Der Fall Hilsner:
Ritualmord in Polna vor hundert
Jahren
Aus
Radio Praha - Regionaljournal: Wir besuchen in dieser Sendungen
einen Ort, der eher unrühmlich in die Geschichte eingegangen ist. Es handelt
sich um das Dorf Polna, in der Nähe des ostböhmischen Jihlava, Iglau und
liegt in der sogenannten Ceskomoravska vysocina, auf der Böhmisch -
Mährischen Höhe.
Polna
hat heute rund 5000 Einwohner, erwähnt wurde es erstmals 1242 in einer
Schrift des Königs Vaclav I. Zu einer wirtschaftlichen Blüte kam es in Polna
im 15. und 16. Jahrhundert dank der ungarischen Handelstrasse. Die
ursprünglich gotische Burg wurde zu einem Schloss ungebaut, in der
Stadtmitte befindet sich eine barocke Kirche und im Jahre 1681 wurde in
Polna ein jüdisches Ghetto gegründet. Mit dem Hinweis auf das Ghetto sind
wir fast schon im Zentrum des Geschehens. Genau vor hundert Jahren am
Ostersamstag fand man im Wäldchen Brezina in der Nähe von Polna die Leiche
von Anezka Hruzova, einer jungen Frau, die vor ihrem Tode brutal
vergewaltigt worden war.
Mehr ist über den Hergang des Verbrechens bis heute nicht bekannt. Doch
sorgte dieser Fund für eine ausserordentliche Hetzkampgne der damaligen
Presse, in einer Zeit, als in der Österreichisch - Ungarischen Monarchie der
klerikale Antisemistismus geradezu aufblühte. Der Obduktionsbericht der
Ärzte Michalek und Prokes aus Polna sprach vage von einer riesigen
Schnittwunde, die sich über den Vorderteil des Halses zog, von rechts nach
links. Aus solchen verschwommen Informationen und Vermutungen entwickelte
sich schnell ein perfides Geflecht von raffinierten Gerüchten, die den
vermeintlichen Täter des Mordes an der christlichen Jungfrau überführen
sollten.
Bevor es überhaupt erst zu dem Prozess in Kutna Hora kam, stand in den Augen
nicht nur der Polnaer Bevölkerung der Täter längst fest. Er hiess Leopold
Hilsner. Hilsner war ein jüdischer Schustergeselle, er wurde des
Ritualmordes an der frommen Anezka bezichtigt, man sprach von Koscherung,
dem Durchschneiden der Kehle, um christliches Blut für den Pessach zu
erhalten.
Hundert Jahre nach dem Fall Hilsner fand vor kurzem in Prag eine Konferenz
in der Karlsuniversität statt, die sich unter dem Titel Hilsner Affäre und
die tschechische Gesellschaft von 1899 - 1999 mit dem Thema Antisemitismus,
aber auch Aberglauben auseinandersetzte.
Es kamen viele Historiker, Philosophen, aber auch Mediziner zu Wort. So
beispielsweise der in Wien tätige Internist Petr Vasicek. Er ist mit seinen
Eltern 1968 nach Deutschland emigriert und begann sich eines Tages für den
sogenannten Fall Hilsner zu interessieren, wie ist er darauf gekommen...
Streaming
RA
Kehren wir zurück zu Hilsner. Eine zentrale Rolle spielte in dem
Schauprozess nicht der Angeklagte Hilsner selbst, sondern der Anwalt der
Hinterbliebenen Hruzovas, der antisemitisch gesinnte Jurist und Mitglied der
Radikalen Partei, Karel Baxa. Für ihn war der Mord an Hruzova vor allem
Mittel zum Zweck, um suggestiv die für Aberglauben empfänglichen,
potentiellen Wähler zu gewinnen. Der Fall Hilsner wurde durch zynische
Souveniers wie Postkarten regelrecht medialisiert. Bilder von der nackten
Anezka, der flankiert von einem Schächter und einem Kultusbeamten der
Hebräer durch den Beschaffer des Opfers Leopold Hilsner die Kehle über einem
Eimer durchgeschnitten wurde, versandte man aus Polna über die Grenzen der
Monarchie hinaus mit Grussworten wie: Liebe Angelina, ich schicke die eine
neue Karte, die zum Gedenken an den letzten Mord herausgebracht wurde. Die
Erinnerung in dieser Gegend wird nie verschwinden, weil die Menschen hier
fest der Überzeugung sind, dass es ein ritueller Mord war. Es küsst Dich ,
deine.... Zitatende
Es fragt sich natürlich, wieso liess man sich in der damaligen Zeit so
aufhetzen.
Dazu der Psychophysiologe Karel Kranda von der FU in Berlin:
Streaming
RA
Was spielte damals, vor hundert Jahren, als fast ganz Polna und Tschechien
glaubte, dass Leopold Hilsner der Mörder war, eine Rolle, dass sich die
Menschen so beeinflussen liessen. Was waren das für Faktoren, dazu Prof.
Kranda:
Streaming RA
Am 16. September 1899 wurde Leopold Hilsner in Kutna Hora zum Tode
verurteilt. Sein Fall wäre, wie so viele angebliche Ritualmorde, wohl kaum
in die Geschichte eingegangen, wenn dieser Justizirrtum nicht das Aufsehen
eines Prager Universitätsprofessoren für Philosphie, Tomas Garrigue Masaryk,
dem späteren ersten tschechoslowakischen Staatspräsidenten erregt hätte. An
besagter Konferenz der Karlsuniversität die durch das Jüdische Kulturzentrum
in Prag, sowie durch das T.G.Masaryk Institut veranstaltet wurde, herrschte
bei allen Teilnehmern Einstimigkeit darüber, dass Masaryk in einer Zeit
eines moralischen Wertevaakums bewusst dem gärenden Antisemitismus,
Aberglauben und Lügen den Kampf angesagt habe. Mit einer besonderen
persönlichen Sympathie Masaryks zu Leopold Hilsner hatte das jedoch nichts
zu tun, wie der Hilsnerforscher Jiri Kovtun aus Washington bestätigte:
Streaming RA
Masaryk erinnerte sich an diese Zeit der harten Konfrontation 1914 in der
Zeitung Cas Zeit mit den Worten: An die Kämpfe im Zusammenhang mit meiner
Verteidigung Hilsners erinnere ich mich ungern, mit innerlichem Unbehagen,
weil sie grob, sogar barbarsisch waren. Damals verfiel nicht nur die
Studentenschaft, aber auch die Universität dem antisemitischen Druck der
Strasse ...Soweit Masaryk. Er war bekannt für seine Unterstützung der
zionistischen Bewegung und reiste in den 20 - er Jahre sogar nach Palästina.
Eine Brücke vom Fall Hilsner in Polna nach Palästina schlug in seinem
Vortrag Milos Pojar, der nach 1989 als tschechischer Botschafter in Israel
weilte, wo er sich auf die Spuren von Masaryk begab. Was hat Pojar an
Masaryk Reise beeindruckt....
Streaming RA
Ex - Botschafter Milos Pojar, heute Leiter des Jüdischen Buldungs - und
Kulturzentrums, machte in Israel auch die Bekanntschaft mit einer Person,
die sich an Masaryks Besuch erinnerte:
Streaming RA
Kehren wir zum Schluss dieser Sendung zurück in die Gegenwart. Zur
Erinnerung: im Jahre 1918 wurde Leopold Hilsner begnadigt, ein Jahr später
heiratete er in der Wiener Synagoge Theress Rosenfeld und zehn Jahre nach
seiner Freilassung starb er als Leopold Hilsner in Wien und wurde auf dem
Zentralfriedhof begraben.
Am diesjährigen 100. Jubiläum der Hilsneriade in Polna kam es zu einer
Gedenveranstltung, an der Vertreter der jüdsichen Genmeiden Brünn und Tomas
Halik von der Christlcihen Akademie teilnahmen. Aber es kamen auch andere,
wie der Historiker und Hilsnerforscher Bohumil Cerny auf der Konferenz
bemerkte:
Streaming RA
Während zum Grab Anezka Hruzovas teilweise noch heute gepilgert wird, ist
das Grab von Hilsner, der bis heute nicht rehabilitiert wurde, in einem eher
desolaten Zustand. Wie sieht es heute aus, das Grab von Leopold Hilsner in
Wien. Dazu der Arzt Vasicek:
Streaming RA
Damit sind wir am Ende unseres heutigen Ausfluges nach Polna, in der
ostböhmischen Region, wo wir den Spuren von Leopold Hilsner nachgingen.
Am Mikrophon verabschiedet sich von Ihnen Marcela Pozarek.
© Radio Prague All
Rights Reserved 1999
Radio Prague
cr@radio.cz
Vinohradska 12 / 12099 Prague 2
Czech Republic / tel (+420 2) 2155 2971
Siehe auch:
[SPAZIERGÄNGE
IN PRAG]
|