Moses und Ezekiel:
Widersprüche in der Bibel?Dr.jur. Gabriel
Miller
juedisches-recht.org
Seit Jahrhunderten werden Fragen an das Judentum bzw.
an die jüdische Geschichte gerichtet und von jüdischen Gelehrten
beantwortet. Diese Fragen sind manchmal naiv und werden mit ehrlicher
Absicht gestellt, manchmal aber sind sie tendenziös und gehässig.
Fast immer betreffen sie die Normen des "Alten
Testaments", um die strafrechtliche Regelung „Auge um Auge“, oder den Gott
der „Rache“, der die Sünden der Väter an den Nachkommen rächt und ähnliches.
Jüdische Gelehrte finden es allmählich lästig, diese Fragen zu beantworten
und das Selbstverständliche immer wieder zu erklären. Schließlich werden
solche Fragen nicht an das alte römische Recht oder an die Rechtsordnung der
germanischen Sippe gestellt, die ihrerseits für das heutige Empfinden
überaus brutale Regelungen enthielten.
Nicht, dass heutzutage keine unmenschlichen Gesetze
praktiziert werden, insbesondere wenn es sich um die schwachen Glieder der
Gesellschaft handelt, zum Beispiel die Steinigung von Frauen im islamischen
Nigeria, die Ehebruch begangen haben sollen.
Das Jüdische Recht hat in seiner humanen Einstellung
solche Strafen seit mindestens zweitausend Jahren abgelehnt und es ist
fraglich, ob sie jemals in der Zeit davor Anwendung fanden.
Wenn sich auch manchmal religiöse Fundamentalisten –
meistens aus dem christlichen, seltener aus dem jüdischen Lager – auf die
Gesetze der Bibel (des „Alten Testaments“) zur Begründung reaktionärer
Ansichten berufen, hat doch das Jüdische Recht - die Weisung Moses,
das offenbarte Gesetz - Wandlungen erfahren, die es immer wieder für eine
bestimmte Gegenwart lebensfähig machten und das Leben mit dem Gesetz
ermöglichten. Der Beispiele gibt es viele, was bei der langen Bestands- und
Entwicklungszeit nicht verwundern kann. Eine Bestimmung der Tora soll hier
stellvertretend für die Flexibilität und Erneuerungskraft des Gesamten
dienen.
Ein biblischer Satz brachte die jüdischen Exegeten des
Mittelalters, die bis zur Neuzeit in der Regel religiös und fromm waren, in
besondere Erklärungsnot. Es sind die Worte aus dem Dekalog, wo Gott „die
Verschuldung der Väter an den Kindern, Enkeln und Urenkeln“ ahndet (2. M.
20, 6-7). Dieser Satz passte nicht in die Vorstellung von einer humanen und
gerechten Religion. Die Bestrafung von Straftätern war immer
selbstverständlich, die Bestrafung von unschuldigen Familienmitgliedern,
eine Kollektivstrafe, konnten die jüdischen Rechtsgelehrten nicht
akzeptieren. Hinzu kam, dass dieser Satz der christlichen Kirche in ihrem
Kampf gegen die Juden und ihren Glauben ein erstklassiges propagandistisches
Schlagwort vom „Gott der Rache“ lieferte.
Um den Widerspruch zwischen diesem Satz und der
humanistischen Einstellung des Judentums aufzulösen, gab es u.a. folgende
Erklärungsversuche: Erstens verwies man darauf, dass im Dekalog die
Bestrafung der Kinder für die Taten der Väter im Zusammenhang mit dem
Vergehen gegen Gott selbst durch den Dienst an anderen Göttern gesehen
werden muss. Es handle sich hier um ein ius sacrum oder ius divinum. Ferner
heiße es am Ende dieser Androhung: „die mich hassen“. Die Bestrafung der
Kinder bis ins dritte und vierte Glied gelte also lediglich dann, wenn diese
Nachkommen Gott untreu geblieben seien, wobei jedoch diese letztere, von der
jüdischen Orthodoxie hervorgehobene Interpretation einer kritischen Prüfung
nicht standhält. Denn wenn ohnehin jeder für sein eigenes Verschulden
bestraft wird, wozu dann die Bestrafung für das Verschulden der Väter?
Die Amoräer, die Talmudgelehrten des 3. bis 5.
Jahrhunderts, hatten diesbezüglich kein Problembewusstsein. Sie - obwohl für
ihre Diskussionsfreudigkeit bekannt – hakten das Thema mit einer lakonischen
Bemerkung ab (b. Makot 24 a): „Moses sagte: er ahndet der Väter Schuld an
den Kindern etc., hierauf kam Ezekiel und hob dies auf, denn es heißt: die
Seele, die sündigt, die soll sterben (Ezekiel 18, 20).
Dieser kurze Satz ist in mancherlei Hinsicht
bemerkenswert. Moses, der Religionsstifter und Vermittler zwischen Israel
und Gott, konnte durch einen anderen Propheten (hier Ezekiel, der 700 Jahre
nach ihm lebte) widerlegt werden, und zwar ohne weitere Begründung.
Eigentlich eine Ungeheuerlichkeit sondergleichen: Moses auszulegen, zu
kommentieren, zu interpretieren, ja sogar umzudeuten ist eine Sache. Ihm zu
widersprechen ist für gläubige Juden jedoch undenkbar. Für die
Talmudgelehrten aber, die 800 Jahre nach Ezekiel wirkten, war die
Erkenntnis, wie sie Ezekiel seinerzeit verkündete, eine alltägliche
Wirklichkeit, die nicht begründet werden musste. Es wäre falsch, wenn man in
der Einstellung der Talmudgelehrten gegenüber Moses Respektlosigkeit suchen
wollte. Sie gingen vielmehr davon aus, dass Moses in seiner Zeit und unter
den damaligen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen zweifellos das
Richtige verkündet hatte, dass er in seiner Zeit fortschrittlich, human und
gerecht war. Im Laufe der Zeit waren Gesetze jedoch änderungsbedürftig und
mussten an die veränderten Bedingungen angepasst werden.
Und schließlich impliziert dieser kurze Talmudsatz eine
Botschaft: eine Aufforderung an kommende Generationen, überkommene
Bestimmungen des Jüdischen Rechts in humane, zeitgemäße zu ändern.
In 12 Bänden:
Der Babylonische Talmud
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