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Avi Primor
»...mit
Ausnahme Deutschlands«
Als Botschafter Israels in Bonn
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IVd.Teil
Steine und Rosen
Deutschland, immer wieder Deutschland – je weiter ich mich davon
fernzuhalten suchte, desto näher rückte es. Seine Präsenz in Israel wuchs,
es gab zunehmend mehr Leute, die Kontakte zur Bundesrepublik hatten und
davon erzählten. Obwohl sie mich nie in der einen oder anderen Richtung
beeinflußte, auch nicht nach ihrer Rückkehr aus Frankfurt, habe ich durch
meine Mutter gleichwohl entscheidende Wegweisungen erfahren. Allein die
Veränderungen, die an ihr seit der Reise spürbar geworden waren, zwangen zum
Nachdenken. Hatte Ben Gurion, immerhin schon in den fünfziger Jahren, recht
gehabt mit seiner oft wiederholten Behauptung, es entstehe ein »anderes«
Deutschland?
Im Oktober 1963, er war schon etliche Monate
im Ruhestand, schrieb Ben Gurion anläßlich des Rücktritts von Konrad
Adenauer für eine israelische Zeitung einen Beitrag, in dem wiederum von der
Existenz dieses anderen, neuen Deutschland die Rede war. Ben Gurion
begründete seine Ansicht mit dem bis dahin erreichten Grad der Verständigung
zwischen Israel und der Bundesrepublik, vor allem aber mit zwei weiteren
Fakten. Zum einen führte er die demokratische Verfassung an, die das neue
Deutschland sich gegeben hatte und in deren Sinn es auch seine Jugend erzog,
zum anderen nannte er die Freundschaft zwischen Adenauer und Charles de
Gaulle, welche die Grundlage bilde für ein vereintes demokratisches Europa.
Ben Gurion war jahrelang ein überzeugter
Anhänger de Gaulles gewesen. Er stand mit ihm in ständiger persönlicher
Korrespondenz und schätzte ihn als größten Staatsmann seiner Zeit. Daß er
daneben nun Adenauer als den zweiten großen Mann Europas pries und dessen
Verhältnis zu de Gaulle als beste Chance für eine Freundschaft zwischen
Deutschland und Frankreich, wollte mir damals weder verständlich noch recht
glaubwürdig erscheinen. Visionen großer Menschen sind, so bemerkenswert sie
sein mögen, oft nur Zukunftsmusik. Überhaupt, mit Selbstäußerungen von
Politikern verhält es sich mitunter problematisch. Besondere Vorsicht ist
geboten, wenn Prominente jedweder Art vergangene Zeiten und die Rolle
beschwören, die sie darin spielten. Die Annahme, daß Politiker als
Zeitzeugen und als Chronisten dessen, was sie erlebten, die Wahrheit so
ehrlich, das heißt ihrer Erinnerung gemäß zu Papier bringen, trifft leider
nicht immer zu, abgesehen von einseitigen Rechtfertigungen ihrer Tätigkeit.
Gerade zum Verhältnis zwischen Ben Gurion, Adenauer und de Gaulle habe ich
eine merkwürdige Geschichte in Erinnerung.
1970, nach dem Tod de Gaulles, kam der
inzwischen aus dem Amt geschiedene Ben Gurion zur offiziellen Trauerfeier
nach Paris. Obwohl Israel durch seinen Staatspräsidenten Zalman Shazar
vertreten, Ben Gurion also lediglich als Privatmann anwesend war,
interessierten sich die Medien hauptsächlich für ihn. Zumindest hatte es den
Anschein; denn im eigentlichen Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand an
diesem Tag natürlich der verstorbene de Gaulle. Ben Gurion geriet nicht nur
als weltbekannter Staatsmann ins Blickfeld, sondern hauptsächlich auch, weil
man wußte, daß der General mit ihm wie auch mit Adenauer einen privaten,
sehr persönlichen Briefwechsel geführt hatte. Die Korrespondenz mit Ben
Gurion war auch nach 1967 fortgesetzt worden, dem Jahr, in dem es zu einer
wesentlichen Verschlechterung, wenn nicht zum Zusammenbruch der
Sonderbeziehungen zwischen Frankreich und Israel gekommen war, wegen des
Boykotts von Waffenlieferungen, den de Gaulle damals über Israel verhängte.
Verständlich, daß die Journalisten jetzt
Auskunft von Ben Gurion verlangten: Was enthielten die Briefe, die auch nach
dem Ausbruch der Krise zwischen Jerusalem und Paris gewechselt worden waren?
Als Sprecher der israelischen Botschaft in Frankreich unter Botschafter Ben
Natan fiel es mir schwer, alle Bitten um Interviews zu erfüllen. In
Anbetracht der Kürze der Zeit, die Ben Gurion in der französischen
Hauptstadt verbrachte, suchte ich als Interviewer einen besonders bekannten
und einflußreichen Journalisten aus, Yves Cuau von »Le Figaro«. Cuau hatte
den Vorzug, nicht nur ein guter Kenner Israels, sondern auch mit den
Verhältnissen in Deutschland bestens vertraut zu sein.
Das Gespräch fand in Ben Gurions Hotelsuite
statt. Ben Gurion, Cuau und ich saßen an einem kleinen runden Tisch, während
Ben Natan, der den alten Löwen aus langjähriger Zusammenarbeit kannte, in
einer anderen Ecke der Couch Platz genommen hatte. Er hörte aufmerksam zu.
Es ging bald nicht mehr nur um den Briefwechsel, Ben Gurion sprach über
allgemeine Nahost-Probleme, auch über die Art, in der Adenauer damit
umgegangen sei. Dabei erwähnte er ein Gespräch, das er, Ben Gurion, und de
Gaulle 1967 während der Beisetzungsfeierlichkeiten nach Adenauers Tod
geführt hatten. Im Trauergefolge hinter dem Sarg habe de Gaulle ihm erzählt,
wie er auf die Nahost-Politik des deutschen Kanzlers Einfluß genommen und
ihm empfohlen habe, sich seine, de Gaulles, »Politik der parallelen Linien«
zum Vorbild zu nehmen. Sie liefe auf eine bilaterale Politik gegenüber
Israel hinaus und zugleich auf eine bestmögliche Zusammenarbeit mit den
Arabern auf allen Gebieten, ohne daß sich der eine Partner in die
Beziehungen Frankreichs mit anderen einmischen könne. Adenauer, Anfang der
sechziger Jahre in der Zwickmühle zwischen Hallstein-Doktrin und seinem
Wunsch, mit Israel geregelte Beziehungen aufzunehmen, habe sich sehr
beeindruckt gezeigt. De Gaulle habe bedauert, daß der Kanzler den Ratschlag
nicht mehr voll befolgen konnte, 1963 wurde er zum Rücktritt gedrängt.
Nach dem Ende des Interviews brachte ich Yves
Cuau zum Hotelausgang. Auf dem Rückweg begegnete mir Ben Natan, neugierig
darauf zu erfahren, was ich von der Geschichte der beiden alten Staatsmänner
hinter Adenauers Sarg halte. Ich nannte sie höchst interessant und deutete
meine Absicht an, mir Notizen für den Fall zu machen, daß Cuau nichts über
die Begegnung veröffentliche. »Ja«, sagte Ben Natan, »interessant ist sie
schon. Nur: Ben Gurion ging gar nicht hinter Adenauers Sarg her ...« Ich
erfuhr, daß Ben Gurion damals zwar nach Deutschland gekommen war, aus
Rücksicht auf das Passahfest der Beisetzung seines verstorbenen Freundes
jedoch fernbleiben mußte. Ben Natan versicherte, er könne sich sehr genau
daran erinnern – 1967, im Todesjahr Adenauers, war er israelischer
Botschafter in Bonn.
Vorfälle wie dieser stimmen nachdenklich. Sie
erklären die Widersprüche und Legenden, die sich durch die
Geschichtsschreibung ziehen und werfen ein zweifelhaftes Licht auf die
Authentizität und Verläßlichkeit menschlicher Zeitzeugenschaft. Im
vorliegenden Fall habe ich nie herausfinden können, ob das Gespräch zwischen
de Gaulle und Ben Gurion von diesem frei erfunden war oder zu einem anderen
Zeitpunkt und an einem ganz anderen Ort geführt worden ist.
Daß Ben Gurions Erinnerungsvermögen damals
nicht mehr das beste war, hatte mit seinem Alter zu tun. Auch André Malraux
scheint, als er am Ende seines Lebens »Les Antimemoires« schrieb, mancher
Täuschung seines Gedächtnisses erlegen zu sein. Das ausführliche Gespräch
etwa, das er angeblich mit Mao Tse-tung führte, hätte sich, Malraux zufolge,
über drei bis vier Stunden erstrecken müssen, dauerte nach Zeugenaussagen
aber nicht länger als fünfzehn Minuten, verkürzt noch durch die Einschaltung
eines Dolmetschers. Entgegen der Darstellung von Malraux kam es kaum zur
Erörterung von Sachfragen.
Mit der Gedächtnisfehlleistung eines noch
relativ jungen Politikers hatte ich 1987 in Brüssel zu tun. Als dortiger
Botschafter war ich zur Vertretung des damaligen israelischen Außenministers
Shimon Peres verpflichtet. Peres sollte mit drei Staatspräsidenten – Sandro
Pertini (Italien), Abdou Diouf (Senegal) und Mario Soares (Portugal) – die
Ehrendoktorwürde der Université Libre de Bruxelles erhalten. Er nahm auch an
der Zeremonie teil, reiste aber noch vor dem festlichen Abendessen ab, das
in einem Schloß in der Nähe der belgischen Hauptstadt stattfand. Hier, als
ich den ursprünglich für Peres bestimmten Platz eingenommen hatte, geschah
es dann, daß der portugiesische Präsident Soares auf mich zukam. »Von
irgendwoher kenne ich Sie«, sagte er. Ich erinnerte ihn an unsere Begegnung
im April 1977 in Amsterdam. »Ja, natürlich«, freute er sich, »Sie waren mit
Jitzhak Rabin da, als wir gemeinsam beschlossen, diplomatische Beziehungen
zwischen Portugal und Israel aufzunehmen.« Es folgte eine lustige Erzählung.
Diese traf nur mit Einschränkungen zu. Als
Sprecher des Auswärtigen Amts war ich seinerzeit mit dem Außenminister und
Stellvertretenden Ministerpräsidenten Yigal Alon zu einem Treffen der
Sozialistischen Internationale nach Amsterdam gereist. Ihr Vorsitzender war
damals Willy Brandt. Für mich, der ich keiner Partei angehöre, war es das
erste, seither auch einzige Mal, daß ich an einer solchen Versammlung
teilnahm. Das Hotel, in dem sie stattfand, diente allen, darunter
amtierenden und künftigen Staatsoberhäuptern, Regierungschefs und Ministern,
zugleich auch als Unterkunft. Da nicht genügend Suiten zur Verfügung
standen, übernachteten die meisten Teilnehmer in normalen Zimmern, hier auch
führten sie, vielfach beengt, einen Großteil der Gespräche.
Yigal Alon war, unter anderen, mit dem
damaligen portugiesischen Ministerpräsidenten Mario Soares verabredet.
Soares war nach dem Ende der Salazar-Diktatur, die Israel nicht anerkannt
hatte, an die Macht gekommen und als Sozialdemokrat der israelischen
Arbeiterpartei freundschaftlich verbunden. Es schien Zeit zu sein für die
Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Ländern. Doch kurz vor
dem Abflug nach Amsterdam hatte uns von unserem Konsulat in Portugal ein
Telegramm erreicht, in dem gerade diese Frage eine Rolle spielte. Sowohl in
der Regierung Portugals wie auch in der Sozialdemokratischen Partei des
Landes, hieß es, sei man nach längeren Diskussionen zur Auffassung gelangt,
daß aufgrund des arabischen Drucks und in Anbetracht portugiesischer
Interessen in der arabischen Welt die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu
uns besser unterbliebe, zumindest vorläufig.
Das Treffen zwischen Yigal Alon und Soares
fand an einem Vormittag in dessen Hotelzimmer statt. Auf portugiesischer
Seite nahmen noch der Außenminister und der Generalsekretär der
Sozialdemokratischen Partei teil, auf unserer Seite waren es Israel Gatt,
der für auswärtige Angelegenheiten zuständige Mann der Arbeiterpartei, und
ich. Die Portugiesen saßen auf den einzigen vorhandenen Stühlen, Alon und
ich hatten die unbequeme Ehre, auf Soares’ Bett Platz zu nehmen.
Ich dolmetschte, denn Alon sprach kein
Französisch, die Sprache, die Soares bevorzugte. »Lieber Yigal«, begann er,
»ich habe eine gute Nachricht für dich: Unsere Regierung hat beschlossen,
diplomatische Beziehungen mit Israel aufzunehmen. Wir empfinden das als
gerecht und selbstverständlich. Nur haben wir einige vorübergehende
Schwierigkeiten.« Es folgte eine lange Aufzählung portugiesischer
Interessen, die durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen gefährdet
werden könnten. »Deshalb müssen wir noch ein wenig warten, bis wir unseren
Beschluß in die Tat umsetzen.«
Alons Antwort überraschte alle, auch mich. Er
gab zunächst seiner Freude über das soeben Gehörte Ausdruck, es wende das
Blatt der Salazar-Zeit. »Ich verstehe auch gut, daß ihr momentan
Schwierigkeiten habt«, sagte er. »Ich habe sie nicht und schlage deshalb
vor, die Eröffnung eurer Botschaft in Israel tatsächlich vorerst zu
verschieben. Angesichts eurer Entschlossenheit aber werde ich umgehend meine
Botschaft in Lissabon eröffnen. Das wird ganz einfach sein, weil wir dort
schon ein Konsulat haben, man muß es nur, als ersten Schritt, in eine
Botschaft umwandeln. Und dann warten wir, bis bessere Zeiten kommen und ihr
auch bei uns eine Botschaft einrichten könnt.«
Mario Soares war verblüfft. Er wußte nicht,
wie er reagieren sollte, während sein Außenminister uns wütend ansah und
Soares durch Blickzeichen zu einer negativen Antwort aufforderte. Doch bevor
sie kommen konnte, sprach Alon schon über Tagungsthemen der Sozialistischen
Internationale und kam nur kurz noch einmal auf den ersten Gesprächspunkt
zurück. Man sollte, sagte er, über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen
zwischen Israel und Portugal sofort die Medien informieren. Ich erhielt –
auf Hebräisch – eine entsprechende Anweisung, ging hinaus und tat, was
notwendig war. Die Portugiesen durften keine Zeit und Gelegenheit zum
Widerspruch haben.
Hinter Alons »Handstreich« steckte der
Gedanke, daß diplomatische Beziehungen sich keineswegs immer in der
Anwesenheit residierender Botschafter äußern müssen. Es kommt häufiger vor,
daß von zwei Ländern mit normalen diplomatischen Beziehungen das eine sich
durch einen »non-residenten« Botschafter vertreten läßt – oder auch beide.
Im Laufe jenes denkwürdigen Tages erhielt ich
zwei weitere Anweisungen. Einmal galt es, Staatssekretär Shlomo Avineri in
Jerusalem zu informieren. Er mußte möglichst innerhalb von vierundzwanzig
Stunden das unseren Lissaboner Konsul betreffende Nominierungsverfahren
durchsetzen. Sodann mußte ich den Konsul selbst, Ephraim Eldar, telefonisch
von der Neuigkeit verständigen – ein Auftrag, den ich gern ausführte, denn
Eldar gehörte zu meinen Freunden.
Wenn es zutrifft, daß falsche
Sachbehauptungen, auch wenn sie auf harmlosen Irrtümern beruhen, an
Wahrheitswert gewinnen, je länger und öfter man sie wiederholt, dann ist die
Geschichte vom Auftakt der portugiesisch-israelischen Beziehungen, wie Mario
Soares sie sieht, dafür ein erhellender Beweis. 1987 in Brüssel blieb er
dabei, bei dem Amsterdamer Gespräch sieben Jahre zuvor habe ihm Rabin
gegenübergesessen, nicht dessen Stellvertreter Alon. Und als ich 1992 den
ersten portugiesischen Botschafter in Israel kennenlernte, bekam ich
dieselbe Version erzählt: Er hatte sie etliche Tage zuvor von Mario Soares
gehört.
Es war also, auch wenn die geschilderten
persönlichen Erfahrungen noch vor mir lagen, Skepsis angebracht gegenüber
den Aussagen von Politikern, gerade solchen höheren Ranges. Wenn sie sich
schon in bezug auf einfache, nachprüfbare Fakten irrten, um wieviel
kritischer mußte man da ihre Visionen, ihre Zukunftsentwürfe, all die kühnen
Gedankengebilde prüfen, mit denen Männer wie Ben Gurion ihre Zeitgenossen
oft mehr verwirrten als für ihre Ideen instrumentalisierten? Schon dem
gewöhnlichen Menschen fällt es schwer, sich Situationen vorzustellen, die
ihm nicht vertraut sind. Um so mehr gilt dies von der Zukunft. Um sie sich
vorstellen zu können, geht man am besten von der Gegenwart aus.
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Erschienen 1997 beim Ullstein-Verlag, Berlin
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