Interview mit Teddy
Kollek
- dem ehem. Bürgermeister Jerusalems:
Wir brauchen den Dialog
Jerusalem kennt jeder, zumindest dem Namen nach oder aus der Zeitung. Doch
keiner kennt es wohl so gut wie Teddy Kollek. Als er 1911 in der
Donaumonarchie geboren wurde, regierte dort noch der Kaiser und keiner hätte
darauf gewettet, dass es noch in der ersten Hälfte des Jahrhunderts einen
jüdischen Staat geben würde.
1935 emigrierte Kollek nach
Palästina in das Kibutz Ein Gev am See Genezareth. Nach der
Staatsgründung wurde Kollek vom ersten Ministerpräsidenten David
Ben-Gurion zum Leiter des Ministerpräsidentenamtes ernannt. 1965 wurde
er zum Bürgermeister Jerusalems gewählt, ein Amt, das er bis 1993
ausfüllte. Ben Atid traf den mittlerweile 88jährigen Kollek, der noch
immer als internationaler Vorsitzender der Jerusalem Foundation aktiv
ist, in seinem Büro im Jerusalemer Israel Museum.
Herr Kollek, wir treffen uns
heute im Israel Museum in Jerusalem. Die Idee zum Gründung dieses
Museums wurde von Ihnen massgeblich unterstützt. Derzeit gibt es eine
weltweit einmalige Kandinsky Ausstellung. Haben Sie sich das damals so
vorgestellt?
KOLLEK: Eigentlich nicht. Warum wir
das Museum begonnen haben? Weil weil wir eine große Anzahl von
Antiquitäten hatten. Die Landwirtschaft hat sich geändert, man hatte
tiefer gegraben und Dinge gefunden, die man früher nie gesehen hat. Wir
wollten die Fundstücke bewahren. Sie sollten nicht zerbrochen und
weggeworfen werden. Eigentlich hat das mit der Idee eines
archäologischen Museums begonnen. Dann haben uns viele Leute auch
einzelne Dinge gegeben, die gut ins Museum gepaßt haben. Vor allem
im letzten Jahrhundert hat man beispielweise viele Aquarelle über Israel
und Jerusalem gemacht. Diese Aquarelle waren wertvoll, es gab viele
Maler hier und wir wollten das alles sammeln und zeigen. Aus diesen
verschiedenen Gründen ist das Museum entstanden und es ist
verhältnismäßig schön geworden.
Sie waren 28 Jahre lang
Bürgermeister (Arbeitspartei) von Jerusalem, der Stadt, der Ihre Liebe
gehört. Was macht Jerusalem aus?
KOLLEK: Es gibt historische Gründe,
die Sie alle kennen, die will ich Ihnen nicht erzählen. Jerusalem ist
stark gewachsen, es ist neue Einwanderung dazugekommen. Man mußte
versuchen von einer sehr heterogenen Stadt eine Gesellschaft zu bauen,
die das neue Land Israel vertreten kann. Dazu haben viele Dinge gehört.
Heute glaube ich, dass uns das zu einem bestimmten Maße gelungen. Wir
haben - und das drückt sich oft in Kleinigkeiten aus - 120
Kinderspielplätze, früher gab es gar keinen.
Diese Kinderspielplätze bringen die
Leute zusammen, erst die Kinder, aber auch die Eltern. Wir haben, als die
Stadt vereinigt wurde, begonnen, Community Centers zu bauen. Die helfen den
Leuten vom Kindergarten bis zu Älteren alle möglichen Tätigkeiten
auszuführen, die sie einander näher bringen. Die Community Centers haben
sich bewährt, wenn sie auch zu wenig Geld haben, um ausgezeichnet zu
arbeiten. Sie beteiligen sich daran, dass es in ihrer Gegend nicht so
schmutzig und vernachlässigt aussieht. Ob das immer gelingt, weiß ich nicht.
Und darunter gibt es auch einige ganz arabische, die für solche Ideen
überhaupt nicht anzusprechen waren. Sie haben viel zum Stadtklima
beigetragen, zum Zusammenleben. Das ist keine kurzfristige Angelegeneheit,
sondern eine Angelegenheit von zwei bis drei Generationen. Aber immerhin,
man trifft sich, auf diesen Spielplätzen, man trifft sich im Zoologischen
Garten. Waren Sie im zoologischen Garten? Den müssen Sie sich ansehen, bevor
Sie schreiben. Er ist ein großer Erfolg.
Wir sind die heterogenste Stadt im heterogensten Land, eine Millionen
Palästinenser und fünf Millionen Juden, die aus 60 verschiedenen
Kulturkreisen kommen. Fast vierzig verschiedene christliche Kirchen, die
nicht immer in Frieden miteinander leben, im Gegenteil. Palästinenser sind
auch nicht aus einer Ecke gekommen, viele sind während der letzten zwei
Generationen hier eingewandert, weil es hier bessere Arbeitsmöglichkeiten
gab. Jeder will seine eigene Schule, jeder will seine eigene Religion, jeder
will seine eigenen Sitten haben. Was wir tun, ist jedem die Freiheit zu
geben, so zu leben, wie er will. Natürlich, glaube ich, gibt es mehr
Freiheit hier als in den meisten anderen Ländern. Was wir tun, ist schwer
organisierbar. Wenn 600.000 im Jahr in den Zoo kommen, orthodoxe Juden,
nicht-orthodoxe Juden, freie Juden, Araber und Palästinenser, aber auch alle
kleine christliche Gruppen.
Die Jerusalem Foundation hat 120 Spielplätze gebaut, um die Leute
zusammenzubringen. Wir wollten sicher einen schönen Tiergarten in der Stadt
haben, aber es war uns genauso wichtig, dass Leute sich treffen und sich
irgendwie aneinander reiben und aneinander gewöhnt werden. Unsere Generation
ist ungeduldig, an und für sich sind Juden ungeduldig, die ganze Welt ist
ungeduldiger geworden, weil es alle diese neuen Sachen gibt -
Radio, Fernsehen, Internet usw. Man kann nur hoffen, dass das
geschehen wird, und zwar nicht Leute zwingen, dass sie zusammenleben,
sondern sie zusammenbringen in Community Centern, Spielplätzen, beim
Fußball, wo immer es geht, alle zu einer verhältnismäßig guten friedlichen
Gesellschaft zu bringen.
In Ihrer Amtszeit haben Sie
sich oft zu Fuß aufgemacht, um ihre Stadt zu erkunden, sozusagen ein
"Bürgermeister zum Anfassen." Sie sind kein Mann der recht viel Wert
legt auf Studien und umständliche Gutachten
KOLLEK: Ich weiß nicht, ob es
ein bewußter Stil war, aber wenn ich um sechs Uhr aufstand und an den
Platz kam, wo sich die ganzen Gärtner und Straßenarbeiter treffen, um
sich aufzuteilen, und ich sie frage, wie sie den Tag verbringen werden,
was ihre Pläne sind, dann ist das eine bestimmte Unterstützung. Eine
Aufmunterung, das habe ich ziemlich oft getan. Das geschieht heute nicht
und das tut mir leid, denn die Stadt sieht ein bißchen vernachlässigt
aus.
Seit der Wiedervereinigung der
Stradt 1967 haben Sie die Verständigung zwischen Arabern und Juden in
Jerusalem vorangetrieben.
KOLLEK: Ich wäre froh, wenn
das so gegangen wäre. Die Leute haben kein Interesse sich zu treffen.
Sie wollen mit ihren eigenen Leuten zusammmen beliben. Das Treffen
geschieht zufälligerweise. Vielleicht können wir das planen, aber die
Tatsache bleibt, dass sich die Leute nicht treffen wollen. Aber mit der
Zeit trifft man sich doch, und dann entsteht eine bestimmte Mischung.
Das ist eine Sache, für die man viel Geduld haben muß. Und die Leute
haben wenig Geduld, wie überall auf der Welt.
Ministerpräsident Ehud Barak
versucht, die Aussöhnung mit der arabischen Welt voranzutreiben. Ein
Meilenstein auf diesem Weg ist der Status von Jerusalem. Was raten Sie
ihrem Parteifreund in dieser Frage?
KOLLEK: Ich glaube, man kann
auch beim Friedensprozeß keine geplante Arbeit machen, aber Jerusalem
ist und bleibt die ungeteilte Hauptstadt Israels. Niemals werden hier
Mauern wieder aufgebaut. Von mir aus kann man Abu Dis zur Hauptstadt der
Palästinenser machen. In dieser Frage gibt es keine
Meinungsverschiedenheiten.
Wie stehen Sie zu einem
Palästinenser-Staat?
KOLLEK: Der gebührt ihnen und
den soll Arafat bekommen. Wenn man sich damit herumdrückt, ist es eine
Dummheit.
Sie haben immer versucht, mit
allen Religionsvertretern in der Stadt gute Beziehungen zu haben.
Jerusalem als Zentrum aller drei monotheitischen Weltreligionen könnte
zum Ort des Dialogs und Friedens werden.
KOLLEK: Die Schwierigkeit
ist, dass die, die es wollen, die Israelis sind. Die Palästinenser
wollen das ganze Gebiet haben und die Juden loswerden. Langsam lernen
sie, dass das niemals geschehen wird. Sich daran zu gewöhnen, dass
Araber mit den Juden zusammen leben, ist eine schwere Sache. Dazu
braucht man die Überzeugung, aber vor allem auch die Zeit. Das kommt
nicht von selbst, sondern dadurch, dass sie sich zufällig begegnen. Das
wird nicht durch politische Beschlüsse geschehen.
Seit dem Abend des 10.September
gilt nach jüdischen Kalender das Jahr 5760. Werden Sie dennoch das
Millenium feiern?
KOLLEK: Die ganze Frage der
Daten ist sehr kompliziert. Über Christus Leben hat man mehr
nachgeforscht und auch herausgefunden, dass es nicht genau dieses Jahr
ist, sondern vielleicht 26 Jahre früher oder später. Und das verliert
seinen Wert, wenn man jedesmal die Sache zuspitzt.
Wie man Sie kennt, werden Sie
das Millenium in Jerusalem beschließen und das neue beginnen. Haben Sie
irgendwelche Vorstellungen, was sich am 1.Januar 2000 ändern wird? (Das
Interview wurde Ende '99 in Jerusalem geführt).
KOLLEK: Es wird alle
möglichen großen Feierlichkeiten geben, auch wenn die Leute heute
aufgeklärter sind und wissen, dass man das nicht so genau weiß mit dem
Jahr 2000. Aber ich hoffe doch, dass viele Menschen, denen das Symbol
der Geburt Christi viel bedeutet, große Gebete und Gesänge durchführen
werden.
Sie haben den Papstbesuch 1964
von Paul VI. nach Israel und Jerusalem organisiert, im Jahr 2000 will es
Johannes Paul II. ihm nachtun. Was erwarten Sie von diesem Besuch?
KOLLEK: Es gibt jetzt einen
Streit über den Bau einer Moschee vor der Verkündigungsbasilika in
Nazareth. Das klingt nach einer großen Sache, Daten sind halt immer eine
große Sache. Im großen und ganzen wird das aber eine recht kleine
Versammlung sein, mit vielleicht zehn oder 15.000 Menschen und nach
einer Stunde vorüber sein. Und die Kirche wird dort bleiben und der
Platz wird dort bleiben. Man wird sicher nicht noch einmal das Datum
abändern. Ich glaube nicht, dass das so besonders sein wird.
Es wird gesagt, dass Sie
eher zu Künstlern als zu Politikern ein nahes Verhältnis hatten. Wie
erklären Sie sich das?
KOLLEK: Schauen Sie, alles
was wir machen, kostet Geld. Jerusalem ist eine arme Stadt, sie wird
derzeit schlecht geleitet und verschwendet Gelder für unnütze
Angelegenheiten. Sie ist tief verschuldet. Die Stadt tut nicht genug,
ich glaube, in meiner Zeit haben wir mehr getan. Die ganzen Grabungen
kennen sie ja, in der Nähe des Goldenen Tors, welches immer geschlossen
ist. Dort ist die Stadtmauer immer noch nicht ganz restauriert. Als ich
herkam, im Jahr 35, sind alle Zinnen zerbrochen gewesen. Und man hat
sich sehr wenig um die Schönheit der Stadt gekümmert. Da ist noch Arbeit
für viele, viele Jahre und sie kann natürlich am besten gemacht werden,
wenn sich die verschiedenen religiösen Institutionen, Organisationen und
die Stadt gemeinsam hinstellen, denn sie sehen, das was man macht, ist
wirklich schön. Da muß man praktisch rangehen, an praktische Probleme
und das können viele Politiker eben nicht...
Sie sind 1911 in der
KuK-Monarchie geboren und 1935 nach Palästina ausgewandert.
KOLLEK: In meiner Klasse
waren wir fünf Juden, in einem verhältnismäßig populären und freien
Arbeiter-Bezirk in Wien, in Erdberg, wo es normalerweise leicht zu
Antisemitismus gekommen wäre, aber ich habe damals keinen gespürt. Das
ging erst 1938 mit dem "Anschluß" richtig los. Obwohl die Straße, in der
ich wohnte, ein Monument vom Begründer des Antisemitismus in Österreich
hatte. Aber man hatte ein leichtes Zusammenleben und hat darüber
nicht geredet.
Die rechtsgerichteten
"Freiheitlichen" haben bei der österreichischen Parlamentswahl Ende
September über 27% der Stimmen bekommen.Was denken Sie über das
Erstarken der rechten Bewegung in Österreich, die mit Sprüchen gegen
Ausländer, Kulturschaffende usw. auf Stimmenfang ging?
KOLLEK: Schauen Sie, das ist
kompliziert. Die Deutschen haben die Schuld des Antisemitismus und des
Nazismus auf sich genommen. Die Österreicher haben von Anfang an
gelogen, nach dem Motto "wir sind erobert worden und mußten das machen."
Das ist nicht wahr. Meine Eltern waren noch dort, und am ersten Tag als
Hitler einmarschiert war, war der Enthusiasmus so groß, daß man ihn sich
größer gar nicht vorstellen konnte. Die Grausamkeit den Juden gegenüber
war dieselbe wie in irgendeinem anderen Teil Deutschlands. Die
Freiheitlichen sagen, daß die Juden zu großen Einfluß haben, die alten
Lügen sind immer dieselben.
Halten Sie die Österreicher
tendenziel für Antisemiten? Oder wie erklären Sie sich Haiders Erfolge?
KOLLEK: Ich glaube, das ist
vor allem ein Fremdenhaß, man will nicht diese ganzen Fremden wieder
hinein nach Östereich bekommen. Dann ist es leichter, wenn man sich ein
besonderes Ziel setzt, und das Ziel sind die Juden. Ich glaube, das ist
ein Dämon, der wächst in Österreich, das gab es früher und wird es
wieder geben. Es gibt dafür keine Lösung. Und die Östereicher sagen, ja
was wollt Ihr denn von uns, wir haben doch gar nichts schlimmes gemacht.
Wir sind erobert worden, uns hat man nur gesagt, was wir tun müssen. Das
haben wir getan, aber wir haben nicht freiwillig Stellungen genommen.
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Sie haben sich immer für die
verschiedensten Formen des Dialogs eingesetzt. Auch die Arbeit der
Aktion Sühnezeichen in Israel haben Sie von Anfang an wohlwollend
begleitet. Seit über 25 Jahren kommen jedes Jahr Freiwillige aus
Deutschland etwa 18 Monate nach Israel.
KOLLEK: Ich hab nicht viel
getan, ihnen ein Haus gegeben und ich war sehr beeindruckt von der
Ehrlichkeit und Auffassung der Leute. Sie haben nicht viel verlangt,
waren immer sehr bescheiden.
Meinen Sie, dass sich durch die
Arbeit der ASF das Klima zwischen beiden Ländern positiv verändert hat?
KOLLEK: Alle, die die Arbeit
der Aktion Sühnezeichen kennen, sind sehr beeindruckt. Aber die Leute,
die davon wissen, sind eine kleine Minderheit. Am Anfang, als sie
Probleme hatten mit dem Haus usw., habe ich ihnen natürlich geholfen,
wie ich allen geholfen habe, um Menschen zusammenzubringen. Allerdings
halte ich es für wichtiger, die Zusammenarbeit zwischen Israelis und
Palästinensern zu fördern. Das probieren wir durch das Angebot, dass
alle in den Tiergarten gehen oder in den botanischen Garten. So kommt
das von allein, das ist das Natürliche, das Beste, man darf das nicht
aufzwingen.
Wer ist, Ihrer Meinung nach,
die Person des Jahrhunderts?
KOLLEK: Im Newsweek haben sie den
Hitler gewählt. Jeder ist von seiner eigenen Situation beeinflußt. Ich
bin als verhältnismäßig junger Bub in die zionistische Bewegung
eingetreten. Das war für mich das wichtigste, und dann hatte ich die
Möglichlichkeit, sieben oder acht Jahre Ben Gurions Büro zu leiten. Und
das hat mich sicherlich dazu gebracht, dass ich Ben Gurion für eine
außerordentliche Person gehalten habe.
Als ich vor einigen Tagen im Newsweek die Liste der Leute und ihre
Verdienste gesehen habe, da gab es viele mit großen Leistungen. Sie
haben auch Hitler hereingenommen, der den größten Einfluß auf Europa
gehabt hat. Wenn ich Nationalsozialist geworden wäre, dann würde auch
ich Hitler als den wichtigsten Mann Europas angesehen haben. Wie ist es
denn, wenn man sich Europa ansieht, was sind die großen Dinge die
geschehen sind? Ich glaube, dass das wichtigste, was in Deutschland
geschehen ist, die Annäherung zwischen den Deutschen und den Franzosen
ist. Ich weiß nicht, wie man das wirklich beschreiben kann, aber
Deutschland ist ein demokratisches Land geworden - und dazu hat Adenauer
wirklich viel beigetragen.
In unserem Fall war es Ben-Gurion. Wenn Ben-Gurion zu einer bestimmten
Zeit nicht da gewesen wäre, dann hätte man den israelischen Staat nicht
erklärt. Es gab große Diskussionen, bei denen ich anwesend war. Wir
wurden gewarnt vom Staatssekretär der Vereinigten Staaten. Er meinte,
die Staatsgründung würde zu unserer Ausrottung führen. Wäre sich
Ben-Gurion seiner Sache nicht so sicher gewesen, wir hätten diese
einmalige historische Chance vorbeigehen lassen. Sicher, es war ein
grosses Risiko und es sind Dinge geschehen, die bis heute sehr
umstritten sind. Wenn ich an die Diskussionen der Postzionisten denke...
Es gibt daran viel Wahres, man hat arabische Dörfer zerstört und
Menschen vertrieben. Man darf nie den Kontext ausser aucht lassen. Wir
waren bis dahin immer Minderheit... Wir haben 1948 fast 7.000 Leute
verloren. Das war ein ungeheuerer Prozentsatz. Am Anfang hatten wir kaum
Waffen. Trotzdem hat Ben-Gurion gesagt 'Voran!'. Die Waffen sind erst
später gekommen.
Wie sehen Sie die Situation um
die Staatsgründung und den Unabhängigkeitskrieg 1948?
KOLLEK: Tatsache war, dass wir
damals wenig Waffen hatten. Der US-Staatssekretär sagte uns, die
Schlagkraft der arabischen Armeen sei gering, aber es sind große Zahlen.
Es wird Euch gar nichts nützen, ihr werdet einfach ausgewischt werden.
Wartet lieber ein paar Jahre, vielleicht wird es besser gehen. Es waren
viele Leute, die daran geglaubt haben. Wir waren immer die Minderheit
damals. Andererseits sind die Geschichten, dass wir Dörfer vertrieben
haben wahr. Doch wir haben es geschafft und fast alle Prophezeihungen
widerlegt. (Hintergrund zum Thema 'Neue israelische
Geschichtsschreibung:
Wahre Identifikation beruht auf Tatsachen).
Was war für Sie das wichtigste
Ereignis im 20.Jahrhundert?
KOLLEK: Ich sehe nichts
wichtigeres, außer der Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich,
als den jüdischen Staat in diesem Jahrhundert.
Was ist das Internet?
KOLLEK: Ich habe auf meinem
Tisch keinen Computer, eines Tages habe ich beschlossen, dass es sich in
meinem Alter gar nicht lohnt, das alles noch zu lernen. Ich bin 88 und
halte mich davon weg. Für die Jungen ist es wichtig, das weiss ich - ich
persönlich werde wohl nicht mehr einsteigen.
Was würden Sie als den größten
Fehler Ihrer Karriere bezeichnen?
KOLLEK: Meine Karriere ist
nie nach einem Wunsch oder Trieb von mir geschehen. Was ich allein
gemacht habe und wozu ich hergekommen bin, war, um in den Kibutz zu
gehen. Und das war eine wunderbare Zeit. Aber nachher hat mich
Ben-Gurion gerufen. Ich habe noch unter dem Eindruck gelebt - was ich
auch heute noch tue - dass wenn der Ministerpräsident jemanden braucht,
ihn zu etwas einrichten will, ist es die Pflicht des Bürgers, das zu
tun. Das ist heute nicht mehr so tief eingeprägt, aber zu der Zeit war
das noch etwas tiefer und bei mir besonders. Also das hat mir einen
großen Anstoß gegeben. Hätte ich mich sehr angestrengt, hätte ich
nochmal eine Periode von fünf Jahren Bürgermeister sein können. Ich war
nie an der großen Politik interessiert, sondern nur dafür, was ich
persönlich tun kann. Ich hatte noch viele gute Ideen, und ich bin ein
bißchen betrübt darüber, wie schlecht die Stadt heute geführt wird, von
der Reinlichkeit bis zu den verschiedenen Dingen, die nicht gemacht
werden. Also, das sind minimale Angelegenheiten, ohne Weltbedeutung.
Noch fünf Jahre Bürgermeister, das hätte ich gerne getan.
Sie gehören zu den Menschen,
die den ersten Ministerpräsidenten David Ben-Gurion am besten gekannt
haben. Was meinen Sie, würde er heute sagen, wenn er Israel sieht? Der
Freidenker Ben-Gurion kämpfte sein Leben lang dafür, dass der jüdische
Staat nach bürgerlichem Recht und nicht nach dem Religionsgesetz regiert
werden würde.
KOLLEK: Ich glaube, Ben
Gurion hat die fundamentalistischen Kräfte unterschätzt. Die
strengreligiösen waren eine verhältnismäßig kleine Partei. Er war davon
überzeugt, dass man jedem seinen Weg ermöglichen muß und deswegen auch
den strengreligiösen ihren Weg ermöglichen muß. Dabei hat er sich
geirrt, er dachte nicht, dass das sich so entwickeln wird, wie wir es
heute sehen.
Herr Kollek, ich danke Ihnen
für dieses Gespräch.
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- Teddy Kollek
Jerusalem und Ich.
Memoiren; S.Fischer-Verlag 1995
- Uri Avnery, Azmi Bishara (Hsg.)
Die Jerusalem Frage
Israelis und Palästinenser im Gespräch
m. Teddy Kollek, Hanan Ashrawi, Amos Oz,
Faisal Husseini, Ehud Olmert...
Palmyra ISBN 3-930378-07-8 / ca. 28DM
- Uri Avnery
Zwei Völker - zwei Staaten
Gespräch über Israel und Palästina / ca. 20DM
BenAtid - haGalil
16-01-2000 |