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Die deutsch-tschechischen Beziehungen:
70 Jahre nach dem deutschen Einmarsch

Teil 3/3, Fortsetzung von Geteilte Erinnerung, von Samuel Salzborn
Buchbeschreibung: [Geteilte Erinnerung] [Bestellung]

BESTELLEN?Ein symbolisch überaus bedeutsames Beispiel für die Verknüpfung einer außen- und erinnerungspolitischen Eindeutigkeit der bundesdeutschen Politik wäre eine eindeutige, offizielle Absage an ein von den Vertriebenenverbänden gefordertes »Recht auf die Heimat«, dessen völkerrechtliche Umsetzung die Souveränität der osteuropäischen Staaten, insbesondere der Tschechischen Republik und der Republik Polen, fundamental in Frage stellen würde.

Denn auch wenn ein »Recht auf die Heimat« im europäischen Rechtskontext nicht nur ein antiliberaler Fremdkörper wäre, sondern auch gegen fundamentale Normen wie die Niederlassungsfreiheit verstoßen würde, wäre eine von einer deutschen Regierung formulierte politische Absage an eine solche Forderung der Vertriebenenverbände ein überhaus wirkungsvolles erinnerungspolitisches Signal gegenüber den osteuropäischen Nachbarn, das zugleich außenpolitische Wirkung hätte. Denn erst die Verknüpfung einer materiell (außenpolitisch) und ideell (erinnerungspolitisch) unmissverständlich ablehnenden Haltung der Bundesrepublik gegenüber den Vertriebenenverbänden würde gegenüber den osteuropäischen Nachbarn deutlich machen, dass die Perspektive der bilateralen Beziehungen in einer Zukunft liegt, die nicht einseitig mit der Vergangenheit belastet werden soll - weder durch materielle, noch doch ideelle Forderungen.

Den sozialpsychologischen Hintergrund der bezüglich der Forderungen der Vertriebenenverbände bestehenden innerdeutschen Ambivalenzen bildet eine neurotische Involvierung weiter Teile der bundesdeutschen Gesellschaft in den Themenkomplex Flucht und Vertreibung. Der Mythos der »Selbstviktimisierung« (Katrin Hammerstein)
14 lag bereits in der Wiege der Bundesrepublik und wurde bis heute - nachdem Deutschland seine volle staatliche Souveränität erlangt hat und somit staatsrechtlich betrachtet erwachsen geworden ist - nicht als infantiles Relikt abgelegt, sondern ausgiebig gepflegt. Mit Freud lässt sich in diesem Kontext von dem überindividuellen Bemühen um erinnerungspolitische »Schiefheilung« sprechen,15 dem Versuch der Kompensation eigener Schuld, die nicht hinreichend reflektiert oder aufgearbeitet wurde, durch die Kultivierung eines projektiven Mythos kollektiver Unschuld. Mit zunehmendem Zeitlauf wird die Last der verdrängten und inzwischen intergenerativ tradierten Schuld dabei offenbar immer stärker, was zugleich auch die Kompensationsbemühungen von Verdrängung und Verleugnung zunehmen lässt - bis hin zu der von Vertriebenenseite gewünschten Monumentalisierung des Mythos kollektiver Unschuld durch ein deutsches Vertreibungszentrum. Das politische wie psychologische Kernproblem in diesem Prozess projektiver Abwehr bleibt die fehlende kritische Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit: Denn die nicht selten seltsam anmutenden Bußrituale in der deutschen Öffentlichkeit haben oft mehr von einer Entlastung der Täterschaft der eigenen Eltern und Großeltern durch das Auflösen der konkreten Taten in abstrakte Gewaltphänomene, in die Phantasie von situativen Handlungszwängen oder die Egalisierung von Opfern und Tätern in einem allgemeinen und diffusen Ohnmachtsgefühl, als dass sie Ausdruck des Versuches wären, die nationalsozialistische Barbarei in den jeweiligen Familiengeschichten auf- und durchzuarbeiten, sie zu reflektieren und somit dem Wiederholungszwang des rituellen Gedenkens ohne reale Erinnerung entkommen zu können:

»Statt sich hinter der Abwehr zu verschanzen und immer weitere Beweise zu sammeln, um sich vor den Zumutungen der Selbsthinterfragung zu schützen, sollten die Deutschen die Herausforderung annehmen und die Normalität der Verbrechen als Produkt einer spezifischen politischen Kultur und Mentalitätstradition begreifen. Eine solche Auseinandersetzung erweist sich als umso dringender, als die aktuelle Situation in Deutschland mit ihren besonders intensiven Selbstverständnisdebatten genügend Anlass bietet, die eigene 'Normalität' anzuzweifeln.«
16

Als zentrale erinnerungspolitische Erkenntnis muss hierbei gelten, was Elisabeth Brainin, Vera Ligeti und Samy Teicher über die Massenvernichtung der europäischen Juden aus psychoanalytischer Perspektive gesagt haben: »Man kann diese Realität nur als solche wahrnehmen, verarbeiten kann man sie nicht.«17 Die Wiederkehr des Verdrängten erhält nur dann einen Ausweg in Richtung kritischer Aufarbeitung der Vergangenheit, wenn die Kinder- und Enkelgeneration der deutschen Täter/innen die Erkenntnis zulässt, dass das NS-Regime (auch und besonders in den so genannten Sudetengebieten) eine große Zustimmung in der deutschen Bevölkerung - also bei den eigenen Eltern und/oder Großeltern - hatte, dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen an der Massenvernichtung der europäischen Juden aktiven und passiven Anteil hatte (sei es durch aktives Handeln bei Enteignungen, Plünderungen, Denunziationen, Erschießungen, Deportationen usw., sei es durch Beschweigen und Unterlassen von Widerstand, sei es durch die Verbreitung von antisemitischen und rassistischen Ressentiments, sei es durch das Verschweigen der Verbrechen oder das Profitieren aus Zwangsarbeit und »Atisietung«) und dass die Volkstums- und Vernichtungspolitik deshalb in einer derart barbarischen Weise umgesetzt werden konnte, weil es einen sehr weitreichenden Konsens zwischen NS-Führung und deutscher Bevölkerung gab. Insofern würde es gleichermaßen um ein Auf- und Durcharbeiten im kollektiven Gedächtnis der Nation, aber andererseits auch im individuellen Sinn der eigenen Familiengeschichte gehen:

»Man darf vielleicht sagen, daß eigentlich nur der vom neurotischen Schuldgefühl frei ist und fähig, den ganzen Komplex zu überwinden, der sich selbst als schuldig etfährt, auch an dem, woran er im handgreiflichen Sinne nicht schuldig ist.«
18

So lange allerdings, wie Schuld und Verantwortung für die nationalsozialistische Volkstums- und Vernichtungspolitik projiziert und damit innenpolitisch in Deutschland jedwede Versuche der Täter-Opfer-Inversion nicht kategorisch zurückgewiesen werden, bleibt eine ktitische Aufarbeitung der Vergangenheit stets auch aufgrund der halbierten Empathie des neuen deutschen Opfetdiskurses unmöglich, da die Trauer um die Opfer des Nationalsozialismus abgewehrt wird zugunsten des Mitleids mit sich selbst.19 Voraussetzung für eine konstruktive Gestaltung der deutsch-tschechischen Beziehungen in der Zukunft wäre damit, dass die Bundesrepublik sich ihrer erinnerungspolitischen Verantwortung offensiv stellt und Abstand nimmt von der bisherigen Politik der konsequenten Inkonsequenz.

  • 14 Katrin Hammerstein: Deutsche Geschichtsbilder vom Nationalsozialismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament v. 15.1.2007, S. 27.

  • 15 Vgl. Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Frankfurt a.M. 1999, S. 159.

  • 16 Ingrid Peisker: Vergangenheit, die nicht vergeht. Eine psychoanalytische Zeitdiagnose zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Giessen 2005, S. 452.

  • 17 Elisabeth Brainin/Vera Ligeti/Samy Teicher 1993: Vom Gedanken zur Tat. Zur Psychoanalyse des Antisemitismus, Frankfurt a.M. 1993, S. 52.

  • 18 Theodor W. Adorno: Schuld und Abwehr. Eine qualitative Analyse zum Gruppenexperiment, in: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 9.2, Frankfurt a.M. 1997, S. 320.

  • 19 Die Grundtendenzen dieses Phänomens wurden bereits von Alexander und Margarete Mit-scherlich (Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1977) beschrieben.

Buchbeschreibung: [Geteilte Erinnerung] [Bestellung]


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