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KAPITEL AUS DER
TSCHECHISCHEN GESCHICHTE

"Ritualmord" in Polna:
Die "Hilsneriade" 1899

Vor 100 Jahren wurde die 20jährige Schneiderin Anezka Hruzova in der Nähe des ostböhmischen Polna ermordet aufgefunden.

Aus Radio Praha: Dieser Mord wäre vielleicht einer von unzähligen Morden im 19. und 20. Jahrhundert geblieben, wäre der Mordverdacht nicht auf den 22jährigen Leopold Hilsner gefallen. Dieser war Jude und allein seine mögliche Teilnahme an der Gewalttat löste in den Böhmischen Ländern eine noch nicht dagewesene Antisemitismuswelle aus. Im folgenden werfen wir einen Blick auf dieses nicht gerade rühmliche Kapitel aus der tschechischen Geschichte.

Der Ostersamstag des Jahres 1899 fiel auf den 1. April. An diesem Tage entdeckte man im Wald Bêezina in der Nähe des ostböhmischen Städtchens Polna die Leiche der 20jährigen Anezka Hruzova. Ihr Mörder war unglaublich brutal vorgegangen. Er hatte sein Opfer zuerst von hinten mit einem Stock, dann acht mal mit einem Stein geschlagen, anschliessend hatte er die junge Frau mit einem Strick erdrosselt und schliesslich ihre Kehle durchgeschnitten. Die Bevölkerung im nahen Polna war entsetzt. Zahlreiche von ihnen pilgerten sofort zu der Stelle des grausigen Fundes, erste Vermutungen darüber, dass es mehrere Täter gewesen sein mussten, kamen auf. Schliesslich soll einer der Neugierigen den Verdacht ausgesprochen haben, dass die Wunde an der Kehle an das koschere Schlachten, wie es jüdische Metzger durchführten, erinnere. Die herbeigerufenen hiesiegen Ärzte stellten prompt fest, dass das Blut des Opfers fehle. Und damit war die Verschwörungstheorie geboren. Die meisten Bewohner von Polna waren sich sicher, dass Anezka Hruzova einem jüdischen Ritualmord zum Opfer gefallen war. Man musste nur noch die Täter ausfindig machen.

Eher zufällig fiel der Verdacht auf den arbeits- und wohnsitzlosen angehenden Schuster Leopold Hilsner. Der 22jährige passte in das Bild des Täters, denn er war Jude. Dass sich zu jener Zeit weitere verdächtige Personen in der Umgebung von Polna aufgehalten hatten, spielte bei den beginnenden polizeilichen Untersuchungen keine Rolle, denn sie alle waren keine Juden und somit unschuldig. Für heutige Betrachter sind die Unterlassungen im Fall Hruzova zum Himmel schreiend, die Zeitgenossen damals scheinen dies nicht bemerkt zu haben. In einem unlängst im tschechischen Fernsehen ausgestrahlten Dokumentarfilm erläuterte der Kriminologe Jiêi Strauss einige der Fehler seiner Kollegen im Jahre 1899:

"Neugierige sind immer ein Problem, darum gilt es als erstes, den Tatort abzusperren. Dies unterblieb und so wurden jegliche Spuren verwischt. Zudem beeinflussten die Schaulustigen mit ihren Vermutungen über einen jüdischen Ritualmord die Arbeit des Spurensicherung-Teams. Es wurde keine bereits damals übliche Photodokumentation angelegt, das Protokoll wurde einige Zeit später ergänzt - unter dem Einfluss der Antisemitismuswelle. Am Tatort wurde nicht festgestellt, wieviel Blut das Opfer verloren hatte. Und schließlich ließ die Polizei die Gründung eines Rechtsausschusses des Polnaer Rathauses zu, der sich unheilvoll in die Aufklärung des Falles einmischte."

Es scheint, dass die damaligen Polizisten alles falsch gemacht haben, was sie nur falsch machen konnten. Nicht besser verhielten sich die Pathologen, die die Leiche der Schneiderin untersuchten. Auch sie vergaßen die grundlegendsten Dinge, untersuchten die Kleider nicht auf Spermaspuren und schlossen so automatisch ein Sexualverbrechen aus. Der Vermutung vom Ritualmord wurde nichts entgegengesetzt.

Während der Beerdigung der Anuska Hruzova wurde der Ruf nach Rache für den Mord an einer unschuldigen jungfräulichen Christin laut. Der vom Rathaus eingesetzte Rechtsausschuss brauchte ein schnelles Ergebnis und ließ den 22jährigen Hilsner verhaften. Inzwischen hatte die Nachricht vom angeblichen Ritualmord die Stadtgrenzen überschritten, erste Journalisten kamen nach Polna. Der Mord an der Schneiderin wurde zu einer Angelegenheit im ganzen Böhmischen Königreich und bald auch in ganz Europa bekannt. Das auf fruchtbaren Boden fallende Gerede von einer jüdischen Verschwörung sorgte für eine Antisemitismuswelle, in der rationales Denken, Objektivität und Moral keine Chance hatten. Parolen wie "Kauft nicht bei Juden" waren überall im Lande zu lesen, es wurde über angebliche Greueltaten der Juden gemunkelt, darüber, dass sie im Blute jungfräulicher Christinnen baden sollen - dem Aberglauben wurden keine Grenzen gesetzt. Populär waren antijüdische Lieder und Postkarten mit entsprechenden Motiven.

Am 10. April 1899 kam es in Polna zu antisemitischen Ausschreitungen. Rund 300 Bewohner plünderten in dieser Nacht jüdische Geschäfte, schlugen Scheiben ein und riefen antisemitische Parolen. Laut Ansicht von Jiri Kotvun, Autor der bisher umfangreichsten Veröffentlichung über den Fall, war Polna jedoch keine ausgesprochen judenfeindliche Stadt.

"Dass gerade Polna Schauplatz dieser Tragödie und antisemitischen Ausschreitungen geworden ist, bedeutet nicht, dass Polna ein ausgesprochenes Zentrum des Antisemitismus gewesen ist. Was hier passiert ist, hätte überall in Böhmen passieren können. Antisemitismus war um die Jahrhundertwende ein internationales Phänomen. In Böhmen war er oft Bestandteil des wachsenden Patriotismus."

Inzwischen waren Moritaten, wie die eben gehörte, über die Bluttat von Polna im ganzen Land beliebt. Auch Leopold Hilsner wurde plötzlich zur bekannten Person. Er tauchte nicht nur in Liedtexten auf, auch der Handel mit Postkarten blühte. Doch bevor der Prozess gegen ihn beginnen konnte, benötigte man Beweise. Wie durch ein Wunder tauchte kurz vor Prozessbeginn ein Kronzeuge auf: der Schlosser Petr Pesak, der Hilsner am besagten Mordtag aus einer Entfernung von knapp 700 Metern am Tatort mit einem Stock bewaffnet gesehen haben will. Zudem sei Hilsner in Begleitung zweier verdächtig aussehender Juden gewesen. Schon damals mutmaßte man, dass Pesak deswegen aufgetreten sei, weil er von der ausgeschriebenen Belohnung erfahren hatte. Doch dies war der der Anklage ebenso egal, wie die geradezu unglaubliche Sehschärfe von Pesaks Augen. Endlich war ein Zeuge gefunden, Pesak stellte Hilsner dahin, wo ihn die Leute haben wollten. Überprüft wurde seine Aussage nie und so wurde der Schlosser Pesak zum Helden, dem es zu verdanken war, dass der angebliche Mörder verurteilt werden konnte. In Liedern wurde seine Heldentat besungen:

Am 12. September 1899 begann in Kutna Hora der Prozess gegen Leopold Hilsner. Das Gericht arbeitete unter dem Druck der Öffentlichkeit, die Zeugen waren von der Presse und der Ritualmordtheorie beeinflusst. Gegenargumente kamen nicht zu Wort und so jubelte die tschechische Öffentlichkeit bei der Urteilsverkündung: Tod durch Erhängen. Der Glaube an den Ritualmord war so stark gewesen, dass es keinen störte, dass die angeblichen Mittäter nie gefunden wurden. Zeugenaussagen zugunsten Hilsners wurden ebenso missachtet wie ärztliche Beurteilungen. In dieser Situation trat Tomas Garruige Masaryk - eher zufällig - auf.

Der spätere erste tschechoslowakische Präsident war damals Universitätsprofessor in Prag und auf dem besten Wege der Staatsfeind Nr. 1 zu werden. Auf Anfrage eines ehemaligen Schülers aus Wien, was er denn von dem Polnaer Mordfall halte, antwortete Masaryk schriftlich. Seine Antwort wurde in einer Wiener Zeitung veröffentlicht. Masaryk äusserte seine Zweifel an der Verschwörungstheorie und seinen Glauben an die Unschlud Hilsners. Damit zog er den Hass der nationalen Presse, der breiten Öffentlichkeit und nicht weniger Politiker auf sich. Im Hersbst 1899 veröffentlichte Masaryk eine Broschüre mit dem Titel "Die Notwendigkeit des Revidierens des Polnaer Prozesses".

Eine Kampagne gegen Masaryk begann. Die Zeitungen druckten tendenziöse Artikel, Masaryk erhielt unzählige anonyme Drohbriefe, seine Studenten boykottierten die Vorlesungen, beschimpften Masaryk als Judenfreund, der Universtitätsrektor beurlaubte den unliebsamen Professor. Der später allseits beliebte Präsident wurde zum Objekt antisemitische Lieder:

Doch Masaryks standhaftes Verhalten und moralische Prinzipien wurden im Ausland registriert. Nach der Entstehung der Tschechoslowakei 1918 erklärte Masaryk, dass diese Affäre ihm bei seiner Auslandsaktion zur Gründung des selbständigen Staates sehr geholfen hätte, denn seine moralische Authorität wurde insbesondere in den USA anerkannt.

Eines konnte Masaryk erreichen: eine Revision des Prozesses - diese führte jedoch nicht zum erhofften Ergebnis. Im Frühjahr 1900 hob der oberste Gerichtshof in Wien das Kuttenberger Urteil auf. Dies bedeutete jedoch nicht, dass sich die Lage für Hislner verbesserte. Als im südböhmischen Pisek ein neuer Prozess Begann, waren die Ankläger gut vorbereitet. Ein weiterer unaufgeklärter Mord an einer jungen Frau in der Nähe von Polna wurde nun Hilsner angehängt. Sein Alibi für jene Zeit zählte nicht. Erneut trat der Kronzeuge PeÊak auf, der ihn auch in Begleitung der zweiten Ermordeten gesehen haben will. Die Anklage stand. Zu einer Revision des Kuttenberger Urteils kam es nicht - Hilsner wurde erneut zum Tode verurteilt. Masaryk konnte am Prozess in Pisek nicht teilnehmen. Nicht, dass man seine Teilnahme mit Gewalt verhindert hätte, es fand sich einfach nirgends in und um Pisek eine Übernachtungsmöglichkeit für den Professor.

Über den Fall Hilsner berichteten inzwischen Zeitungen in ganz Europa. Was man in Böhmen nicht sehen wollte, wurde von der ausländischen Presse registriert. Für Kaiser Franz Josef wurde die Affäre unerträglich. Als Zeichen seines guten Willens begnadigte er den Schusterlehrling zu lebenslanger Haft. Zu einer Revision des Prozesses kam es allerdings nicht. 1918, in den letzten Kriegesmonaten, wurde Hilsner begnadigt und nach 19 unschuldig hinter Gittern verbrachten Jahren freigelassen. Er nannte sich nun Heller und lebte in Wien, wo er 1928 verstarb.

Eines hatte Masaryk leider nicht erreichen können: die Revision des Prozesses und die öffentliche Erklärung, dass alle Gerüchte von jüdischen Verschwörungen und Ritualmorden eben nur mittelalterliche Märchen sind und jeglicher Realität entbehren. Wäre ihm dieses gelungen, wer weiß, was für Folgen dies für das 20. Jahrhundert gehabt hätte. Denn es ist sicher, dass Adolf Hitler den Fall Hilsner kannte und an jüdische Ritualmorde glaubte. Dass damals in Polna ein Jude wegen solch einem barbarischen Mord verurteilt wurde, war für ihn ein Beweis für deren Existenz.

Auch heute, 100 Jahre nach den Geschehnissen, ist das Thema im ostböhmischen Polna noch immer aktuell. Bis heute sind nicht wenige Einwohner von Polna überzeugt, dass Anezka Hruzova einem jüdischen Ritualmord zum Opfer gefallen ist. Bis heute hat das Urteil gegen Leopold Hilsner Gültigkeit. Seine Aufhebung scheiterte bisher an der Bürokratie.

Und damit sind wir bereits am Ende unseres heutigen nicht gerade erfreulichen Geschichtskapitels.

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