70
Jahre nach dem Münchner Diktat:
Geteilte Erinnerung
Überlegungen zu den
Perspektiven der
deutsch-tschechischen Beziehungen
anlässlich des 70. Jahrestages der
deutschen Annexion der
Tschechoslowakei
Samuel Salzborn
Wer
beim Leitwort der Sudetendeutschen
Landsmannschaft für das Jahr 2008
auf einen selbstkritischen Einschlag
oder gar eine Form von reflexivem
Umgang mit der eigenen Vergangenheit
gehofft hatte, sah sich - wie so oft
- enttäuscht: die
geschichts-politische Verantwortung,
die dem Vertriebenenverband
anlässlich des 70. Jahrestages der
Zerschlagung der Tschecho-slowakei
im Jahr 1938 durch das Münchner
Abkommen aufgrund der massiven
propagandistischen und
terroristischen Aktivitäten der
Sudetendeutschen in den 1920er und
1930er Jahren bei der Zerstörung der
letzten demokratischen Insel in
Mitteleuropa faktisch zukommt, wurde
von diesem ignoriert.
Statt ein Bekenntnis zur
erinnerungspolitischen Verantwortung
und eine Verurteilung der
sudetendeutschen Politik in der
Zwischenkriegszeit wartete die
Sudetendeutsche Landsmannschaft mit
dem Slogan »Für Heimat und
Menschenrecht« auf. Mit diesem wurde
abermals nur die eigene Perspektive
betont und die eigenen Positionen
derart überhöht darstellt, dass
sogar die politische Forderung nach
einem Heimatrecht zum geltenden
Recht verklärt wurde, wie im
Leitartikel
(1) der das
Motto erklärenden Ausgabe der
Sudetendeutschen Zeitung —
obgleich das von den
Vertriebenenverbänden geforderte
»Recht auf die Heimat« sogar in
deutlichem Widerspruch zu geltendem
Recht in der Europäischen Union,
explizit der Niederlassungsfreiheit
steht.
Zugegeben: wohl kaum ein kritischer
Beobachter der Geschichte und
Politik der Sudetendeutschen
Landsmannschaft würde ernsthaft
annehmen, dass diese einen
konstruktiven Beitrag zu den
deutsch-tschechischen Beziehungen
leisten könnte. Denn viel zu
deutlich ist die völkische
Ausrichtung des Verbandes, viel zu
klar der Unwille, die eigene
Vergangenheit aufzuarbeiten.(2)
»Fordern statt forschen« könnte
ebenso ein Motto des Verbandes sein,
wie »Projektion statt
Verantwortung«. Doch angesichts
dessen, dass wohl kaum jemand von
dem Vertriebenenverband einen
positiven Impuls für die
konstruktive Weitentwicklung der
deutsch-tschechischen Beziehungen
erwartet, scheint es doch mehr als
verwunderlich, dass es bisher alle
Bundesregierungen versäumt haben,
sich klar und unmissverständlich von
der Politik der Vertriebenenverbände
zu distanzieren — was nicht nur ein
wichtiger Schritt für eine
selbstkritische Aufarbeitung der
deutschen Nachkriegsgeschichte wäre,
sondern auch die Tür für einen
gleichberechtigten
deutsch-tschechischen Dialog öffnen
würde. Einen Dialog, bei dem nicht
eine Seite — die Tschechische
Republik — immer wieder mit der
Frage konfrontiert würde, ob ihre
Souveränität nicht durch die
ambivalente deutsche Haltung zu den
Vertriebenenverbänden doch indirekt
in Frage gestellt wird.
Denn die deutsch-tschechischen
Beziehungen werden seit Jahren
belastet von den Forderungen der
Vertriebenenverbände, insbesondere
denen der Sudetendeutschen
Landsmannschaft.
Ziel des im Sommer 2008 erschienenen
Buches "Geteilte
Erinnerung" ist es somit
auch, die Geschichte der
Sudetendeutschen Landsmannschaft
sowie ihre Vorgeschichte in den
NS-Organisationen im Reichsgau
Sudetenland kritisch zu skizzieren
und anhand ausgewählter Fallstudien
die völkische und antiaufklärerische
Grundintention der Politik der
Landsmannschaft herauszuarbeiten.
Die Vertriebenenverbände haben in
den letzten Jahrzehnten, aber auch
und vor allem in jüngster
Vergangenheit anlässlich der
Debatten über ein »Zentrum gegen
Vertreibungen«, die so genannten
Benes-Dekrete oder den Beitritt der
Tschechischen Republik zur
Europäischen Union deutlich gemacht,
dass ihre Sicht auf die Geschichte
nicht vereinbar ist mit historischen
Tatsachen und somit einem
demokratischen, selbstverständlich
durchaus kontrovers geführten Dialog
zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Tschechischen
Republik über die gemeinsame
Vergangenheit abträglich und
kontraproduktiv. Deshalb werden die
Vertriebenenverbände als
geschichtspolitischer Störfaktor in
den Mittelpunkt der Analyse gerückt,
da ihre öffentlichen Artikulationen
dem Verhältnis zwischen Deutschland
und Tschechien schaden: Denn die
deutsch-tschechischen Beziehungen
sind hinsichtlich der gemeinsamen
Vergangenheit politisch und
juristisch mit einem tragfähigen
Fundament versehen und die Debatten
über die Geschichte Gegenstand
wissenschaftlicher Aufarbeitung.
Gerade deshalb sind sie auch nicht
geeignet zur Instrumentalisierung zu
gegenwärtigen politischen Zwecken,
etwa der Durchsetzung eines
völkischen »Rechts auf die Heimat«
oder eines ethnisierenden
Volksgruppenrechts.
Im Blickpunkt der Analyse steht
insofern die geteilte Erinnerung als
Herausforderung für die Zukunft der
deutsch-tschechischen Beziehungen.
Es existieren zwei große Narrative
der deutsch-tschechoslowakischen
Geschichte, die sich historisch
ausschließen: die sudetendeutsche
und die tschech(oslowak)ische
Erzählung, deren Folge bilaterale
Kommunikationsschwierigkeiten sind,
da die sudetendeutsche Darstellung
der gemeinsamen Geschichte auf
tschechischer Seite zumeist den
Eindruck auslöst, etwas völlig
unbekanntes berichtet zu bekommen
(und umgekehrt), da es von den
eigenen Erzählungen nahezu
vollständig abweicht. Die
Feststellung der Existenz einer
solchen geteilten Erinnerung sollte
aber nicht mit postmoderner
Beliebigkeit verwechselt oder gar in
diese aufgelöst werden. Zentral ist
politisch und öffentlich nicht in
erster Linie, was erinnert wird (die
hohe Relevanz der Erinnerung für das
Individuum sollte nicht über die
Klippen bewusster und vor allem auch
unbewusster Modellierungen von
Geschichtsbildern hinwegtäuschen,
die für Individuen wie Kollektive
sinnstiftend generiert werden, aber
der historischen Faktizität
widersprechen), sondern was war,
wobei es inzwischen fast zum
Allgemeingut wissenschaftlicher
Forschung geworden ist, dass die
sudetendeutsche Sicht auf die
gemeinsame Vergangenheit nur sehr
wenig mit der historischen Realität
korrespondiert.
Da die Sudetendeutsche
Landsmannschaft in der
innerdeutschen Diskussion aber
oftmals wie ein gleichberechtigter
Akteur erscheint (die immer wieder
vernehmbare Forderung der
Landsmannschaft, direkt an
Gesprächen mit der tschechischen
Regierung teilnehmen zu wollen, ist
Bestandteil einer solchen
Schiefwahrnehmung, da sie medial
nicht als völlig absurd dargestellt
wird), werden die Politikkonzepte
der Landsmannschaft analysiert und
das Handeln der Vertriebenenverbände
in wesentlichen
erinnerungspolitischen Debatten
dargestellt. Auch zur Sprache kommt
die außenpolitisch überaus
bedeutsame Konstruktion einer
»Vererbbarkeit« des
Vertriebenenstatus, die theoretische
wie praktische Formierung einer
»sudetendeutschen Volksgruppe«, die
Entstehung und Entwicklung der
außenpolitischen Konzepte der
Vertriebenenverbände, die
erinnerungspolitischen Schwerpunkte
der Vertriebenenpolitik der letzten
Jahre sowie die Versuche von Seiten
der Vertriebenenverbände, in die
nationale Souveränität der
Tschechischen Republik einzugreifen,
etwa im Rahmen der Debatten über die
tschechoslowakische
Dekretalgesetzgebung im Kontext des
tschechischen EU-Beitritts.
Der zeitgeschichtliche und
politische Hintergrund der hier
vorgestellten Analysen ist der 70.
Jahrestag des Münchner Abkommens in
diesem Jahr — als Jahrestag des
institutionellen Beginns der
deutschen Annexion der
Tschechoslowakei 1938.
Abb.: haGalil
Die -angesichts der bei der
Sudetendeutschen Landsmannschaft
bestehenden Unwilligkeit zur
(selbst-)kritischen
Auseinandersetzung mit der eigenen
Vergangenheit - eigentlich dringend
gebotene öffentliche Ignoranz
gegenüber den Forderungen der
Vertriebenenverbände mit dem Ziel
eines gleichberechtigten
deutsch-tschechischen Dialogs über
gemeinsame Vergangenheit und vor
allem Zukunft wäre anlässlich dieses
Jahrestages realpolitisch von
deutscher Seite in einem
symbolischen Akt durchaus
aufgreifbar, etwa durch eine
eindeutige politische Distanzierung
von einem (gegen EU-Recht
verstoßenden) »Recht auf die
Heimat«, die endgültige Absage an
alle Vermögensforderungen der
Vertriebenenverbände oder die
künftige Nicht-Teilnahme von
Regierungspolitiker(inne)n an
revisionistischen
Vertriebenenveranstaltungen wie dem
»Tag der Heimat« oder dem
»Sudetendeutschen Tag«.
Dass derartige Handlungsoptionen
bisher von der deutschen Politik
nicht in hinreichendem Maße in
Erwägung gezogen wurden, hat etwas
mit den Ambivalenzen der geteilten
Erinnerung zu tun, bei der neben den
beiden großen Narrativen auch nach
wie vor in Deutschland kein
politischer Konsens über die
Ablehnung der
Vertriebenenforderungen besteht,
also die
deutsch-tschech(oslowak)ische
Geschichte auch innenpolitisch in
Deutschland nach wie vor ein stark
umkämpftes erinnerungspolitisches
Feld darstellt. Und damit zeigt
sich, dass der Umgang mit Geschichte
politisch ist, denn nichts ist
derart politisiert wie Geschichte,
sowohl hinsichtlich ihres
tatsächlich erinnerten Gehalts, wie
auch in Bezug auf ihre sinnstiftende
Funktion durch die Formung der
Vergangenheit in der Gegenwart.
Fortsetzung
hier (Teil
2/3)...
1 Vgl.
Rudolf Grulich: Für Heimat und
Menschenrecht, in: Sudetendeutsche
Zeitung v. 18.1.2008.
2 Vgl. Erich Später: Kein Frieden
mit Tschechien. Die Sudetendeutschen
und ihre Landsmannschaft, Hamburg
2005; Tobias Wegen »Volkstumskampf«
ohne Ende? Sudetendeutsche
Organisationen 1945-1955, Frankfurt
a.M. 2008.
Buchbeschreibung: [Geteilte
Erinnerung] [Bestellung]
Weitere
Texte (Hintergrund):
Die "Tschechei" oder
das "Protektorat Böhmen und Mähren":
Aus einem deutschen Schulbuch 1940
..."der tschechische Staat war nicht
mehr lebensfähig. In dieser Not bat
der tschechische Präsident unsern
Führer um seinen Schutz"...