Hilfe für Verfolgte und ihre Kinder:
Die Nachkommen erleben die Verfolgung ihrer Eltern noch
einmalQuelle: dpa, 24.07.1996
Berlin (dpa/eu/EMP) - Eine "Verschwörung des
Stillschweigens" lag jahrzehntelang über der Verfolgung von Juden unter der
Nazi-Diktatur. Die Überlebenden hatten gelernt, ihre Gefühle zu betäuben,
und es gab keine Zuhörer, die sich für ihr Schicksal interessiert hätten.
"Selbst in Israel wurden die Überlebenden von der
Gesellschaft als störend empfunden", sagte der norwegische Psychiater und
Lager-Überlebende Leo Eitinger 1991 in Berlin zur Eröffnung von "Esra",
Deutschlands einzigem Beratungszentrum für NS-Verfolgte und deren Kinder.
Fünf Jahre später ist die Zukunft von "Esra" ungewiß. Der
gemeinnützige Verein im zweiten Stock des Jüdischen Krankenhauses in Berlin
hat Finanzzusagen nur noch bis Ende des Jahres. "Etwa 200 000 Mark
werden für zwei festangestellte Psychologinnen und eine Verwaltungskraft
benötigt", sagt die Diplompsychologin Bettina Kaufmann. Sie hatte sich
Anfang der 90er Jahre durch eine Ausbildung bei holländischen Psychiatern
für die Arbeit mit jüdischen Verfolgten und deren Kindern qualifiziert.
Die Niederlande sind neben Israel, den skandinavischen Staaten und Kanada am
engagiertesten bei der psychologischen Betreuung von Holocaust-Opfern und
deren Kindern.
1994 und 1995 wandten sich 160 Menschen an "Esra". Einige
suchten Hilfe in Versorgungs- und Entschädigungs-Angelegenheiten, bei der
Anerkennung als Verfolgte oder bei der Rehabilitation. Andere fanden
erstmals Gelegenheit, über ihre alltäglichen Schwierigkeiten zu sprechen,
die nicht selten aus den Alpträumen der Verfolgung resultieren.
Nach Jahrzehnten des "Funktionierens" in den neuen
Heimatländern können plötzlich scheinbar unerklärliche Depressionen, eine
chronische Müdigkeit oder übertriebene Ängstlichkeit auftreten.
Nachdem die "erste Generation" der Schoa-Überlebenden
langsam ausstirbt, tritt die "zweite Generation" - die Kinder der Verfolgten
- in das Blickfeld der Psychologen. Es zeigt sich, daß sich die
Angespanntheit der Überlebenden und ihre unrealistischen Erwartungen an ihre
Kinder in spezifischer Weise auf diese übertragen.
"Durch die Kinder wollten Überlebende wieder einen Sinn
für ihr Leben finden", sagt der israelische Arzt Micha Neumann. "Damit wird
den Kindern eine enorme Last auferlegt. Sie sind die Container für alle
zerschmetterten Träume und Hoffnungen ihrer Eltern."
Einer Mutter beispielsweise war es nicht möglich gewesen,
über ihre Verfolgung zu sprechen. Aber ihr Kind lernte, den Charakter ihrer
Leiden von ihrem Gesicht abzulesen. Die Eltern dieser Generation banden ihre
Kinder, die heute zwischen 40 oder 50 Jahre alt sind, an sich und
blockierten notwendige Ablösungsprozesse.
"Die Kinder konnten nicht mit ihren kleinen Sorgen und
Schmerzen zu den Eltern kommen, weil sie glaubten, 'die Eltern haben schon
genug gelitten'", sagt Neumann.
Daraus resultierten oft seelische und körperliche
Symptome. Männer der "zweiten Generation" sind nach Beobachtung mehrerer
Studien aggressiver und impulsiver als der Durchschnitt, Frauen hingegen
zurückgezogener, ängstlicher und passiver.
Sie haben Probleme mit dem Gleichgewicht der Emotionen,
mit der gefühlsmäßigen Autonomie von den Eltern und mit der Identifikation
mit ihrem Heimatland, schrieb Johan Lansen in einem Beitrag für "Esra". Er
war bis vor wenigen Jahren Leiter des niederländischen Sinai-Centrums in
Amersfoort.
"Esra" bietet nicht nur Einzelberatung, sondern hat auch
Selbsthilfe-Gruppen initiiert. Im vergangenen Jahr organisierte der Verein
mit großem Erfolg ein Treffen für Menschen, die zur Zeit der Nazi-Verfolgung
Kinder bzw. Jugendliche waren. Ein solches Seminar soll vom 26. bis 28. Juli
in Berlin wiederholt werden. "Die sogenannten child survivors begreifen
sich zunehmend als eigene Gruppe", sagt die Psychologin Kaufmann. Sie geben
einen Rundbrief heraus, betreiben ein Zentrum in Nordamerika und
veranstalten Kongresse. In Berlin soll in kleinen Gesprächsgruppen mit
Therapeuten Gelegenheit sein, sich die Seele freizureden.
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