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Merkmale der Rückbenennungsdiskussion

Von Sascha Kindermann

Laut Bannasch war die evangelische St. Nikolai-Gemeinde stets "vehementer Gegner" der Rückbenennung. Dagegen hätten der übergeordnete evangelische Kirchenkreis Spandau, die Katholische Gemeinde und die "Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten" von Anfang an eine Rückbenennung befürwortet. Auch die CDU habe stets zu den Fürsprechern gehört, "hat sich aber immer sehr bedeckt gehalten" und die Diskussion "nie offensiv geführt." Auf Landesebene hätten sich der Landesbischof, andere Kirchenrepräsentanten und der Präsident des Abgeordnetenhauses nicht deutlich hinter das Vorhaben gestellt, obwohl sie sich in ähnlichen Fällen sofort in die Diskussion eingeschaltet hätten.85 Die Jüdische Gemeinde sprach sich stets für die Rückbenennung aus.86

Die Rückbenennungsdiskussion wies die folgenden Argumente und sonstigen Bestandteile auf:

Frühere jüdische Bevölkerung Spandaus

Bannasch bewertet die geschichtliche Bedeutung des Judentums für Spandau höher als die Kinkels:87 "Der Name Jüdenstraße erinnert an das einst rege jüdische Leben in der Havelstadt".88 Die Straße sei "über 400 Jahre Ausdruck für ein friedliches Zusammenleben jüdischer und christlicher Bürger in der Stadt Spandau" gewesen.89

Auch für Brenner ist "Jüdenstraße" "ein Name, der vierhundert Jahre Spandauer, Berliner und Jüdische Geschichte symbolisierte."90

Johann Gottfried Kinkel

Einige Gegner der Rückbenennung argumentierten, Kinkel (1815-1882) stehe in enger Verbindung zu Spandau. Er hatte von August bis November 1850 im Spandauer Gefängnis eingesessen.91

Kinkel gehörte zu den Kämpfern der Revolution von 1848, die bei den Nazis durchaus beliebt waren. Dazu schreibt Aly: "Mit den Umbenennungen [...] [u.a. in Kinkelstraße, Anm. d.A.] folgten die Spandauer besonders schnell dem Willen ihres Führers." Denn Hitler brachte die Revolutionäre in Mode, indem er kurz nach der Einverleibung Österreichs im März 1938 die Erinnerung an sie beschwor. Sich sah er als Exekutor ihres Ziels eines großdeutschen Nationalstaats. Aly: "Das Dritte Reich verehrte die deutschen Nationalrevolutionäre, und sie gaben dazu selbst einigen Anlass. Einer von ihnen hatte »Von der Maas bis an die Memel .« gedichtet. [...] Kinkels Freund und Trauzeuge Emanuel Geibel [...] schrieb die Verse: »Und es mag am deutschen Wesen / Einmal noch die Welt genesen.«" (Zeichensetzung i.O., Anm. d.A.)92

Nach Bannasch ist Kinkel "ambivalent zu betrachten", da er zuließ, dass in seiner Neuen Bonner Zeitung antisemitische Gedichte veröffentlicht wurden.93

Aufhebung der antisemitischen Umbenennung

Nach Bannasch wies die FDP von Anfang an darauf hin, dass die Nationalsozialisten intendierten, "das jüdische Element aus der Öffentlichkeit zu eliminieren."94 Deswegen solle man die Umbenennung nicht länger tolerieren,95 fünfzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus sei es an der Zeit "die Makel der deutschen Geschichte durch die Rückbenennung auszugleichen".96 "Ausgleichen" lassen sich die präzedenzlosen deutschen Verbrechen gewiss nicht. Trotzdem ist es selbstverständlich sinnvoll, die antisemitischen Beschlüsse aufzuheben, wo immer es möglich ist.

Verbot der Doppelbenennung von Straßen

Sigurd Hauff (SPD), Bürgermeister von 1992 bis 1995, verwies auf das Berliner Straßengesetz, das die doppelte Verwendung von Straßennamen nicht zulasse (Jüdenstraße im Bezirk Mitte).97 Dieses Argument weist Bannasch zurück, "weil es sich um Straßennamen handelt, die im Dritten Reich umbenannt worden sind. Dafür gilt eine Ausnahmeregelung."98

Mangelnde Einbeziehung der Anlieger

Das Argument, die Anliegerinnen und Anlieger der Kinkelstraße seien zu wenig beteiligt worden, stellte wohl das am häufigsten geäußerte dar.

Swen Schulz (SPD) bezeichnete das Verfahren als "bürgerfeindlich"99 und kritisierte mangelnde Bürgerbeteiligung - "schließlich lautet der Name seit über 50 Jahren Kinkelstraße."100 Das Bezirksamt habe die Anlieger viel zu spät über die beschlossene Änderung des Straßennamens und der Hausnummern informiert. Dadurch seien die Bürger de facto um ihr Widerspruchsrecht gebracht worden.101 Schulz berücksichtigte nicht, dass die Zeitungen über den Beschluss berichteten und die interessierten, zum Teil organisierten Anlieger ihn mit Sicherheit frühzeitig zur Kenntnis nahmen. Die Berliner Morgenpost vom 5.11.2002 kritisierte Schulz’ Haltung und erhob den "Vorwurf des leichtsinnigen Populismus". Er habe das Thema im Bundestagswahlkampf entdeckt und das gesamte Verfahren als "bürgerfeindlich" gegeißelt: "Nach dem Motto: Kritik muss ja wohl noch erlaubt sein dürfen. Möllemann lässt grüßen!"102 Es lässt sich feststellen, dass Schulz, indem er sich nicht inhaltlich positionierte und stets nur vom üblen Verhalten gegenüber den "Jüdenstraßen"-Gegnern sprach, das Bild von Unschuldslämmern, von Opfern von Politik und Verwaltung, zeichnete. Kritisch zu betrachtende politische Haltungen, Gewichtungen und Denkstrukturen wurden durch diese argumentatorische Fixierung komplett ausgeblendet.

Auch die Bürgeraktion selbst kritisierte mangelnde Bürgerbeteiligung: "Wir wehren uns dagegen, dass das Bezirksamt Entscheidungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit trifft" (Siegfried Schmidt).103 Die Berliner Zeitung kommentierte: "Und es klingt, als wäre der Beschluss in einem Hinterzimmer und nicht in einer öffentlichen Tagung der gewählten Bezirksverordneten getroffen worden."104 Ebenso wehrte Bürgermeister Konrad Birkholz (CDU) ab: "Die Diskussion ist hinlänglich bekannt." Alle Gremien seien angehört worden. Und Lieselotte Trieb von der Stadtentwicklungsverwaltung informierte: "Anwohner sind in geeigneter Weise in Kenntnis zu setzen", wozu eine Anhörung, Handzettel oder Anschreiben nicht vorgeschrieben seien.105

Folgekosten der Adressänderung

Ein befragter Geschäftsmann "bekommt schlechte Laune, wenn er an die Rückbenennung der ehemaligen Kinkelstraße denkt, denn: Der Umsatz sinke seit Jahren, immer mehr Läden machten in der Altstadt dicht, und jetzt auch noch eine neue Anschrift, inklusive einer neuen Hausnummer. Das bedeutet Behördengänge für Ummeldungen, neue Visitenkarten, Stempel . . ." (Berliner Morgenpost)106 "Neue Visitenkarten, wat dat kostet", zitierte die Zeit einen Anlieger.107 Der Morgenpost zufolge repräsentierte dies das Denken der meisten Geschäftsleute in der Straße.108 Bannasch gibt an, im Hinblick auf die Kosten, die aufgrund einer neuen Anschrift entstehen, könne er einen Teil der Anlieger, die von Anfang an dagegen gewesen seien, "ein Stück weit verstehen".109

Genügend andere Gedenkmaßnahmen

Der Spandauer Bürgermeister Werner Salomon (SPD) äußerte 1994 als Argument gegen die Rückbenennung, es seien eine Gedenktafel installiert und an den Straßenschildern Zusatztafeln zum früheren Straßennamen angebracht worden. Sein Nachfolger, Sigurd Hauff (SPD), teilte diese Auffassung.110 Auch die Bürgeraktion vertrat die Auffassung, eine Rückbenennung sei unnötig, weil mit Gedenktafeln und Zusatzschildern ausreichend an das jüdische Leben erinnert werde.111

Förderung des Antisemitismus

In früherer Zeit, so Bannasch, warf ihm u.a. der Tagesspiegel vor, er fördere durch sein Handeln zugunsten einer Rückbenennung den Antisemitismus und hole die Antisemiten nach Spandau. Den Vorwurf, er wolle den Antisemiten "Tür und Tor öffnen", habe auch ein Mitglied der CDU in einem Leserbrief erhoben, woraufhin sich allerdings der CDU-Vorsitzende "hoch und heilig" bei ihm entschuldigt habe.112

Persönliche Profilierung

Immer wieder wurde Bannasch unterstellt, dass er mit seinem Engagement für die Rückbenennung "sich doch nur profilieren wolle." (Die Zeit)113

Ghetto-Kennzeichnung

Judith Kessler von der Gemeindezeitung jüdisches berlin findet "eine Jüdenstraße völlig unnötig und sogar kontraproduktiv." Der Name "Jüdenstraße" sei generell eine "Ghetto-Kennzeichnung" gewesen.114 Diese Argumentation war ansonsten nicht festzustellen.

Einzelveranstalter Karl-Heinz Bannasch

Laut Bannasch äußerte sich latenter Antisemitismus dadurch, dass den gesamten Schriftverkehr der Bürgeraktion die Rede vom "Einzelveranstalter Karl-Heinz Bannasch" durchzogen habe. Dadurch sei die FDP als eigentliche Akteurin nicht zur Kenntnis genommen worden. Mit dieser Wortwahl habe man beabsichtigt, den Eindruck zu erwecken, dass ein "Querulant", ein "armer Irrer" am Werk sei, der bloß versuche, seine "Einzelmeinung" durchzusetzen.115

Anfeindungen per Post und Telefon

Bannasch berichtet, er sei am Telefon und per Post als "Judenfreund" bezeichnet worden. Ein Anrufer habe die Ansicht geäußert: "Sie können ja nur Jude sein." Oder: "Sie sind bestimmt Jude, und Sie können ja nicht anders. Gehen Sie in Ihr Heimatland zurück!" Bannasch kommentiert diese Anfeindungen im Hinblick auf Antisemitismus: "Das ist schon fast nicht unterschwellig."116

Tag der Rückbenennung: 1. November 2002

Diskussion nach der Rückbenennung

Resümee

Verwendete Quellen

Anmerkungen:
85 Eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 / 9.6.2004.
86 Vgl. Gäding 2002c.
87 Vgl. eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 / 9.6.2004.
88 Zit. n. Wobig 2002.
89 Zit. n. Münner 1994. Diese Beschreibung erweist sich jedoch schon allein dann als Idealisierung, wenn man an den "Hostienschändungsprozess" gegen Juden und deren anschließende Vertreibung im 16. Jahrhundert denkt. Das Argument der großen historischen Bedeutung wird dadurch freilich nicht entwertet.
90 Brenner, Alexander: Aktuelles. In: jüdisches berlin v. Dezember 2002.
91 Vgl. eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 / 9.6.2004.
92 Vgl. Aly, Götz: Jüdenstraße - Kinkelstraße. Ausgerechnet 1938 ehrte Berlin-Spandau zwei Revolutionäre von 1848. In: Berliner Zeitung v. 4.11.2002.
93 Vgl. eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 / 9.6.2004.
94 Ebd.
95 Vgl. Wobig 2002.
96 Zit. n. Münner 1994.
97 Vgl. ebd.
98 Zit. n. ebd.
99 Zit. n. Gäding, Marcel: Antisemitische Parolen in Spandau. In: Berliner Zeitung v. 2.11.2002a.
100 Zit. n. Wobig 2002.
101 Vgl. Kersten 2002b. - Zwei Wochen später erschien ein Artikel über eine BVV-Sitzung, der den gleichen Tenor aufweist. Die SPD habe die Bürgeraktion unterstützt, Schulz fordere "die Einführung erweiterter Bürgerbeteiligungsrechte." Die CDU dagegen bezeichne das Vorgehen des Bezirksamtes als "rechtlich korrekt" und "mit allen Fraktionen [...] abgesprochen." Vgl. Kersten, Christian: Kinkelstraße: Namens-Streit geht weiter. In: Märkische Allgemeine Zeitung v. 13.9.2002a.
102 Vgl. o.V.: Guten Morgen, . . . Swen Schulz! In: Berliner Morgenpost v. 5.11.2002.
103 Zit. n. Gäding 2002b.
104 Gäding 2002b.
105 Vgl. ebd.
106 Heun, Sylke: Straßenumbenennung kommt bei Geschäftsleuten nicht gut an. In: Berliner Morgenpost v. 6.11.2002.
107 Zit. n. Schimmeck, Tom: Volkszorn in der Jüdenstraße. Eskalation. In: Die Zeit v. 14.11.2002.
108 Vgl. Heun 2002.
109 Eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 / 9.6.2004.
110 Vgl. Münner 1994.
111 Vgl. Gäding 2002b.
112 Vgl. eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 / 9.6.2004.
113 Schimmeck 2002. Vgl. auch Gäding 2002c.
114 Vgl. eigenes Interview mit Kessler, Judith, 3.5.2004.
115 Vgl. eigenes Interview mit Bannasch, Karl-Heinz, 4.5.2004 / 9.6.2004.
116 Ebd.

hagalil.com / 08-02-2004


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