Seit
der Frühzeit, als der Mensch sich seiner selbst bewusst wurde, blickte er um
sich herum, nach und oben nach unten und fragte sich, wieso das alles da
war, wer den Himmel und die Erde schuf, wer das Aufblitzen des Blitzes
bewirkte, das laute Donnern und ähnliche Erscheinungen. Eine der wichtigsten
Fragen war: Woher kam der Mensch? Sagen und Mythen entstanden auch unter den
Völkern in der Gegend, in der sich das Volk Israel herausbildete, also in
Mesopotamien und im Osten des Mittelmeerraumes.
Nach den sumerischen Mythen war es der Gott
Enlil, der Himmel und Erde trennte. Ein anderer Sumerer, der Gott Enki,
besiedelte die Welt. Die Mutter von Enki, Nammu, gebar den Himmel und die
Erde und alle Götter. Der alte babylonische Mythos schreibt die Erschaffung
der Welt dem Gott Marduk zu. Der Gott Apsu und die Göttin Tiamat gebaren
Tausende kleine und große Götter. Dann irgendwann wollte Tiamat die meisten
ihrer Nachkommen umbringen, und daraufhin wurde sie von dem Gott Marduk
getötet, der aus ihrer Leiche den Himmel und die Erde schuf. Die ägyptischen
Mythen erzählen von einem frühen Stoff in der Form eines dunklen Ozeans, der
mit dem Gott Nun identifiziert wird. Eines Tages erhebt sich aus dem Ozean
der Gott Atum in Form eines Berges, der Schu, den Gott der Luft gebiert und
weitere Götter. Die Phönizier glaubten, dass am Anfang alles aus dunkler
Luft bestand. Als sich die Luft mit sich selbst einigte, gebar sie Mot, von
dem alles entstand. All diese mythologischen Vorstellungen, die in aller
Kürze hier angedeutet wurden, haben eine gewisse Ähnlichkeit mit der
biblischen Erzählung, unterscheiden sich aber doch von dieser in
grundsätzlicher Hinsicht.
Die Mythen der heidnischen Welt besitzen
zwei zentrale Charakteristika, die für unsere Betrachtung zu erwähnen sind:
a) Am Anfang des Kosmos gab es viele Götter. Sie lebten in Familien, sie
liebten und hassten, gebaren Kinder und kämpften, sie besaßen menschliche
Eigenschaften und ihr Leben verlief ähnlich wie in der Welt der Menschen.
b) Die heidnischen Götter leben in einem Kosmos mit Regeln und Gesetzen. Sie
unterstehen den Naturgesetzen.
Die biblische Erzählung über die
Erschaffung der Welt, der den Kosmos und seiner Entstehung erklärt, ist
nicht nur ein Mythos des israelitischen Volkes. Sie ist eine Philosophie
oder Theologie über die ewige Existenz des Schöpfers und über das Schaffen
von Sein aus dem Nichts. Der israelitische Glaube, wie er im ersten Vers der
Tora zum Ausdruck kommt, ist die theologische Grundlage jedes
monotheistischen Glaubens.
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“
Liest man diesen Satz in seiner einfachen Bedeutung, offenbart sich für den
Gläubigen das Geheimnis der Schöpfung. Dieser Satz sagt uns nichts über Gott
selbst, weder wer er ist noch was er ist, weder wo er herkam noch wie er
zustande kam. Er war da bevor Himmel und Erde erschaffen wurden, also vor
der Erschaffung des Kosmos, vor dem Sein, vor der Entstehung von Raum und
Zeit. Die Naturgesetze waren nicht vorhanden, bis er sie erschaffen hat –
die Anziehungskraft, die Bewegung, das Licht etc. Bis auf den heutigen Tag
haben wir keine bessere Erklärung für die Entstehung des Kosmos. Auch die
kosmologische Physik, die den Urknall als den Beginn des Kosmos annimmt,
kann nicht erklären, was davor war. Die Wissenschaftler sagen, dass es vor
dem Urknall keine Naturgesetze gab und dass diese mit dem Urknall
entstanden.
In Gegensatz zu den Ur-Mythen finden wir
also in der Tora keine Information über Gott selbst. Es gibt hier keine
Familie wie bei den heidnischen Göttern, keine menschlichen Gefühle, keine
Auseinandersetzungen in einem Götter-Pantheon. ER besitzt keine Eigenschaft,
die in der menschlichen Sprache ausgedrückt werden kann, denn er war noch
vor der Sprache da. Alles, was über ihn nach der Erschaffung der Welt in der
Bibel erzählt wird, ist allegorisch zu verstehen, es wurde für Menschen
geschrieben, die sich zu philosophischen Erkenntnissen nicht erheben
konnten. Die alten jüdischen Talmudgelehrten (die ersten Jahrhunderte der
weltlichen Zeitrechnung) formulierten das so: „Die Tora sprach in der
Sprache der Menschen“. Maimonides (1135-1204), nachdem er die Existenz
Gottes mit logischer philosophischer Beweisführung erklärt hatte, fasste
diese Erkenntnis mit wenigen Worten zusammen: „Wir begreifen lediglich die
Tatsache seiner Existenz, nicht aber sein Wesen“ (Führer der Unschlüssigen
1. Buch, Kap.58).
Mit diesen Worten könnte ich abschließen,
jedoch stieß ich bei der Lektüre von vielen Kommentaren zum 1. Moses auf
eigenartige Erklärung eines zeitgenössischen Kommentators. Er beginnt mit
der These „Jeder Anfang hat ein Ende“. Dann sagt er: „Wenn es einen Anfang
gibt und auch ein Ende, dann muss das Ganze einen Sinn haben“. Ob diese
Schlussfolgerung zwingend ist? Aber auch wenn das so wäre, wer könnte diesen
ergründen? Dieser Kommentator, der sich sicherlich für einen frommen Juden
hält, hat seine eigene Meinung zum Sinn der Schöpfung, und dieser bezieht
sich auf die Existenz des jüdischen Volkes. Wenn ich mich nicht täusche, so
gibt es viele Juden, die sich für weise halten und die Absicht Gottes und
den Sinn der Schöpfung zu wissen glauben. Auch unter den Christen und den
Moslems wird es nicht anders sein. Ich denke, wir sollten uns mit dem
zitierten Satz von Maimonides begnügen.
Bar Rav Nathan |