Die
Frage lautete, ob die jüdische Tradition eher chauvinistisch oder eher
frauenfreundlich ist?
Diese Frage wird, nicht ganz zu Unrecht, oft von Frauen gestellt. Belege für
das Für und Wider könnte man zur Genüge finden. Im Talmud heißt es richtig:
Drehe und wende die Lehre immer wieder, denn alles ist in ihr enthalten. Die
Bibel sagt z.B., dass die Frau bitterer als der Tod sei (Prediger 7, 26) und
der nach jüdischer Tradition selbe Autor (König Salomo) sagt aber auch: „Wer
eine Frau gefunden, hat Gutes gefunden“ (Sprüche 18, 22). Mit einer direkten
Aussage, mit einem gezielten Zitat kann man der Sache nicht näher kommen.
Wie auch sonst im Leben, verraten meistens die scheinbar nebenher und rein
zufällig gemachten Äußerungen die Einstellung, die sich sonst nicht klar zu
erkennen gibt.
Als die Gelehrten des Talmud einst das für Menschen würdige Verhalten
besprachen, erwähnten sie Beispiele, die sie für nachahmungswürdig hielten.
Eines dieser Beispiele könnte wegen seiner Komplexität aufschlussreich sein
und soll hier analysiert werden:
„Einst kam eine Frau in das Lehrhaus des Rabbi Me’ir und sprach: Einer aus
eurer Mitte hat mich durch Beiwohnung geehelicht. Da stand R. Me’ir auf,
schrieb ihr einen Scheidebrief und überreichte ihn ihr. Hierauf standen auch
alle anderen auf, schrieben ihr Scheidebriefe und überreichten sie ihr“ (b
San. 11a).
Diese Kurzgeschichte, die im hebräischen Originaltext lediglich dreißig
Worte enthält, birgt mehr Information als es scheint. Die Absicht des
Berichts ist eindeutig. Die Gemara belobigt das Verhalten von R. Me’ir und
präsentiert es als beispielhaft. Nochmals zur Geschichte: Es kommt eine Frau
in das Lehrhaus und behauptet, einer der Anwesenden sei mit ihr eine Ehe
eingegangen. Was soll nun geschehen? Das übliche Verfahren nach dieser
Behauptung wäre: zu ermitteln, wer der betreffende Mann, der Beschuldigte,
ist und ihn zu veranlassen, entweder sich zur Ehe mit der Frau zu bekennen,
oder sich von ihr scheiden zu lassen. R. Me’ir nimmt an, dass der
Betreffende sich auf eine Ehe nicht einlassen wollte (da sonst die Frau
nicht hätte kommen und sich beklagen müssen), um aber die öffentliche
Erörterung zu vermeiden und den Unbekannten der Peinlichkeit oder „Schande“
nicht auszusetzen, schreibt er der Frau einen Scheidebrief. Die anderen
Anwesenden im Lehrhaus, die zurecht annahmen, dass es nicht R. Me’ir war,
der der Frau beigewohnt hatte, folgten seinem Beispiel und stellten
ebenfalls Scheidebriefe aus. Einer dieser Scheidebriefe stammte mit
Sicherheit vom Beschuldigten; die Frau war geschieden und der „Ehemann“
unerkannt geblieben. Eine wahrhaftig noble Geste des R. Me’ir!
Nun sollte man aber der Geschichte etwas mehr auf den Grund gehen. Wie kann
oder muss sich alles zugetragen haben? Ein Gelehrter oder Jünger eines
Gelehrten (Talmid Chacham) geht zu einer Frau und verspricht ihr die Ehe, um
mit ihr zu schlafen; er meint es nicht ernst, so etwas soll ja gelegentlich
vorkommen. Sie scheint eine keusche Frau zu sein, da sie ohne das
Eheversprechen mit ihm nicht geschlafen hätte. Sie kennt das Gesetz und
weiß, dass sie nach vollbrachter Tat nun mit diesem Mann verheiratet ist.
Der Mann will davon offensichtlich nichts wissen. Es gibt keine Zeugen für
den Beischlaf (das ist in der Regel der Fall) und wahrscheinlich auch nicht
für das Eheversprechen. Nun könnte die Frau alles auf sich beruhen lassen.
Sie ist zwar enttäuscht, da aber kein Außenstehender von dem Vorfall
Kenntnis hat, könnte sie weiterleben wie bisher. Sie will es aber nicht.
Zwei Gründe könnten ihr Verhalten erklären: Laut Gesetz ist sie verheiratet,
und als gesetzestreue Frau kann sie erst heiraten, nachdem sie geschieden
wurde; der zweite Grund könnte darin bestehen, dass sie in Erklärungsnot
käme, wenn sie bei einer Wiederverheiratung keine Jungfräulichkeit
nachweisen könnte. Eines ist sicher: Ihre Beweggründe sind nicht materieller
Art. Die Scheidung als solche bringt ihr keine finanziellen Vorteile.
Damit ist die Angelegenheit noch nicht ausreichend transparent. Man sollte
das Augenmerk vielleicht weniger auf das Verhalten des R. Me’ir und vielmehr
auf das der Frau lenken. Es ist nämlich keine Kleinigkeit für eine Frau,
sich dermaßen zu exponieren. Warum tut sie das? Da sie die Sache, wie eben
erörtert, nicht auf sich beruhen lassen will, hätte man ihr nahegelegt, den
Mann zur Rede zu stellen. Sie hätte ihn warnen können: Entweder wir
vollziehen eine öffentliche Eheschließung, oder du lässt dich von mir
scheiden, sonst gehe ich den äußersten Weg (den sie auch zum Schluss
gegangen ist). Gehen wir davon aus, dass es sich mehr oder weniger so
zugetragen hat. Wie reagierte der Mann? Er machte sich hierüber keine Sorgen
und wollte nichts davon wissen. Da dieser Versuch der Frau erfolglos war,
würde man ihr raten, ehe sie ihre Klage öffentlich bekannt machte, zu R.
Me’ir zu gehen und ihm den Fall vorzutragen. Das Argument scheint
überzeugend. Angenommen sie geht diesen Weg und erzählt R. Me’ir ihre
traurige Geschichte. Um ihr aber helfen zu können, muss er den Namen des
Mannes erfahren. Erst dann kann er ihn zur Heirat oder zur Scheidung
bewegen. Sie will jedoch den Mann nicht bloßstellen und gibt seinen Namen
nicht preis. Das ist wohl erwiesen, denn wäre dem nicht so, hätte sie seinen
Namen auch im Lehrhaus bekannt gegeben.
Der neuzeitliche Talmudkommentator Steinsalz meint, dass die Frau den Namen
des Mannes gar nicht kannte. Er legt die Worte der Frau „Einer aus eurer
Mitte hat mich durch Beiwohnung geehelicht“ folgendermaßen aus: „Das
bedeutet: einer schlief mit mir und sagte mir, dass er dies zum Zwecke der
Eheschließung tut, und ich weiß nicht, wer es war...“ Diese Auslegung ist
weit hergeholt. Man wird bei einer üblichen Beweisführung kaum jemanden
davon überzeugen können, dass eine Frau, die mit einem Mann geschlafen hat,
nachdem er sie von seinen ehrlichen Absichten überzeugt hatte und sie in den
Bund mittels eines Beischlafs einwilligte, nicht wissen soll, wer der Mann
ist. Die Frau kannte sehr wohl den Mann, wollte aber seine Identität nicht
preisgeben. Warum wohl?
Die naheliegende Erklärung ist die folgende: Die Frau hat sich dem Mann in
ehrlicher Absicht hingegeben. Sie ist bereit und willig, mit ihm eine Ehe zu
führen. Ist er aber dazu nicht bereit, will sie von ihm geschieden werden.
Sie ist jedoch nicht bereit, seinen Namen bekannt zu geben. Sie respektiert
trotz allem seine Privatsphäre, will ihm keinen Schanden zufügen.
Offensichtlich hegt sie keinen Groll gegen ihn für das, was er ihr angetan
hat, jedenfalls nicht dermaßen, dass sie ihn bloßstellen will. Wir haben es
wahrscheinlich mit einer feinfühligen und altruistischen Frau zu tun, die
großherzig ist und keine feindseligen Gefühle aufkommen lässt.
Die Berichterstatter oder Autoren der Gemara gehen selbstverständlich davon
aus, dass diese Geschichte ein nachahmenswertes altruistisches Verhalten des
R. Me’ir dokumentiert und ordnen sie in eine Reihe von anderen Ereignissen
ein, in denen es darum geht, seinen Nächsten vor der Beschämung,
Beleidigung, Peinlichkeit und Erniedrigung zu bewahren. In der Tat ist dies
eine Tugend, die in der Gemara an mehreren Stellen hervorgehoben wird. In
diesem besonderen Fall scheint es doch eher so zu sein, dass die betrogene
Frau diejenige war, die beispielhaft gehandelt hat. Von R. Me’ir kann man
allenfalls sagen, dass er nicht anders handeln konnte. Mit dem Erscheinen
der Frau im Lehrhaus und ihrer Aussage zufolge musste R. Me’ir klar geworden
sein, dass die Frau den Namen des betreffenden Mannes nicht preisgeben würde
(sonst hätte sie ihn gleich genannt). Also handelte R. Me’ir sehr klug und
erreichte für die Frau, worauf sie Anspruch hatte.
Die Gemara lobt ausdrücklich das Handeln von R. Me’ir als mustergültig und
tugendhaft. Zum Verhalten der Frau schweigt sich der Text aus. Wir wissen
jedoch, dass die Gelehrten ihre Texte besonders klug formulierten. Wäre es
in diesem Fall weit hergeholt zu vermuten, dass der Erzähler dieser Anekdote
ihre Mehrschichtigkeit erkannte und sie absichtlich hier platziert hatte?
Bar Rav Nathan |