Rom und Jerusalem:
Macht gegen Gerechtigkeit
Von Josef Kastein
Neben aller mystischen Ausweitung der messianischen Idee geht es es im
politischen Kern darum, in der kommenden Zeit die Herrschaft Roms durch die
Herrschaft Judäas abzulösen. Das Regime der Gewalt soll der Herrschaft der
Gerechtigkeit weichen.
Rom war der Inbegriff dessen, was aus der Welt verschwinden müsse. Gegen
Rom und seine Devise "arma et leges", richtete sich in Israel ein
ungeheuerer Hass. Rom hatte leges, Gesetze, wie das Judentum auch. Aber in
diesem Gleichen lag das Trennende; denn diese leges waren nur die
Nutzanwendung der arma, der Waffen; sie komplettierten nur eine Formel, die
jeder Servilität so imponierend erschien. Aber losgelöst von den Waffen
waren diese leges leere Formeln, die mit Gerechtigkeit statt mit
juristischem Recht zu füllen kein Mensch aufstand.
Judäa war eine unterworfene Provinz, aber auch nach der Zerstörung
Jerusalems und des Tempels, blieben die Juden als Nation bestehen und
anerkannt.
Die Selbstbehauptung gegen Rom fand eine letzte, wenn auch schwache Stütze
in der politischen Selbstverwaltung, die die Juden in wenigen Jahren mit
zäher Arbeit aufbauten. In dieser bescheidenen Institution lag, verbunden
mit der messianischen Idee, noch soviel Lebenskraft, dass sie die Energie
für noch eine, für die letzte und verzweifelte Revolte gegen Rom, für den
letzten Versuch der Rückeroberung nationaler Freiheit erzeugen und
zusammenraffen konnte.
Rabbi Akiba
In der Gestalt des Rabbi Akiba erwuchs der Nation der zugleich geistige und
politische Sammler. Er war Gelehrter großen Formats, der erste Ordner der
mündlichen Lehre; er war aber auch ein großer Hoffender, der den nationalen
Impuls seines Volkes für noch nicht beendet hielt und neben den Gelehrten
insgeheim die Empörer um sich versammelte und an sich band. Empörer aber war
jeder, der die römische Bedrückung unerträglich fand; und das war jetzt das
ganze Volk, und zwar nicht nur in Erez Israel (Palästina), sondern auch in
der Diaspora. Für Erez Israel genügte zu einem unaufhörlichen Widerstand die
Tatsache, dass die bisherige Tempelsteuer unter der neuen Bezeichnung Fiscus
Judaicus jetzt für den Tempel des Jupiter Capitolinus in Rom eingezogen
wurde; und für die Diaspora war Rom das Volk, das den Tempel zerstört und
den Verstreuten die Wallfahrt nach Jerusalem genommen hatte. Nimmt man
hinzu, was über den allgemeinen geistigen Gegensatz zwischen Rom und Judäa
gesagt worden ist, so wird begreiflich, dass die gesamte jüdische Welt in
einen Anfall des Widerstandes ausbrach, als Rom seine Hand nach demjenigen
Teil der Diaspora ausstreckte, der bislang von ihm verschont geblieben war.
Das geschah unter Trajan, der ein anderer Alexander sein wollte, dem aber
dafür sowohl die Persönlichkeit wie die Idee fehlte. Im Jahre 114 begann er
seinen Angriff auf Asien und besiegte im folgenden Jahre das nördliche
Mesopotamien und das dicht mit Juden besiedelte Reich Adiabene. Schon hier
stieß er auf den Widerstand der Juden. Er griff weiter nach Babylonien über,
um hier erneut, insbesondere in den Provinzen Nisibis und Nehardea, auf
Juden zu stoßen, für die der Widerstand gegen Rom den Charakter eines
heiligen Kampfes trug. Sie riefen zum allgemeinen Aufstand auf. Im Rücken
der römischen Truppen revoltiert Adiabene und zwingt Trajan, seine Eroberung
von neuem zu beginnen. Er hat sie noch nicht beendet, da ist von
Mesopotamien aus der Aufruhr schon übergesprungen nach Palästina, nach
Ägypten, nach Libyen, nach der Cyrenaika und bis auf die Insel Cypern.
Abb.:
Gebiete mit zahlreicher jüdischer Bevölkerung (ca. 120)
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Das geschieht mit einer unheimlichen Schnelligkeit und Präzision, so dass
an einer einheitlichen Führung nicht zu zweifeln ist, mindestens nicht an
einer völlig einheitlichen Grundstimmung. Aber im Rasen dieses Aufruhrs
verliert sich plötzlich die Idee eines Freiheitskampfes gegen Rom, und es
explodiert eine "Welt von Hass und Rache und Abwehr und Verzweiflung gegen
das ihnen Feindliche überhaupt, gegen das Heidentum schlechthin. Der ganze
jüdische Orient tobt wie in letzten Todeszuckungen gegen Römer, Griechen und
Hellenisierte. Eine unmenschliche und barbarische Schlächterei setzt ein,
ein Morden von Stadtvierteln, Städten und Landschaften gegeneinander. Noch
einmal besiegen die Juden ein römisches Heer unter dem Feldherrn Lupus. Sie
machen die Stadt Salamis zu einem Trümmerhaufen. Sie sollen in der Cyrenaika
und auf Cypern je über 100.000 Römer und Griechen erschlagen und Libyen so
dezimiert haben, dass es von neuem besiedelt werden musste.
In diesem sinnlosen und hoffnungslosen Aufstand wurde zum letzten Mal
sichtbar, wie tief sich die unaufhörlichen Angriffe einer Welt, die Angriffe
von Ägyptern, Assyrern, Babyloniern, Persern, Griechen und Römern in die
jüdische Volksseele mit dem fanatischen Willen zur Selbsterhaltung
eingenistet hatten. Aber sie lieferten sich nur einen neuen Beweis, dass sie
das Mittel der anderen: die Gewalt, nicht benützen durften. Trajan
antwortete ihnen durch die Entsendung römischer Armeen nach Afrika und
Asien. Die ägyptische Diaspora empfing ihren Todesstreich. Sie verkümmerte,
nachdem die Soldaten des Martius Turbo ihre Arbeit dort verrichtet hatten.
Auf Cypern blieb kein Jude am Leben. Lucius Quietus schlug den Aufstand in
Asien mit zahllosen Opfern nieder.
Quietus ist im Begriff, auch Palästina zu unterdrücken. Da stirbt Trajan.
Sofort versucht eine Reihe von Provinzen, sich frei zu machten. Hadrian, der
Nachfolger, sucht, auf dem Wege der Verständigung und des scheinbaren
Nachgebens zum Ziele zu kommen. Auch mit den Juden wird verhandelt. Er
stellt ihnen den Wiederaufbau Jerusalems, die Wiederherstellung eines
Tempels in Aussicht. Da strecken sie die Waffen.
Aber Hadrian ist Römer. Er lässt den Bau der Stadt beginnen; doch ist bald
ersichtlich, dass diese neue Stadt eine rein heidnische und keine jüdische
werden soll. Es gart im Volke. Die Erbitterung wächst.
Im Jahre 131 kommt Hadrian selbst nach Palästina, und nun enthüllt er seine
Absicht: das neue Jerusalem soll ein Zentrum römischer Kultur im Orient
werden, zwar mit einem Tempel, aber mit einem Jupitertempel. Wie er das Land
verlassen hat, tauchen sogleich im ganzen judäischen Gebiet bewaffnete
Scharen auf. Sie greifen die römische Besatzung einzeln und in schwierigem
Gelände an. Sie sind nicht zu fassen, weichen jeder Truppenverstärkung
elastisch aus und reiben sie im Kleinkrieg auf.
Rabbi Akiba wird der geistige Leiter dieser Erhebung. Er organisiert
überall, ist überall auf Reisen, bis nach Parthien hin. Jede Stadt mit
Mauern, jeder Schlupfwinkel im Gebirge verwandelt sich in eine Festung. Es
sind plötzlich in dem besiegten und entwaffneten Lande Waffen,
Nahrungsmittel, Verbindungswege vorhanden. Von weit her aus der Diaspora
strömen kriegstaugliche Männer zum letzten Kampfe gegen Rom.
Bar Kochba - Sternensohn
Abb.:
Eine Sela-Münze (Tetradrachme), geprägt 134. Bar Kochbas Name Simon
erscheint rings um die Tempelfassade.
Und neben dem geistigen Organisator steht plötzlich der militärische, durch
die Autorität des Rabbi Akiba erwählt und vom Volke aufgenommen: Bar Kosiba,
den das Volk: den Sternensohn, Bar Kochba, nennt. Seine Armee betrug nach
jüdischen Quellen 400.000 Mann, nach Angabe des griechischen Historikers Dio
Cassius sogar 580.000 Mann.
Bar Kochba schlägt los, ehe Rom noch den Umfang der Erhebung begriffen
hatte. Der Feldherr Tinnius Rufus, ein Menschenschlächter, wird überrannt.
Neue Verstärkungen können nichts aufhalten. Auch die Hilfe des syrischen
Statthalters ist unwirksam. Binnen Jahresfrist hat Bar Kochba in Samaria und
Judäa über 50 feste Plätze und 985 Ortschaften und Städte erobert, darunter
Jerusalem.
Da muß Hadrian sich dazu entschließen, seinen größten Feldherrn, den
Bezwinger Britanniens: Julius Severus, mit einer großen Armee nach Judäa zu
entsenden. Severus wagt keine offene Schlacht. Er reibt unter unendlichen
römischen Opfern nach und nach die einzelnen Abteilungen auf. Er braucht für
dieses winzige Land drei und ein halbes Jahr Krieg und mehr als 50
Schlachten, um endlich den Führer Bar Kochba mit dem Rest seiner Mannschaft
in Bethar einzuschließen. Ein volles Jahr belagert er die Festung. Sie fällt
endlich durch den Verrat von Samaritanern im Jahre 135. Das Gemetzel, das
der Sieger veranstaltet, ist selbst nach römischen Begriffen grauenhaft. Dio
Cassius gibt die Zahl der Gefallenen auf über eine halbe Million an.
Abb.:
Brief Bar Kochbas an einen seiner Leutnants, Joschua ben Galgola.
Ihre eigenen Verluste haben die Römer verschwiegen. Wie Hadrian dem Senat
von der Beendigung dieses Krieges Nachricht gibt, wagt er nicht, die in
solchem Falle traditionelle Formel zu gebrauchen: »Ich und das Heer befinden
uns wohl.« Aber er wird zu Ehren dieses Sieges zum zweiten Mal zum Imperator
ernannt.
Ein gewaltiger Auswanderungsstrom setzt ein. Das Land verödet zusehends.
Der Rest versprengter Krieger wird in mählicher Arbeit aufgerieben. Aber
auch gegen die, die nicht mehr Waffen tragen, führt Hadrian Krieg; Krieg im
Sinne des Antiochus Epiphanes. Er erkennt sehr richtig, dass diese ewige
Kampfbereitschaft der Juden nicht Ergebnis eines imperialistischen
Machtwillens ist, sondern die Reaktion einer Idee auf feindliche Angriffe.
Darum setzt er sich das Ziel, die Idee abzutöten. Er vollendet die
heidnische Stadt Aelia Capitolina, mit einem Jupitertempel, mit
Götterbildern, Theater und Zirkus, und besiedelt sie mit Römern, Griechen
und Syrern. Den Juden wird die Ausübung ihres Kultes, insbesondere die
Beschneidung, das Halten der Sabbatruhe und die Beschäftigung mit dem
jüdischen Gesetz bei Todesstrafe verboten. Tinnius Rufus, ein unfähiger
Feldherr, aber ein fähiger Menschenschinder, wird zur Aufsicht bestellt.
Seine Spitzel durchsehen das ganze Land und führen zahllose Menschen zum
Martertod, darunter Rabbi Akiba.
In dieser Zeit fassen die jüdischen Gelehrten in geheimer Versammlung zu
Lydda folgenden Beschluß: ein Jude darf — wenn auch nur zum Scheine — sein
Judentum verleugnen, wenn es unter Bedrohung mit dem Tode von ihm verlangt
wird. Aber in drei Fällen ist er verpflichtet, den Märtyrertod auf sich zu
nehmen: wenn man Götzendienst, Unzucht oder Mord von ihm verlangt. Dieses
Gesetz wurde eminent praktisch, als späterhin die Verfolgungen der Juden in
den christlichen Staaten einsetzten.
Die Aufhebung der Hadrian-Edikte
Mit der Aufhebung der Hadrian-Edikte durch seinen Nachfolger Antonius Pius
setzt das jüdische Leben sofort mit dem gleichen Rhythmus wieder ein, den
der Befreiungsversuch unterbrochen hatte. Sie waren zwar bereit, die Arbeit
der geistigen Verankerung sofort zu unterbrechen, wie sich auch nur ein
Schatten der Möglichkeit bot, die staatliche Wirklichkeit durch einen
Aufstand wiederherzustellen; aber nach dem gescheiterten Versuch sind sofort
wieder die verantwortlichen Führer da und nehmen das Geschick ihres Volkes
in die Hände.
Es geht weiter - im Galil
Der Süden des Landes, das ehemalige Judäa, war von den Juden verlassen.
Soweit sie nicht ausgewandert waren, hatten sie sich im Norden, in Galiläa
konzentriert. Dort finden sich auch die geflüchteten oder vertriebenen
Lehrer und Gelehrten ein. In der galiläischen Stadt Uscha bilden sie ein
neues Synhedrion und stellen das Patriarchat wieder her. So überragend ist
die Autorität, die man dieser Institution freiwillig zuerkennt, dass die
babylonischen Juden ihr eigenes Patriarchat, das sie sich während des
Bar-Kochba-Krieges geschaffen hatten, auf Verlangen von Uscha ohne
Widerspruch auflösen. Die Judenschaft Palästinas war zwar die geringste,
aber sie wohnte in der historischen Heimat, und aus ihr war die Regierung
hervorgegangen. Sie respektierten diese Regierung fast noch mehr als früher
ihre Könige. Die vergaßen sie überschnell. Nicht einmal in ihren Sagen
verschwendeten sie einen Gedanken daran. Sie bewahren sich überhaupt mit
einer leidenschaftlichen Unbedingtheit ihre selbständige Auffassung von dem,
was sie unter Geschichte verstehen: den Versuch, ihre eigene Idee zu
realisieren.
Nur aus diesem Gesichtspunkt kann verstanden werden, dass sie nach dem
Scheitern aller politischen und militärischen Aktionen sich nicht nur völlig
auf ihr inneres geistiges Leben beschränken, sondern auch von den äußeren
Vorgängen keine Notiz nehmen. Es ist sehr bedeutsam, dass von dieser Zeit
an, vom II. Jahrhundert bis in das XI. Jahrhundert hinein, fast nichts an
jüdisch-historischen Quellen vorhanden und selbst die Chronologie kümmerlich
und unzuverlässig ist. Das beruht nicht darauf — wie manche Historiker
meinen —, dass sie nun plötzlich nicht mehr imstande gewesen wären,
Geschichte zu schreiben, oder dass sie nichts mehr an äußerer Geschichte
erlebt hätten. Sie hatten weit mehr als jedes andere Volk zu erleben. Aber
sie entziehen sich geflissentlich der Kenntnisnahme der äußeren Vorgänge.
Sie erledigen sie, ohne sie der Aufzeichnung für wert zu halten, einfach
durch die praktische Unterordnung unter die jeweils gegebenen Verhältnisse.
Ein Volk weigert sich hier, Geschichte zu notieren, die nicht seine eigene
ist und die ihm von außen her diktiert und aufgezwungen wird.
Diese Idee lässt sich bis in jede Einzelheit verfolgen und leitet zu einer
Gesetzmäßigkeit über: die jüdische Geschichte wird nach der endgültigen
Vernichtung der Staatlichkeit von der jeweiligen Umgebung abhängig; aber die
Gestaltung nach innen hin bleibt selbständig. Folglich treten in der
jüdischen Geschichte fortan doppelte Zäsuren ein: materiell-geschichtliche
und geistes-geschichtliche; äußere und innere. Sie fallen zuweilen zusammen,
meistens aber nicht.
So setzt also die palästinensische Judenschaft ihre Linie der inneren
Entwicklung gleichmäßig fort. Die äußeren Umstände lassen ihnen dafür 200
Jahre Ruhe. Sie benützen sie zur erneuten Ordnung und Prüfung der mündlichen
Lehre. Die Tradition, nichts davon aufzuzeichnen, musste aber der
Unmöglichkeit weichen, diese Unsumme von Stoff dem Gedächtnis anzuvertrauen.
Zu Beginn des III. Jahrhunderts fasst Jehuda haNassi, zugleich Patriarch,
Vorsitzender der Synhedrions und Leiter der Akademie, alles Material zu
einer großen Enzyklopädie zusammen, der bis auf uns gelangten Mischna. Sie
war kein Gesetzbuch, sondern ein Sammelwerk, nicht Kodex, sondern
Studienmaterial, das auch nicht mehr gültige Gesetze enthielt. Erst viel
spätere Zeiten haben in dem Bestreben, sich immer mehr rückwärts zu
verankern, diesem Werk kanonische Heiligkeit beigelegt.
Judentum, Heidentum und Christentum
In dem Maße, in dem das Gesetz den Juden Halt nach innen gab, wurden sie
frei, die Vorgänge in der Welt zu betrachten und zu beurteilen. In der Welt
herrschten chaotische Zustände. Schon jetzt standen drei Glaubensformen
deutlich nebeneinander: Judentum, Heidentum und Christentum. Während das
Judentum sich abgrenzte und immer restriktiver wurde, zerflatterten
Heidentum und Christentum in eine Unzahl von Richtungen, Kulten, Sekten. In
Rom begann schon mit Commodus der Verfall der kaiserlichen Autorität, und
immer erneut bringen die Legionen ihre Männer zur Herrschaft. Damit wird
allen heidnischen Kulten des Orients ein Weg nach Rom geöffnet. Alle
Mischformen des Heidentums gelangen da zur Entfaltung, so wie auf dem Boden
des jungen Christentums zahlreiche Sekten entstanden.
In der Zwischenschicht aller drei Glaubensformen standen die Gnostiker,
Menschen stärkster religiöser Unruhe aus allen drei Religionswelten, die das
Wesen Gottes und seiner Beziehung zu Welt und Dasein ergründen wollten und
denen es — so nahe den heidnischen Kulten — nicht anders gelingen wollte als
durch das Zerbrechen des einheitlichen Gottesbegriffes in einen Dualismus.
Aber Christentum und Heidentum hatten auf dieser Stufe der Entwicklung eines
gemeinsam, was ihre spätere Annäherung und Verschmelzung begünstigte: den
religiösen Synkretismus. Einstweilen befeindeten sie sich noch, bis durch
den Übertritt eines einzelnen Menschen, des Kaisers Constantin, dem jungen
Christentum ein Danaergeschenk von schicksalhaftem Ausmaß zufiel: die
staatliche Gewalt.
Für die Juden standen die heiden-christlichen Sekten von allein Anfang an
außerhalb ihrer Interessen und ihrer Gesetzgebung. Nur die Juden-Christen,
die Minäer (Ketzer) konnten sie aus ihren Reihen ausschließen und sie mit
einer Gebetsformel verwünschen, da sie sich nach Art der Renegaten gern als
Angeber für die Spione des Hadrian hergaben. Aber auch ohne eigenes Dazutun
riss die Kluft zwischen Judentum und Christentum immer weiter auf. Die
synoptischen Evangelien (Markus, Mathäus, Lukas) hatten die Erbschaft des
Paulus angetreten, und in dem »Brief an die Hebräer«, der zu Beginn des 2.
Jahrhunderts in Italien entstand, kam die neue Note in die
Auseinandersetzung hinein: die Polemik.
Das junge Christentum brauchte Bestätigung, folglich die Polemik; und da es
sich in einer Welt des Aberglaubens durchsetzen wollte, erhob es auch gegen
das theophorische Volk den Anwurf, sein Glaube sei ein Aberglaube. (Hier
zieht die Kulturgeschichte eine Grimasse.) Aber die polemische Tendenz des
Christentums war schon deswegen natürlich, weil nicht nur die starke
Anziehungskraft des Judentums für den unverbildeten, gefühlsmäßig-religiös
eingestellten Menschen immer wieder in Übertritten zum Judentum ersichtlich
wurde, sondern auch deswegen, weil das Christentum zur Ausbildung seines
Kultes gar keine andere Möglichkeit hatte, als auf das Judentum
zurückzugreifen. Wie Taufe und Abendmahl in ihrem Ursprung jüdisch sind, so
werden auch die Gebete und Feste, die Gemeindeeinrichtungen und die
Erziehungsmethoden des Christentums vom jüdischen Brauch abgeleitet und
teils einfach — bis zur wörtlichen und sachlichen Nachahmung — übernommen.
Dennoch predigten sie: »Wir sollen keinerlei Verkehr mit diesen Leuten
pflegen, damit wir uns ihnen nicht angleichen...« Aber die apostolischen
Väter predigen ein schwach variiertes Judentum, und ihre Moral ist die des
"Alten" Testamentes.
Aus der Polemik erwuchs die Diskussion. Aber dabei geriet das Christentum in
eine gefährliche Situation; und noch Jahrhunderte hindurch, fast ein
Jahrtausend lang, als an Stelle der christlichen Religion längst die
christliche Kirche regierte, hat ihre Gesetzgebung sich immer wieder diesen
Punkt herausgegriffen, um durch das Verbot jeder Diskussion zwischen Juden
und christlichen Laien ihre immer gefährdete Position zu verteidigen. Denn
die Diskussion ging um das Dogma, und das Dogma war überaus verletzlich,
besonders deswegen, weil das Christentum für seine Dogmen unter allen
Umständen einen Beweis haben wollte, und dafür immer wieder auf die
jüdischen Schriften zurückgreifen musste.
Übrigens hatte das halachische Judentum, das wir das offizielle nennen
können, mit solchen Diskussionen nichts zu schaffen. Das war Sache des
haggadischen, des inoffiziellen Judentums. Sein typischer Vertreter war der
Darschan, der Wanderprediger, dessen Wirken das religiöse Bewusstsein des
Volkes ordnete und lebendig erhielt.
Es kam dann der Augenblick, in dem solche Diskussionen zwar nicht ihre
Bedeutung verloren, in dem aber das Christentum ein wirksames Mittel in die
Hand bekam, sie jeweils zu ihren Gunsten zu entscheiden: die Staatsgewalt,
das Gesetz, das Schwert. Es gelang ihm auch, den Juden die historische
Heimat zu rauben und die schöpferische Bedeutung dieser Heimat für das
Gesamtjudentum auf Jahrhunderte hinaus zu vernichten.
Aus dem III. Teil "DAS BEWEGLICHE ZENTRUM", von Josef Kasteins
(Julius Katzenstein) "Eine Geschichte der Juden"
Löwit 1938, Wien und Jerusalem,
Albert Einstein verehrungsvoll zugeeignet
hagalil.com
28-09-2005
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