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Koscher leben...
 
 

Kein Konsens in Sicht:
Kann "Judentum" definiert werden?

Theodor Much / Kescheth, Wien

Meinungsvielfalt und leidenschaftliche Diskussionen um vielerlei religiöse, soziale und politische Problemkreise waren seit jeher ein Charakteristikum des Judentums.

Eigenartigerweise wird heutzutage weltweit zwar heftig um die Frage gestritten, "Wer ist Jude", dabei gleichzeitig das nicht minder bedeutende Problem, wie man denn den Begriff "Judentum" definieren soll, kaum diskutiert.

Zur Frage "Wer ist Jude", existieren mehrere sehr gegensätzliche Ansichten. Die meisten Juden würden diese Frage wie folgt beantworten: "Jude / Jüdin ist jemand, der von jüdischen Eltern (zumindest von einer jüdischen Mutter) abstammt, oder nach den religiösen Gesetzen zum Judentum übergetreten ist".

Diese Fixierung auf die mütterliche Abstammungslinie ist heutzutage fast so etwas wie ein Dogma im Judentum, allerdings nicht für alle Juden. Denn besonders unter angelsächsischen Juden, finden wir nicht selten eine abweichende Auffassung bezüglich der Festlegung auf die materilineare Linie, und zwar mit folgenden Argumenten:

1. In biblischen Zeiten (bis hin zu Esra) wurden auch Menschen mit nur jüdischem Vater als Juden anerkannt (was auch in der Bibel nachgelesen werden kann)

2. Der Standpunkt der Befürworter der mütterlichen Linie, dass a) "vorwiegend die Mutter für die Erziehung des Kindes zuständig ist" und b) "nur die Mutter sicher ist, die Vaterschaft aber nie", im Zeitalter der weiblichen Emanzipation (bedenkt man, dass etwa in Israel die meisten Frauen berufstätig sind und Väter sich heutzutage ebenfalls um die Erziehung des Kindes bemühen) und der modernen Nachweismethoden der Vaterschaft nicht mehr stichhaltig sind.

3. Unabhängig davon, welcher Elternteil jüdisch ist, kommt es doch hauptsächlich darauf an, wie das Kind erzogen wurde, und was für innere Bindung das Kind zum Judentum verspürt. Denn warum sollte ein Kind einer der Religion gegenüber indifferenten (vielleicht sogar feindselig) eingestellten Jüdin, die ihr Kind auch nie jüdisch erzog, besser gestellt sein als ein Kind eines jüdischen Vaters, der dem Kind jüdische Grundkenntnisse und Liebe zum Judentum beigebracht hat?

4. Im Zeitalter der weltweiten Säkularisierung, der häufigen "Mischehen" und zunehmender Abwendung vom Judentum, sollte man - wenn Eltern und Kind es wünschen (und das Kind genügend religiöse Kenntnisse hat) - ein solches Kind als Jude / Jüdin akzeptieren, um zu verhindern, dass die ganze Familie dem Judentum verloren geht.

Diese (an sich logische) Argumentationslinie vertritt allerdings - wie schon oben erwähnt - eine Minderheit im Judentum (vorwiegend in den USA), während in Europa - auch in nichtorthodoxen Gemeinden (ebenfalls bei Or Chadasch Wien) - die Fixierung auf die mütterlichen Linie Tradition ist; auch um den Graben zwischen orthodoxen und nichtorthodoxen Judentum nicht noch mehr zu vertiefen.

Ebenso umstritten ist heutzutage die Frage der Giurim (Konversionen) zum Judentum. Denn die meisten Übertritte zum Judentum werden - bedingt durch die zunehmend ablehnende Einstellung der Orthodoxie zur Konversion - von nichtorthodoxen (Reform- und konservativen) Rabbinern durchgeführt, und genau diese Übertritte will das orthodoxe Rabbinat unter keinen Umständen anerkennen, selbst dann nicht, wenn - wie es heute in Reformgemeinden selbstverständlich ist - die Konvertiten lange und gewissenhaft auf den Übertritt vorbereitet werden. Auch die mitteleuropäischen Einheitsgemeinden (deren Mitglieder vorwiegend säkulare Juden sind) vertreten den Standpunkt der Orthodoxie. Sie akzeptieren keine nichtorthodoxen Übertritte und gestatten nicht einmal, konservativ oder reform konvertierte Ehepartner von Gemeindemitgliedern auf ihren Friedhöfen zu bestatten (was oft zu familiären Tragödien führt).

Im Judentum wird also nicht nur um die Frage gestritten "Wer ist Jude", sondern auch "Wer Rabbiner ist" (und somit berechtigt Konversionen durchzuführen).

Noch viel schwieriger als die Definition der Frage, "wer ist Jude", ist es eine befriedigende Antwort auf die Frage zu finden, was das Judentum ist.

Die meisten Juden würden die Frage nach einer Definition des Judentums mit Schlagworten wie: "Volk", "Religion" oder "Schicksalsgemeinschaft" beantworten.

Doch bei kritischer Betrachtung dieser Begriffe kann man leicht feststellen, dass sie alle nur sehr bedingt auf das Judentum zutreffen, wie im Folgenden kurz gezeigt werden soll:

"Volk": Akzeptiert man die allgemein gültige Definition des Begriffes "Volk" als die "Gesamtheit von Menschen, die sich durch ein Zusammengehörigkeitsgefühl verbunden weiß, das seinerseits durch eine Vielzahl von Faktoren (wie gemeinsame Kultur, Sprache und Geschichte) bestimmt ist", dann kann die Tatsache nicht übersehen werden, dass heutige Juden, global gesehen, weder eine gemeinsame Sprache (die Mehrzahl der Juden außerhalb von Israel verstehen kein hebräisch), noch eine gemeinsame Kultur besitzen.

"Religion": Die Mehrzahl der Juden heute sind säkulare Juden, die nicht nach den Regeln der Halacha leben. Trotzdem verstehen sie sich (genauso wie atheistische Juden) als Juden, so dass klar ersichtlich wird, dass "Religion" alleine Judentum nur bedingt definieren kann.

"Schicksalsgemeinschaft": Betrachtet man die eindrucksvollen unterschiedlichen Entwicklungen und Schicksale der Juden in aller Welt (etwa von polnischen, amerikanischen oder jemenitischen Juden), dann wird auch hier klar, dass der Terminus "Schicksalsgemeinschaft" für das Judentum keine Berechtigung hat.

Noch viel unsinniger wäre der Versuch Judentum - wie es einst geschah - biologisch zu definieren, denn es gibt (und gab) nie so etwas wie eine "Jüdische Rasse". Kein Jude kann außerdem ausschließen nichtjüdische Vorfahren (Konvertiten zum Judentum) gehabt zu haben, und gleiches gilt - unter umgekehrten Vorzeichen - für sämtliche Christen.

Da alle oben genannten (traditionellen) Begriffe nur bedingt das Judentum definieren können, meine ich, dass das Wort "Traditionsgemeinschaft" am ehesten auf das Judentum zutrifft. Denn auch nichtreligiöse, säkulare (und selbst atheistische) Juden bewahren (oft nur aus einem Gefühl der Solidarität heraus) - ähnlich wie gläubige Juden - jüdische Traditionen, feiern mit Familienangehörigen und Freunden jüdische Festivitäten und versuchen ihr Wissen über das Judentum - ganz im Sinne der jüdischen Lerntradition - zu erweitern.

Abschließend kann nur trocken (vielleicht auch resignierend) festgestellt werden, dass gleichgültig wie sehr Juden sich um einheitliche Definitionen zu den Fragen, "wer Jude ist" und "was das Judentum ist" bemühen, ein diesbezüglicher Konsens in der jüdischen Welt nicht in Sicht ist.

Theodor Much / Kescheth, Wien

[Diskussion]
Juden und Judentum



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