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OR - das Licht. Bildung gegen Dummheit und Antisemitismus.
[Reihe: Jüdisches Denken - Philosophie, Religion und Gesellschaft]

Jahrzeit:
Felix und Moses Mendelssohn

Von Rabbiner Tom Kucera

Im vergangenen Monat haben wir uns an den Jahrestag einiger berühmter Persönlichkeiten erinnert, u. a. an den 200. Geburtstag des Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy. Die vollständige Herausgabe seiner Briefe bezeugt allerdings keine Zeichen jüdischen Bewusstseins.

Für die einzige Verbindung zum Judentum kann die Bearbeitung biblischer Themen genommen werden, wie z. B. der Prophet Elias in dem ebenso genannten und beeindruckenden Oratorium, und der Name Mendelssohn, den der bekennende Protestant Felix aus Respekt vor seinem jüdischen Großvater Moses Mendelssohn behielt. Allerdings haben sich die beiden nie getroffen, weil Felix erst 23 Jahre nach dem Tod seines Großvaters geboren wurde.

Moses Mendelssohn hatte im letzten Monat die Jahrzeit. Er starb vor 223 Jahren in Berlin. Im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Immanuel Kant, der ziemlich kritisch den Juden gegenüberstand, war Mendelssohn ein bewusster Jude und ein berühmter Denker und Schriftsteller. In der damaligen Berliner Gesellschaft hatte er es nicht leicht. Ein Offizier, der genau wusste, wer Moses Mendelssohn war, hielt ihn auf der Straße an und fragte ironisch: „Womit handelt Ihr? Ich möchte Euch gerne etwas abkaufen!“ „Womit ich handle, könnt Ihr ohnehin nicht brauchen. Ich handle mit Verstand.“ Tatsächlich wird Moses Mendelssohn als Vater der der jüdischen Aufklärung angesehen.

Beim Wort Aufklärung denke ich an die französischen Philosophen, an ihre Ablehnung der Religion und ihre Ablehnung all dessen, was ihrer Meinung nach damals falsch war. Die jüdische Aufklärung, genannt Haskala, geht ebenfalls den Weg der Vernunft (Sechel). Moses Mendelssohn sagt explizit, die Vernunft sei das einzige Mittel, um die menschliche Erfüllung zu erlangen. Doch gleichzeitig bleibt er der Tradition gegenüber maximal treu – bei den Gebetszeiten, im Lebensstil, beim Einhalten des jüdischen Kalenders und nicht zuletzt bei der gesellschaftlichen Chuzpe, als er Friedrich II. kritisierte, der danach Mendelssohn nicht die Bestätigung für die Aufnahme in die Vereinigung der Gebildeten gegeben hat. Mendelssohn antwortete darauf: „Es ist jedenfalls besser, dass die Gebildeten mich gewählt haben und der König mich ablehnte, als dass der König mich gewählt hätte und die Gebildeten hätten mich abgelehnt.“

Die Bedeutung Moses Mendelssohns ging über das Judentum hinaus. Sein Attribut „Sokrates von Berlin“ wurde sogar von den damaligen Antisemiten akzeptiert. Der jüdische Sokrates sprach von den ewigen Wahrheiten, die unserem Verstand klar und evident sind, und von den historischen Wahrheiten, die einer Erklärung bedürfen. Den ersteren, den immanenten Wahrheiten ordnet er den Gottesglauben zu und versucht zu zeigen, dass er auf der Rationalität aufbaut und zu den Prinzipien der universellen Religion gehört. Der Mensch nimmt in seinem Inneren ein höchstes Wesen wahr. Weil aber diese Wahrnehmung nicht von einer erworbenen Erfahrung ausgehen kann, muss der Gottesglaube zu den universellen Erfahrungen gehören und muss die Wahrnehmung dieses höchsten Wesens auch mit seiner Existenz verbunden sein. Diesen ontologischen Beweis Gottes der klassischen Philosophie können wir teilweise auch in der modernen Wissenschaft nachvollziehen: Es gibt ein Gottesmodul in unserem Gehirn, das nötig für unsere Entwicklung und sogar unsere soziale Fähigkeiten im Laufe der Evolution war. Religiöse Überzeugungen und Verhaltensweisen halfen uns, strategisch zu planen und Emotionen zu kontrollieren. Kann es also nicht sein, dass der Gottesglaube beim Überleben der Spezies Homo sapiens geholfen hat? Dieser Beweis steht noch offen.

In einer anderen Meinung ist der originelle Mendelssohn sogar abweichend vom klassischen Judentum, wenn er behauptet, die menschliche Freiheit sei logisch nicht möglich, weil jede Freiheit ein Ausdruck dessen ist, was keine Ursache hat. Doch alles, war wir Menschen machen, hat eine Ursache. Wenn jedoch der Mensch nicht frei ist, wie kann er bestraft werden? Mendelssohn sagt dazu, Gottes Strafe sei kein Selbstzweck, sondern eine Vorbereitung auf die Olam haba. Die moderne Neurologie beobachtet etwas Ähnliches, zieht aber eine ganz andere Schlussfolgerung: Der Mensch handle aufgrund seiner Neuronenverbindungen im Gehirn und habe deswegen keinen freien Willen. Auch hier steht der Beweis noch offen (wollen wir ihn eigentlich überhaupt?).

Moses Mendelssohn war ein strikt traditioneller Jude, der sich jedoch der Modernität öffnen wollte. Deswegen gehört er zu denjenigen, die das Reformjudentum (einige Jahrzehnte nach seinem Tod und wahrscheinlich nicht ganz in seinem Sinne) mitgeprägt und beeinflusst haben. Das progressive Judentum glaubt auch, dass die Offenbarung (die Tora) nicht in Konflikt mit den staatlichen und bürgerlichen Pflichten und nicht in Konflikt mit der Vernunft sei. Auf der anderen Seite nehmen wir wahr, dass im Konflikt zwischen der Tradition und der Modernität die Erstere nicht kompromisslos überwiegen muss. Die beiden Elemente abzuwägen und sich informiert und verantwortlich zu entscheiden, gehört zu den schwierigen Aufgaben des progressiven Judentums.

Wir feiern bald Pessach, das als Sman cherutenu, die Zeit unserer Freiheit, bezeichnet wird. Die Freiheit ist jedoch oft ein Wechselspiel zwischen der Tradition und der Situation, zwischen den Regeln und dem Loslassen. Während wir uns dem Pessach nähern, mögen wir daran denken – und an unsere Verantwortung, die dahinterstecken soll.

Zum Inhaltsverzeichnis: Jahaduth



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