Gefühl, die Menschen in den östlichen Bundesländern jetzt noch weniger zu verstehen als zuvor. Es brauchte einige Zeit, um den Unterschied zu begreifen zwischen ideologisch verkrampften, noch immer an alten Dogmen hängenden Kommunisten auf der einen Seite und dem Gros der ehemaligen DDR-Bevölkerung auf der anderen.

Für unsere Sorgen vor dem Einfluß, den die DDR nach der Wiedervereinigung auf Gesamtdeutschland ausüben könnte, blieben die in letzter Minute vorgenommenen Kurskorrekturen der DDR ohne Bedeutung. Wir lernten sehr bald, wie unbegründet unsere Befürchtungen gewesen waren: Um politischen Einfluß auf die Bundesrepublik nehmen zu können, hätte es mehr bedurft als eines mehr und mehr unglaubwürdig gewordenen Systems mit einer in vierzig Jahren abgenutzt und hohl gewordenen Propaganda. Sie hatte die Mehrheit der DDR-Bürger zuletzt immer weniger überzeugen können. Deren Wunsch war es vor allem, sich der demokratischen Welt anzuschließen, sie wollte sie weder erobern noch beeinflussen.

Das war deutlich auch der Zuschauerreaktion bei einer Podiumsdiskussion anzumerken, die das ORB-Fernsehen (Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg) im Frühjahr 1996 in Berlin veranstaltete. Sie hing mit meinem Entschluß zusammen, die alljährliche Feier zum Unabhängigkeitstag Israels nicht wie bisher in Bonn, sondern erstmals in Berlin stattfinden zu lassen. Die Entscheidung fiel übrigens gegen die Meinung meiner Mitarbeiter, die wegen des Wechsels des Veranstaltungsorts befürchteten, die meisten Gäste würden der Einladung fernbleiben. Mir ging es indessen um eine Ehrung Berlins, der neuen, alten Hauptstadt, und um eine Geste in Richtung der ostdeutschen Länder und ihrer Menschen, die jahrzehntelang – zumindest für uns – in unerreichbar weiter Ferne gelebt hatten.

Die Idee des Senders, aus diesem Anlaß einen Israel-Abend zu veranstalten, zahlte sich aus. Die Diskussion, die live übertragen wurde, sollte sich vor allem mit den Beziehungen zwischen unserem Land und der ehemaligen DDR befassen – ein heikles Thema, dessen Brisanz vermutlich Gregor Gysi bewog, die Einladung zur Teilnahme »aus familiären Gründen« abzulehnen. Statt seiner war es dann der ehemalige DDR-Staatssekretär für Kirchenfragen, Kurt Loeffler, der sich den Fragen der von Wiebke Bruhns geleiteten Runde mit der Journalistin und Schriftstellerin Inge Deutschkron und dem Historiker Michael Wolffsohn stellte, vor einem Publikum aus dem Ostteil Berlins, das sich ebenso kritisch wie ungeduldig zeigte.

Loeffler hatte an diesem Abend wahrlich keinen leichten Stand. Seine Versuche, die DDR-Politik gegenüber Israel nachträglich zu rechtfertigen, blieben auf halbem Weg stecken. Vieles daran, räumte er ein, sei auch ihm unverständlich gewesen, manches habe er auch gar nicht gewußt. Alles in allem lief sein Diskussionsbeitrag eher auf ein »Mea culpa« hinaus als auf die Verteidigung unhaltbar gewordener Positionen.

Um so aufschlußreicher und ergiebiger war die Reaktion des Publikums. Sie ließ sich nicht nur an der Vielzahl, sondern mehr noch am durchweg zustimmenden Inhalt der Briefe messen, die ich hinterher in Bonn erhielt. Nur ein Herr, der sich selber als Kommunist definierte, schrieb, ich solle mich hüten, meinen Kopf allzu weit aus dem Fenster zu hängen, sonst fände ich ihn womöglich nicht mehr wieder ...

Die Geschehnisse im Dezember 1989 vor dem sich abzeichnenden Ende der DDR, bei denen es zwischen ihr und Israel noch zu Verhandlungen in Dänemark kam, fanden eine für mich unerwartete Fortsetzung. Es war Moshe Arens, der damalige Außenminister Israels, der mich im Februar 1990 einlud, ihn nach Bonn zu begleiten. Zweck der Reise war ein Gespräch mit Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher. Arens wollte drei Themen ansprechen. Zunächst ging es darum, die Wogen zu glätten, die der Briefwechsel zwischen Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Shamir im Dezember 1989 in bezug auf eine eventuelle Wiedervereinigung verursacht hatte. Sodann sorgte sich Arens um unsere Kontakte zur DDR, das heißt, er konnte sich nicht denken, daß sie geheim geblieben waren; er fürchtete den Zorn der Bundesregierung, besonders Außenminister Genschers. Und schließlich wollte Arens seinem deutschen Kollegen die Schwierigkeiten unterbreiten, in die wir im Rahmen unserer Beziehungen zur EG geraten waren.

Dieses letzte Thema sollte ich erläutern. Ich war damals, wie gesagt, hauptsächlich mit unseren Belangen bezüglich der Europäischen Gemeinschaft befaßt, deshalb auch derjenige gewesen, der von Abel Matutes, dem für den Nahen Osten zuständigen EU-Kommissar, die Nachricht erhielt, daß die Kommission Sanktionen gegen Israel verhängt hatte.

Es war die Zeit der »Intifada«, des Palästinenseraufstands gegen die israelische Besatzung mit extremen Tätlichkeiten. Die Stimmung, die sich aus dieser angespannten Situation ergeben hatte, wirkte sich auf die diplomatischen Vertretungen Israels in der Welt verheerend aus. Ausschreitungen an den Hochschulen in den besetzten Gebieten führten dazu, daß Israel diese Lehranstalten schloß, was die EG-Kommission veranlaßte, von der Unterdrückung der Kultur in den besetzten Gebieten zu sprechen und die kulturelle und wissenschaftliche Kooperation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Israel einzustellen. Matutes, seit 1996 spanischer Außenminister, hatte die bittere Nachricht verbal zwar dahin abgeschwächt, daß er die Sanktionen mit dem französischen Wort »mesures« umschrieb, doch das änderte nichts an den Tatsachen. Wir wollten das Kind immer beim richtigen Namen genannt wissen. Israel hatte bis dahin oft unter Androhungen von Sanktionen seitens der internationalen Gemeinschaft zu leiden gehabt. Es war dies das erste Mal, daß sie in die Tat umgesetzt werden sollten. Einziger Zweck meiner Reise war der Versuch, Herrn Genscher zu erklären, wir seien der Ansicht, daß Deutschland sich nicht an dem Vorhaben beteiligen solle.

Es war mein allererster Besuch in Deutschland und in Bonn. Allerdings blieb ich nur diesen einen verschneiten Wintertag, übernachtet habe ich in einem Hotel auf dem Venusberg. Das Gespräch fand am nächsten Morgen im Auswärtigen Amt am Frühstückstisch statt. Was das erste Thema anging, so war Genscher offenbar an keinem Streit gelegen, er wollte keine Polemik. Als Arens zum Ausdruck brachte, er wolle die Geschichte der Korrespondenz zwischen Kohl und Shamir in einem mehr versöhnlichen Licht sehen, griff Genscher diese Äußerung sofort auf und deutete an, das Mißverständnis sei ausgeräumt.

Zum zweiten Punkt, die auf Initiative der DDR zustande gekommenen Kontakte mit Israel, erklärte Arens, darüber wolle er nunmehr Bericht erstatten. Darauf ergriff sein Berater Michael Shiloh das Wort, ehemaliger Gesandter an der israelischen Botschaft in Bonn und später Botschafter in Oslo. Shiloh hatte die Gespräche mit Vertretern der DDR in Kopenhagen geführt. Er nannte die drei Vorbedingungen, die wir der DDR für die Aufnahme von Gesprächen über diplomatische Beziehungen gestellt hatten: die Einstellung der feindseligen, halb antisemitischen, halb anti-israelischen Propaganda, die Anerkennung der Verantwortung Ostdeutschlands in bezug auf die deutschen Verbrechen in der Nazi-Zeit, und, drittens, das Unterlassen jeder Unterstützung von extremistischen Terroristen und die Schließung des Übungslagers in der Nähe von Buchenwald.

Zu diesem Zeitpunkt wußte Shiloh noch nicht, wie die DDR auf unsere Forderungen reagieren würde. Erst als er im darauffolgenden Monat erneut mit Botschafter Neumann in Kopenhagen zusammentraf, erhielt er die erwähnte Stellungnahme der Modrow-Regierung, die in allen Punkten unseren Bedingungen entsprach.

Genscher reagierte positiv auf unsere Informationen, schrieb Shiloh in seinem Bericht nach Israel, er gab grünes Licht, die Gespräche mit der DDR fortzusetzen. Ich persönlich habe seine Antwort etwas anders in Erinnerung, mit einem leicht saloppen Unterton. Sinngemäß sagte Genscher etwa: »Na, wenn es euch Spaß macht, jetzt mit der DDR zu verhandeln, dann tut es. Mich wird das nicht stören ...« Immerhin hatten wir die Gewißheit, daß unsere Kontakte mit der DDR für ihn kein Streitobjekt waren.

Als wir die beiden empfindlichen Punkte abgehakt hatten, wandten wir uns dem dritten zu. Arens stellte das Thema vor – Sanktionen der EG gegen Israel – und machte den Vorschlag, ich solle es ausführlich darlegen. Doch Genscher unterbrach und meinte, das sei nicht nötig, er kenne das Problem und finde, daß die Kommission im Unrecht sei. Erstens hätte sie keine Sanktionen gegen Israel verhängen sollen, zweitens habe sie ihre Zuständigkeit überschritten. Er werde deshalb alles tun, um den Beschluß zu annullieren, auch aus Gründen interner Überlegungen hinsichtlich der europäischen Verfassung.

Die Wirklichkeit sah dann freilich anders aus. Erst der Golfkrieg und die folgende Nahost-Friedenskonferenz im Oktober 1991 konnten die EG-Kommission dazu bewegen, die Sanktionen gegen Israel aufzuheben.

Jener Wintertag in Bonn war für mich ein Tag emotionaler Erfahrungen. Endlich war ich in Deutschland gewesen, hatte nun sogar Verbindungen zu einem deutschen Ministerium und war fast erstaunt, wie wenig mich das aufregte. Das Interesse an dem Land, das sich im Laufe meiner Amtszeit in Brüssel entwickelt hatte, der Umgang mit Deutschen in europäischen Gremien, vor allem aber, daß aus dem anfänglichen Interesse zunehmend Neugier wurde, die ich mit Lesen stillte – alles das trug seit dem Kurzbesuch am Rhein allmählich zur Entmystifizierung meines Deutschlandbildes bei. Ich wußte, wie wichtig Deutschland für die Europäische Union war, würde die Union aber auch für Deutschland wichtig werden, womöglich unentbehrlich?

Viel über ein Land wissen bedeutet nicht, daß man es kennt. Mitte der siebziger Jahre hatte ich als Sprecher des Auswärtigen Amts in Jerusalem oft mit Auslandsjournalisten zu tun. Auf Nahost-Probleme spezialisiert, reisten sie regelmäßig in arabische Länder. Es war natürlich immer wieder interessant, von ihnen über die für uns verbotene Welt zu hören, zu einer Zeit, da man nicht einmal eine Postkarte von einem Teil Jerusalems in den anderen schicken konnte. Obwohl von ihnen abgeschnitten, wußten wir immens viel über unsere Nachbarstaaten. Eine Journalistengruppe, die ich eines Tages empfing, schwärmte geradezu vom Kenntnisreichtum unserer Nahost-Experten. Ob Akademiker, Beamte oder Geheimdienstoffiziere – nirgendwo sonst, nur in Israel gebe es so viele Fachleute mit einem derart umfassenden Wissen über die arabische Welt. »Nur«, fügten sie hinzu, »wenn sie auch alles wissen – verstehen tun sie absolut nichts.«

Jahre später bestätigte sich, was damals ein halb wohlmeinender, halb kritischer Scherz sein mochte. Der Frieden mit Ägypten ermöglichte erstmals Reisen dorthin, später durfte man auch in andere arabische Länder. Immer wieder bekam ich da von Experten, aus deren Arbeiten ich die Grundlagen meines Nahost-Wissens bezog, das Eingeständnis zu hören, nun erst fingen sie an, die Probleme der arabischen Welt wirklich zu begreifen. Alle Kenntnisse, die Fülle aller Informationen hatten ihnen bis dahin nichts genutzt.

Bevor ich die Lehren daraus voll auf mein Verhältnis zu Deutschland anwenden konnte, hatte das Schicksal anderes mit mir vor. Im Oktober 1991 erreichte mich das Angebot der Hebräischen Universität in Jerusalem, der ersten und renommiertesten Hochschule Israels, ihr Vizepräsident zu werden. Das Amt war mit zwei Sonderressorts ausgestattet. Das erste umfaßte die Zuständigkeit für alle auswärtigen Beziehungen der Universität, das zweite war dazu angetan, einen ehrgeizigen Wunschtraum zu erfüllen, nämlich die Beteiligung an der Gründung eines Instituts für Europäische Studien, das der Universität angeschlossen werden sollte.

Während meiner Brüsseler Tätigkeit war ich ohnehin zu der Erkenntnis gekommen, daß es in unseren Beziehungen zu Europa eine große Lücke gab, die, wollten wir uns tatsächlich der EU annähern, unbedingt geschlossen werden mußte. Faktisch, auf dem Gebiet des Handels und der Wirtschaft, war die Union bereits zu unserem größten Partner geworden. Für unsere Zukunft zeichnete sich ab, daß wir immer mehr auf eine Einbindung in die EU angewiesen sein würden. Mittelfristig wird die Entwicklung unseres Landes in der Tat von einer Zusammenarbeit mit Westeuropa abhängig sein.

Dieser, wie ich glaube, realistischen Einschätzung entspricht leider nicht die Mentalität meiner Landsleute. Aus unterschiedlichen Gründen haben sie sich in allen Schichten nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich von Europa entfernt, wozu gewiß auch die lange nachwirkenden Erinnerungen an den Holocaust beigetragen haben. Die Israelis haben nur noch Augen für die Vereinigten Staaten. Ohne die Freundschaft und Zusammenarbeit mit den USA zu unterschätzen – ich halte sie nach wie vor für unverzichtbar –, sehe ich das Abrücken von Europa unter ausgesprochen negativen Vorzeichen, zu einem Zeitpunkt zumal, da es eigentlich zu einer Hinwendung kommen müßte.

Die Teilnahme an Veranstaltungen, zu denen ich des öfteren von Brüssel nach Israel eingeladen wurde, um über die Europäische Union zu sprechen, verstärkte meinen Eindruck, daß die Israelis durchaus die Probleme der EG verstehen und zugleich wissen, welche Hoffnungen und welche neuen Möglichkeiten sich für sie dank der Europäischen Union ergeben. Aber dieses Verständnis ist mehr ein intellektuelles und theoretisches. In der Praxis sind es immer noch die USA, die als Ziel, Partner und Schauplatz für Studien, persönliche Entfaltung, Investitionen und alle möglichen Formen der Kooperation am ehesten in Betracht kommen. Eine Liste der Hebräischen Universität mit den Namen der Professoren, die sich zu dem Zeitpunkt, als ich dort meine Tätigkeit aufnahm, für ein Sabbatjahr an ausländischen Universitäten aufhielten, zeigte, daß fast alle, nämlich achtundneunzig Prozent, zu Gast in den Vereinigten Staaten waren – ein vielleicht zufällig besonders hoher Anteil, doch ein durchaus typisches Phänomen.

Ich sah nur eine Möglichkeit, die Situation zu ändern, nämlich durch Erziehung. Ein Wechsel der Gewohnheiten, ein Wandel der Mentalität läßt sich nicht willkürlich erzwingen, er kann nur allmählich geschehen. Tatsache ist, daß man in Israel zwar viel über europäische Länder wußte, aber es fehlte an Informationsmöglichkeiten über die Europäische Union, über deren Institutionen, ihre Gesetzgebung, Wirtschaft und gemeinsame Kultur. Als ich die Universität von der Notwendigkeit zu überzeugen begann, ein Institut für Europäische Studien einzurichten, dachte ich nicht so sehr an mich. Erst aus den zunehmend enger werdenden Beziehungen in dieser Angelegenheit ergab sich, wie gesagt, 1991 das Angebot, selber an die Universität zu kommen.

Um die neue Stelle anzutreten, bat ich das Auswärtige Amt um Beurlaubung. Dahinter stand die Absicht, ganz aus dem diplomatischen Dienst auszuscheiden. In Anbetracht meines Alters, meinte ich, sei es an der Zeit, ein neues Leben mit einer neuen Karriere zu beginnen. Meine Interessen waren ausschließlich darauf fixiert. Eine Kündigung mit allen Konsequenzen aber kam nicht in Frage, weil ich nicht wußte, ob mir der Einstieg in die Universitätslaufbahn gelingen würde. Ich wollte die Brücken hinter mir nicht abbrechen.

Einige Kollegen im Auswärtigen Amt gaben mir eine Abschiedsparty. Ich hielt eine kurze Rede und erklärte, daß ich in voller Zufriedenheit schiede. Ich hätte einen höchst befriedigenden, vielfältigen Weg hinter mir und glaubte, die Möglichkeiten, die der diplomatische Dienst biete, ausgeschöpft
zu haben. »Theoretisch«, fügte ich hinzu, »könnte es darin
nur noch eine Herausforderung geben, und die wäre Deutschland. Aber das ist vorbei, man kann im Leben nicht alles haben.« Ich verabschiedete mich mit dem guten Gefühl, mein Bestes getan zu haben.

Wie erwartet, bereitete mir die Arbeit in der Universität viel Freude. Die Erinnerung an die langjährige Tätigkeit im diplomatischen Dienst verblaßte mehr und mehr. Doch als man 1993 wieder einmal einen Botschafter für Deutschland suchte, entsannen sich Freunde und Kollegen der Worte, mit denen ich den diplomatischen Dienst quittiert hatte. Man rief mich an und fragte, ob mir Deutschland immer noch eine Herausforderung bedeute, ob ich mir vorstellen könne, für den Posten des Botschafters in Bonn zu kandidieren.

Der Anruf löste eine Flut widersprüchlichster Empfindungen aus. Einerseits war es tatsächlich so, daß mich Deutschland mit den Aufgaben, die mich dort erwarten würden, stark anzog, mit einer Kraft, auf die ich mit mehr als nur mit Interesse oder Neugier reagierte. Andererseits hatte ich mir einen neuen Wirkungskreis aufgebaut, hatte neuen Ehrgeiz entwickelt und mich auf neue Arbeiten konzentriert, hatte auch einen neuen Freundeskreis gewonnen. Außerdem wußte ich, daß ich, falls ich die Universität verließe, um ins Auswärtige Amt zurückzukehren, keine andere Laufbahn mehr beginnen könnte. Ich würde also Diplomat bleiben bis zum Ruhestand, für einen Neuanfang wäre es dann zu spät. Das einzig Vernünftige wäre, an der Universität zu bleiben.

Am Ende aller Überlegungen – Vernunft hin, Vernunft her – stand der Entschluß, die Herausforderung anzunehmen. Meine Familie und ich kamen im Oktober 1993 nach Deutschland. Von Frankfurt am Main, wo die Maschine landete, fuhr die Familie direkt nach Bonn, während ich nach Mannheim reiste, um mich dort meiner ersten wirklichen Herausforderung zu stellen. Unvermeidlich und alles andere als leicht, erfüllte mich schon der bloße Gedanke an sie mit einigem Bangen – das Erlernen der deutschen Sprache.

Es ist, besonders in schon fortgeschrittenem Alter, tatsächlich nicht einfach, sich eine fremde Sprache anzueignen. Für mich kam erschwerend die Vorstellung hinzu, daß ich sofort mit dieser Sprache würde umgehen müssen: Zum ersten Mal in meinem Leben würde ich in einem Land arbeiten, dessen Sprache ich nicht beherrschte. Ich war das ganz einfach nicht gewohnt. Außerdem wußte ich, daß alle meine Amtsvorgänger in Bonn in ihrer Jugend deutsche Schulen besucht hatten, sie hatten Deutsch als Muttersprache gehabt. Ich bin in Deutschland der erste Botschafter Israels, der in Israel auch geboren ist, vorher in keinem deutschsprachigen Land gelebt, nie eine deutsche Schule besucht hat.

Welchen Eindruck würde ein israelischer Botschafter machen, der sich, anders als seine Vorgänger, nur mühsam und fehlerhaft in der Sprache des Gastlandes ausdrücken konnte? Das durfte nicht sein, nicht diese Blamage. So sperrte ich mich im Mannheimer Goethe-Institut einen Monat lang regelrecht ein, um von morgens früh bis spät in die Nacht nichts anderes zu tun als Deutsch zu lernen. Zu Hilfe kam mir dabei, daß meine in Deutschland geborene Mutter mir ein Gefühl für die Eigenheiten ihrer Sprache vermittelt hatte, für ihre Klangfarbe und die Art der Betonung. Es war meine Aussprache, nach der meine Mitstudierenden am Anfang den Eindruck gewannen, meine Deutschkenntnisse seien schon recht ordentlich. In Wirklichkeit jedoch war mein Wortschatz gering. Ich verstand die Nachrichten im Radio nicht, konnte weder deutsch schreiben noch deutsche Zeitungen lesen, von Grammatik hatte ich nicht die geringste Ahnung.

Aber es gab noch ein anderes Problem. Vom ersten Tag an stellte sich die Frage nach meiner persönlichen Sicherheit. Sollte ich, wie heute auf Schritt und Tritt bewacht, von Sicherheitsbeamten flankiert zur Sprachschule gehen, mit Begleitschutz in eine Klasse kommen, die hauptsächlich aus Jugendlichen bestand und mich mit Neugier und Argwohn verfolgen würde, wenn ich mich nicht unauffällig verhielte? Die nicht zu verheimlichende Nähe von Sicherheitsleuten bot dafür die allergeringste Gewähr. Folglich mußte man eine andere Lösung finden.

Da mich noch kaum jemand in Deutschland kannte, ich mich noch bei keiner Behörde vorgestellt oder sonstwo öffentlich in Erscheinung getreten war, durfte ich einen Monat lang in Mannheim ohne Sicherheitsbeamte leben, allerdings mit anderer Identität. Zu der in meinem Fall erteilten Ausnahmegenehmigung gehörte, daß die Verwaltung der israelischen Botschaft den Personalfragebogen des Goethe-Instituts ausfüllte. Dort erschien mein Name – ohne Vornamen – einfach als »Schmidt«, sinnigerweise, denn aus den übrigen Angaben ging hervor, daß ich Israeli sei, eine Weile in der Bundesrepublik leben und die Sprache erlernen sollte. Prompt fragte mich die Lehrerin, als sie in der ersten Stunde die Fragebögen der Schüler durchsah: »Wie ist Ihr Vorname, Herr Schmidt?« Auch nur einen Moment zu zögern, hätte die Tarnung auffliegen lassen, ich dachte an meinen »echten« Vornamen, der mit A anfängt, und log blitzschnell, da mir kein anderer Name in den Sinn kam: »Albert!« Doch da ging es schon weiter: »Was für einen Beruf haben Sie, weshalb wollen Sie jetzt eine Zeitlang in Deutschland leben?« Wieder mußte die Antwort rasch kommen. Ich dachte an meinen Sohn in Israel und sagte: »Ich bin Journalist, meine Zeitung heißt ›Ha’aretz‹, ich soll hier als Korrespondent für sie arbeiten.« Die Lehrerin gab sich zufrieden, stellte aber die erste Aufgabe: Um sich einen ungefähren Eindruck von meinen damaligen Deutschkenntnissen zu verschaffen, sollte ich einen Aufsatz schreiben – über den Beruf, den ich angegeben hatte.

Mein Sohn Adar ist tatsächlich »Ha’aretz«-Journalist, Chefredakteur für Auslandsnachrichten. Insofern fiel es nicht schwer, mich in seine Haut zu versetzen und zu Papier zu bringen, was er an meiner Stelle geschrieben hätte. Der Versuch gelang, wenn auch – natürlich – mit allen nur möglichen Fehlern.

Wohl um uns zu »ermutigen«, überließ uns die Lehrerin, Ursula Bodmer, nach einiger Zeit einen Text, der die Schwierigkeiten eines Studierenden der deutschen Sprache auf den Punkt bringt. Mark Twain, der amerikanische Schriftsteller, schrieb ihn sich aus eigener leidvoller Erfahrung im vorigen Jahrhundert von der Seele. Unter der Überschrift »Begabte Menschen können in dreißig Jahren Deutsch lernen« schildert der Humorist, wie er sich zunächst mühelos »ein bißchen Chinesisch, ein oder zwei indische Dialekte und ein paar klassische Sprachen« aneignete, im Kampf mit der deutschen Sprache aber blieb diese Sieger.

Sarkastisch geißelt Mark Twain die Fallen und Widersprüche des Deutschen. »Zum Beispiel die Verteilung des Geschlechts: Im Deutschen ist ein junges Mädchen geschlechtslos, eine Steckrübe dagegen nicht, sie ist weiblich. Welch unangemessene Hochachtung vor der Steckrübe, welche Kälte gegen das Mädchen! Und weiter: Mund, Hals, Busen, Ellbogen, Finger, Nagel und Fuß – das alles ist männlich, wie überhaupt der ganze Körper als solcher. Der Kopf oder das Haupt ist männlich oder geschlechtslos, je nachdem, welches man wählt, nicht etwa, wem dieser Körperteil gehört, denn in Deutschland haben auch die Frauen männliche oder geschlechtslose Köpfe. Dagegen haben alle Leute weiblich: Nasen, Lippen, Schultern, Hände, Hüften, Zehen usw., andererseits haben aber ihre Haare, ihre Augen und Ohren, ihr Kinn und ihr Gewissen überhaupt kein Geschlecht.«

Problematisch am Deutschen findet der Amerikaner auch die, wie er sie nennt, »Klammerkrankheit«, die Neigung zu langen, unentwirrbaren Gebilden aus Schachtel- und Nebensätzen. Seine Studien hätten ihn davon überzeugt, meint er schließlich, »daß ein sehr begabter Mensch in dreißig Jahren Deutsch lernen kann ... Unbegabte brauchen länger. Sollte die deutsche Sprache so bleiben, wie sie ist, ohne etwas gestutzt und allgemein überholt zu werden, dann sollte man sie behutsam und ehrfürchtig beiseite legen, zu den anderen toten Sprachen, denn nur ein Toter hat Zeit, sie zu lernen.«

Und ich sollte es in vier Wochen schaffen? Immerhin, es war ein glücklicher Monat, den ich in Mannheim verbrachte. Unverhofft konnte ich in meinem Alter noch einmal wie ein Student leben, mich zum ersten und letzten Mal in Deutschland frei bewegen, zu Fuß oder auf dem Rad, ohne begleitet und beschützt zu werden. Mannheim kenne ich deshalb besser als jede andere Stadt in Deutschland, scherzhaft nenne ich sie oft meine deutsche Heimatstadt. Zwei Jahre nachdem ich sie als Sprachschüler verlassen hatte, durfte ich mich während einer Feierstunde in das Goldene Buch der Stadt eintragen.

Am vorletzten Tag, ich saß in der Mediathek, kam der Institutsleiter Reinhard Dinkelmeyer auf mich zu: »Entschuldigen Sie, Herr Schmidt, darf ich eine Minute stören?« Sein Anliegen war, daß seine Frau, eine Journalistin, einen Beitrag für die Hamburger »Zeit« über Auslandskorrespondenten in Deutschland vorbereitete und mich zu interviewen plante. Das war, wenn ich an meine gefälschte Identität dachte, ein Vorhaben, das übel für mich ausgehen konnte. Also versuchte ich abzuwehren: Ich sei nicht der richtige Partner für ein solches Interview, schließlich hätte ich meine Tätigkeit für »Ha’aretz« noch gar nicht angetreten, sei noch nicht einmal in Bonn gewesen. Das wisse er, sagte Dinkelmeyer, es ginge seiner Frau auch nicht darum, etwas über den Alltag ausländischer Korrespondenten zu erfahren. »Von Ihnen will sie wissen, warum eine israelische Zeitung einen Korrespondenten eigens nach Deutschland schickt. Welche Erwartungen dahinter stehen und wo die Schwerpunkte Ihrer Arbeit liegen werden.« Das leuchte mir ein, sagte ich, es ließe sich auch manches zu den Fragen sagen, nur hätte ich leider keine Zeit. Ich vertröstete ihn auf morgen.

Der Tag darauf war mein letzter in Mannheim. Während ich mich noch in der Mediathek aufhielt, wartete unten schon der Fahrer. Die Koffer waren bereits im Wagen, um ihn herum standen die Sicherheitsbeamten, die aus Bonn gekommen waren. Jetzt, dachte ich, ließ sich nichts mehr verheimlichen.

Da kam Frau Dinkelmeyer, um, wie angekündigt, ihre Fragen zu stellen. Als sie nach einem geeigneten Platz Ausschau hielt – »Herr Schmidt, was glauben Sie, wo können wir uns setzen?« –, ließ sich mein Geständnis nicht mehr länger aufschieben. Ich sei nicht derjenige, für den man mich wochenlang gehalten habe, sagte ich. »Aber bevor ich Ihnen die Wahrheit sage und damit Sie glauben, daß ich Ihnen nicht wieder eine falsche Geschichte erzähle, sehen Sie sich bitte diesen Paß an.« Ich überreichte ihr meinen Paß, sie schlug ihn auf, sah aber offenbar nicht auf das Foto, sondern las nur meinen Namen, den richtigen, und meinen Titel. Verblüfft blickte sie mich an: »Ich verstehe nicht, was das mit uns zu tun hat. Dieser Paß von irgendeinem Botschafter – was soll ich damit?«

Erst als ich sie bat, sich das Bild anzusehen, begriff sie die Zusammenhänge und ließ erschrocken den Paß auf den Tisch fallen. Ich versuchte, ihr zu erklären, warum ich gezwungen gewesen war, meine wahre Identität hinter der eines Herrn Schmidt zu verbergen. »Heißt das nun«, fragte sie, »daß ich Sie mit ›Exzellenz‹ ansprechen muß?« Schließlich, als sich ihre Verwirrung ein wenig gelegt hatte, bat ich Frau Dinkelmeyer, sie zum Mittagessen einladen zu dürfen, sozusagen als Entschädigung – wir hatten diese Stunden ja ohnehin für ein Gespräch reserviert. Es nahm, als wir gut gelaunt am Tisch saßen, einen anderen, von den ursprünglich geplanten Themen abweichenden Verlauf. Und urplötzlich wurde mir bewußt, daß dies nach einem Monat intensivsten Lernens das erste Mal war, daß ich mich mit jemandem deutsch unterhielt.

Dann machte ich mich auf den Weg nach Bonn.

Meine Frau Ziona und ich haben, um uns auf Deutschland vorzubereiten, nicht nur viel gelesen und gelernt. Wir erhielten vor der Abreise auch manche praktischen Ratschläge, vor allem vom ehemaligen Botschafter Miki Ben-Ari und dessen Frau Pnina. Bei der Ankunft fühlte ich mich trotzdem wie vor der »Stunde Null«. Was würde mich erwarten?

Daß Deutschland mir als Herausforderung erschienen war, stand außer Frage. Ich sah mich indessen außerstande, diese Herausforderung zu präzisieren, und damit verschwammen unweigerlich auch die Umrisse meines Auftrags. Gewiß, ich war gut informiert, hatte viel über Deutschland gelesen und gehört und wußte doch zugleich, daß Lesen und Hören für eine wirklich fundierte Urteilsbildung nicht ausreichten. Nachdenklich machte mich auch ein Kapitel in dem schon erwähnten Buch »In schwieriger Mission« eines meiner Vorgänger, Yohanan Meroz, der von 1974 bis 1981 Botschafter in der Bundesrepublik gewesen war. Ich las das Buch noch vor der Abreise, neugierig, etwas über die Schwierigkeiten der Mission zu erfahren, die nun meine sein würde.

Meroz schrieb: »Die entscheidenden Schwierigkeiten hat der in Deutschland weilende Israeli ... nicht mit äußeren Formen ... Das wirkliche Problem liegt in seinem Nichtwissen um die Person vieler Gesprächspartner, die zur Hitlerzeit nicht mehr Kinder waren, er trifft sie auf Schritt und Tritt im öffentlichen wie im privaten Leben. So ist es noch immer unvermeidbar, daß der israelische Diplomat in Ausübung seiner Aufgabe auf Menschen stößt, stoßen muß, die die braune Zeit nicht nur erlebt, sondern aktiv an ihr teilgenommen haben.«

Diese Teilnahme, führt Meroz aus, mag »objektiv« als belanglos angesehen werden, für den Israeli aber, wohl für jeden Juden, gewinne eine derart vermeintliche Harmlosigkeit sofort eine andere Dimension. Er selbst sei »stets von der harten Voraussetzung ausgegangen, daß man das Dritte Reich nur durch bewußte Gleichschaltung – freiwillige oder erzwungene – überstehen konnte, und das bedeutete ›Mitmachen‹.« Auch auf die Gefahr hin, Unbescholtenen Unrecht zu tun, habe er es nicht über sich gebracht, in unklaren Fällen die Regel »in dubio pro reo« walten zu lassen. Und: »Wo ich belastendes Wissen hatte und einer zweckdienlichen Begegnung nicht ausweichen konnte, vollzog ich eine rigorose Trennung zwischen beruflicher Unverzichtbarkeit und persönlicher gesellschaftlicher Verweigerung.«

Für ihn sei der Ekel, den er beim Betreten des Zimmers eines ehemaligen Parteigenossen oder SS-Mitglieds empfand, leichter zu überwinden gewesen als die »Sorge, durch emotionelle Schwäche das Interesse Israels zu beeinträchtigen.« Man könne als »guter« Israeli auch anders reagieren. »Doch so oder so, vor Entscheidungen dieser Schwere steht ein israelischer Botschafter in Bonn ständig, und er hat sich ihnen zu stellen.«

Dieses Selbstzeugnis von Meroz mochte hochinteressant, sogar bewegend sein, aber ich glaubte nicht, daß es für meine künftige Arbeit von großer Bedeutung sein würde. Wie sollte es auch – diejenigen, die in der NS-Zeit aktiv gewesen waren, wo und wie auch immer, befanden sich im Ruhestand, waren, sofern Meroz sie noch erlebt hatte, womöglich tot. Ich verstand Meroz gut, die Bundesrepublik muß sich, wie ich jahrelang israelischen Presseberichten entnommen hatte, unendlich schwergetan haben bei dem Versuch, sich des Erbes der großdeutschen Vergangenheit zu entledigen. Da waren nach dem Krieg, wie es hieß, in Ämter und Behörden wieder Nazis eingezogen. Mancher Kriegsverbrecher hatte wenn nicht mehr den alten, so doch einen vergleichbar neuen Posten inne, der ihm Macht und öffentlichen Einfluß gab; ganze Gremien wurden von Alt-Nazis geleitet, ohne daß irgend jemand daran Anstoß nahm. Erst 1958, nach der Einrichtung der Zentralstelle für die Verfolgung von Naziverbrechen in Ludwigsburg, habe die systematische Jagd auf NS-Straftäter begonnen, berichtet Inge Deutschkron in ihrem Buch »Mein Leben nach dem Überleben«. Der Versuch, die Vielzahl der Verbrechen aufzuklären, sei ein »schier unmögliches Unterfangen« gewesen, zumal die wenigen ermittelnden Staatsanwälte nicht sicher sein konnten, »ob eine Aufklärung jemals oder nur lax erfolgte. Schließlich wurde die Polizei zu jener Zeit in erheblichem Maße von ehemals leitenden Funktionsträgern der SS beherrscht. Von den 33 leitenden Stellen der Kriminalpolizei in Nordrhein-Westfalen waren 20 von ehemaligen SS-Sturmbannführern und SS-Hauptsturmführern besetzt.«

Solche und ähnliche Geschichten gingen mir durch den Kopf, als ich im Auto auf dem Weg nach Bonn war. Was mich fast noch mehr beunruhigte als die unzulängliche und nur halbherzig betriebene Verfolgung von Nazi-Verbrechen, war der Gedanke, daß die NS-Justiz, die so viel Unrecht produziert hatte, ihre Art der Rechtsprechung auch noch lange nach dem Krieg fortgesetzt hat, mit oft grotesken, in jedem Fall deprimierenden Urteilen. Sie machten deutlich, wie unheilvoll lebendig der Geist der einstigen Sonder- und Standgerichte selbst noch in den fünfziger Jahren war. Aber auch diese Dinge, sagte ich mir, gehörten der Vergangenheit an.

Immerhin, es hatte sie gegeben. Bald nach dem Krieg, 1946, etwa den Fall des Journalisten Garbe, den das Lübecker Landgericht für fünf Monate ins Gefängnis schickte. Wegen Abhören eines »Feindsenders« Ende 1943 von einem Militärgericht in Stralsund zum Tode verurteilt, konnte Garbe, nachdem er einen Polizeibeamten niedergeschlagen hatte, flüchten und bis Kriegsende untertauchen. Die Anklage in Lübeck erfolgte wegen »Widerstands gegen die Staatsgewalt« und »versuchten Totschlags«. Im März 1947 bestätigte das Oberlandesgericht Kiel das Urteil mit der Begründung, die Amtstätigkeit eines Vollzugsbeamten sei »bei pflichtgemäßer Vollstreckung immer rechtmäßig«. Ingo Müller, der diesen Fall in seinem Buch »Furchtbare Juristen« dokumentiert, merkt dazu lakonisch an: »Garbe wurde also dafür bestraft, daß er sich vom NS-Staat nicht hatte hinrichten lassen.«

Aus anderen Urteilen, die Müller sammelte, geht hervor, wie nachsichtig und verständnisvoll die Justiz der jungen Bundesrepublik vielfach mit Leuten verfuhr, die als ehemalige NS-Richter auf der Anklagebank saßen. Nicht selten wurde das Unrecht, das sie vor 1945 gesprochen hatten, nachträglich durch Freisprüche sanktioniert wie in jenem Verfahren gegen die Kasseler Sonderrichter, die einen Ingenieur wegen »Rassenschande« zum Tode verurteilten. Es seien »die damaligen Kriegsverhältnisse zu berücksichtigen«, meinte das Landgericht Kassel 1952, ein »Rechtsirrtum« habe nicht vorgelegen. In anderen Fällen wurde Richtern oder anderen Amtsträgern Pflichtwidrigkeit vorgeworfen, weil sie die Bestätigung von noch kurz vor Kriegsende verhängten Todesurteilen verweigert und für ihren Mut mit dem Leben gebüßt hatten.

Bekannt war auch die mangelnde Bereitschaft deutscher Gerichte in der Nachkriegszeit, Menschen zu rehabilitieren, die im Dritten Reich Opfer politischer Gewalt geworden waren. Oft bestand ihr Vergehen allein darin, daß sie Menschlichkeit bewiesen hatten in einer Zeit, die zunehmend barbarischer wurde. Ingo Müller erzählt die Leidensgeschichte einer Frau, die während des Kriegs als damals Siebzehnjährige ein Liebesverhältnis mit einem jungen polnischen Fremdarbeiter eingegangen war. Der achtmonatigen Gefängnisstrafe, die sie dafür erhielt, folgten – nach einem Schutzhaftbefehl Reinhard Heydrichs – zwei Jahre KZ-Haft in Ravensbrück, nach denen die vom Tod Gezeichnete als »nicht mehr lagerfähig« zu ihren Eltern zurückgeschickt wurde. Im späteren Streit um Entschädigung und Rente für die erlittenen schweren Gesundheitsschäden siegten die Gerichte. Sie bestritten rundweg, daß es für die Verurteilung der Frau eindeutige politische Gründe gegeben hatte; auch Heydrichs Schutzhaftbefehl beruhe »auf allgemeinen sicherheitspolitischen Erwägungen, nicht aber auf der Absicht, die Klägerin politisch zu verfolgen«. Nach deren Tod, sie wurde nicht älter als siebenundzwanzig, haben ihre Eltern versucht, die Entschädigungsansprüche der Tochter gerichtlich durchzusetzen. Auch sie hatten keinen Erfolg.

Auf dem Weg nach Bonn war mir natürlich nicht jedes Detail dieser Geschichten gegenwärtig. Wohl aber wußte ich, daß sie sich wirklich ereignet hatten, so etwa wie ich wußte, daß Hans Globke, der Mitverfasser eines Kommentars zu den sogenannten Nürnberger Erlassen, dem großen Adenauer als Staatssekretär und engster Berater gedient hatte. Das einzig Tröstliche an dem einen wie dem anderen war, daß es der Vergangenheit angehörte.

 

Als Gesandter in Paris mit Botschafter Asher Ben Natan (zuvor erster israelischer Botschafter in Bonn) und Außenminister Yigal Alon (rechts), 1975.

Denn längst hatten, das war auch in Israel bekannt, die ehemaligen Amtsträger des Dritten Reiches die oft sehr einflußreichen Posten verlassen, die sie nach Kriegsende bekleideten. Es gab keine Alt-Nazis an der Spitze der Regierung mehr. Das Wort von der »Republik der Restauration«, das in den fünfziger, selbst noch in den siebziger Jahren so häufig zu hören gewesen war, entsprach nicht mehr der Wirklichkeit. Es war tatsächlich ein anderes Deutschland entstanden. Ich konnte deshalb davon ausgehen, daß sowohl für die Dauer meiner Amtszeit wie auch für das Amt selbst und für mich persönlich die Berichte von Yohanan Meroz nicht mehr relevant waren. Botschafter Ben Natan hatte, während er in Bonn amtierte, noch einen Mann wie Gerhard Schröder, ehemaliges SA- und NSDAP-Mitglied, als bundesdeutschen Außenminister fungieren sehen. Und Ben Natan erlebte, während er in Bonn war, auch noch den Kanzler Kurt Georg Kiesinger, einst ebenfalls Angehöriger der Nazi-Partei und im Auswärtigen Amt des Dritten Reiches zuständig für Propaganda.

Die Probleme also, die meine Vorgänger beschäftigt hatten, würden nicht mehr die meinen sein. Ich kannte sie, war sogar verpflichtet, sie zu kennen, würde mich aber nicht mehr auf
sie einlassen müssen, davon war ich fest überzeugt. Beispielsweise die sogenannte Verjährungsfrage, deren Schwierigkeiten Ben Natan und Meroz intensiv beschäftigt hatten.

Nachdem 1960 in der Bundesrepublik die fünfzehnjährige Verjährungsfrist für Totschlag abgelaufen war, bestand die Gefahr, daß 1965 auch die Verjährungsfrist für Mord, auf zwanzig Jahre festgesetzt, unwiderruflich rechtskräftig werden würde. Daß dies, wenn nicht noch etwas Entscheidendes geschah, nicht nur den Unwillen des jüdischen Volks hervorrufen mußte, konnte man sich leicht vorstellen. Viele Nazi-Verbrecher, in Deutschland bis dahin kaum oder nur sehr milde bestraft, hätten sicher sein dürfen, künftig nicht mehr belangt oder, falls es doch zur Anklage gekommen wäre, freigesprochen zu werden. Da es im Deutschen Bundestag keine Mehrheit gab für die Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord oder Völkermord, einigte man sich auf einen Kompromiß. Er wurde dadurch ermöglicht, daß man nicht das Jahr des Kriegsendes, 1945, sondern das Gründungsjahr der Bundesrepublik als Stichjahr für den Beginn einer ordentlichen deutschen Rechtssprechung festlegte. Die Debatte wurde 1969 fortgesetzt, und wieder war es nur eine kleine Bundestagsmehrheit, die als Kompromiß eine weitere Verlängerung der Frist um zehn auf dreißig Jahre durchsetzen konnte, gerechnet ab 1949. Als 1979 das Thema erneut auf die Tagesordnung kam, wurde endlich die Unverjährbarkeit von Mord und Völkermord beschlossen, wenn auch mit einer wiederum geringen Mehrheit von nur 253 gegen 228 Stimmen.

In Israel nahm man das Ergebnis mit Genugtuung auf. Noch immer waren die Beziehungen zwischen unseren Staaten sensibel, trotz der gemeinsamen Fortschritte während der nunmehr schon jahrzehntelang bestehenden diplomatischen Beziehungen. Wie krisenanfällig das Verhältnis war, zeigte sich anläßlich des Golfkriegs. Als Saddam Hussein, der Diktator in Bagdad, Kuweit überfiel und auch andere Nachbarstaaten bedrohte, hatte er eigentlich keinen Grund, seine Feindseligkeit auch gegen Israel zu richten. Gegner gab es für ihn rundum genug. Außer Iran, mit dem Hussein kurz vorher einen achtjährigen Krieg mit fragwürdigem Ergebnis beendet hatte, waren es andere arabische Nachbarn, außerdem, im Zusammenhang damit, die Westmächte, die diese Länder unterstützten. Raketenangriffe auf ein Land wie das unsere, das am Golfkrieg unbeteiligt war und nicht an den Irak grenzte, waren also nichts anderes als Ausdruck des traditionellen Hasses, mit dem Hussein Israel verfolgte. Der Beschuß kam aus einer Entfernung von rund tausend Kilometern. Hussein drohte mit dem Einsatz von Sprengköpfen mit chemischen Kampfmitteln, schreckte sogar nicht vor dem Gedanken zurück, Israel mit Atomraketen zu treffen. Auf Druck des Westens mußte unser Land sich jeglicher Reaktion enthalten. Die Wut im Volk war deshalb enorm und richtete sich keineswegs nur gegen den Irak. Davon betroffen waren vor allem auch die Westmächte. Sie hatten zur Aufrüstung der irakischen Streitkräfte beigetragen und es ihnen überhaupt ermöglicht, nach eigenem Belieben mit Massenvernichtungswaffen zu drohen.

Während sich der Zorn gegen Frankreich, England oder Italien noch in Grenzen hielt, brach helle Empörung aus, als Vermutungen laut wurden, deutsche Fabriken hätten den Irak mit chemischen Kampfstoffen versorgt. Vorerst war es nur ein vager Verdacht, doch weckte er sofort schreckliche Erinnerungen an Zyklon B, jenes Gas, mit dem die I.G.-Farbenwerke während des Kriegs die Gaskammern der deutschen Vernichtungslager beliefert hatten. Trotz aller Gelassenheit im Alltag unserer Beziehungen – was Israel betraf, so waren, wie sich wieder einmal zeigte, die alten Wunden noch nicht verheilt.

Mein Amt in Bonn trat ich mit vielen ungewissen Erwartungen, aber auch mit einigen konkreten Vorstellungen an. Meine besondere Aufgabe, dachte ich, werde in der Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern in allen Bereichen liegen, mit dem Schwerpunkt der Entwicklung von Beziehungen zwischen Israel und der Europäischen Union mit deutscher Hilfe. Natürlich war ich nicht so naiv anzunehmen, die Vergangenheit würde aus meiner Tätigkeit völlig ausgeklammert sein, ich glaubte aber auch nicht an ihre tagtägliche Präsenz. Bald wurde ich eines anderen belehrt.

Zu den ersten Einsichten, die ich gewann, gehörte, daß die Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Deutschen von der Nazi-Zeit nicht entfernt haben – eher verhält es sich umgekehrt. Viele haben die Not, die Vergangenheit zu verdrängen, mit dem Fortgang der Zeit gewissermaßen überwunden. Wenn meine Vorgänger erzählten, sie hätten das Wort »Schlußstrich« oft schon in den sechziger Jahren gelesen oder gehört, könnte ich Gegenteiliges berichten. Was man in den sechziger und siebziger Jahren unter Vergangenheitsbewältigung verstanden hat, war im Grunde nur der Versuch, der Vergangenheit und der Erinnerung an sie zu entrinnen.

Immer wieder begegne ich dem aufrichtigen Willen, die dunkle Last der jüngeren deutschen Geschichte beim Namen zu nennen und sie zu erörtern. In allen Kreisen, mit denen ich in Berührung komme – Politiker, Unternehmer, Studenten, Journalisten, Künstler –, werde ich auf diese Vergangenheit angesprochen. Nie bin ich es, der das Gespräch darüber beginnt. Der Anstoß dazu kommt stets von der anderen Seite – eine intellektuelle Herausforderung an mich, die mich unablässig zum Nachdenken über die Vergangenheit zwingt, damit aber auch zum besseren Kennenlernen und Verstehen der Deutschen. Viele erschütternde Erfahrungen, die ich seit meinem Amtsantritt machte, haben mich über die deutsche Vergangenheit mehr gelehrt und auch menschlich stärker berührt als alles, was ich vorher über sie gelesen habe.

Was lag nach meiner Ankunft am Ort des Regierungssitzes näher, als mich mit der Gliederung der Bundesregierung und der Struktur einzelner Bundesbehörden zu befassen? War die Regierung selbst mit der jedes anderen demokratischen Staates im Westen vergleichbar?

Nächster Teil
Inhaltsverzeichnis

Erschienen 1997 beim Ullstein-Verlag, Berlin


Spenden Sie mit PayPal - schnell, kostenlos und sicher!
 

haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2014 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved