Leben
Der biografische Bogen schließt die Geburtsstadt Jicin in Böhmen ein, Wien,
den Ferienort Weidlingau, die Kaffeehaus-Szene in Wien, Kraus' Publikationen
vor 1899, die Gründung der Zeitschrift »Die Fackel«, wichtige Bezugspersonen
aus dem Freundeskreis, MitarbeiterInnen der »Fackel«, Kraus' Reisen, Orte, die
er liebte (die böhmischen Schlösser Janowitz und Kuchelna), seine Beziehungen
zur Berliner Theaterwelt und sein kompliziertes Testament.
Viele der Dokumente werden zum ersten Mal gezeigt: Briefe und
Fotografien, darunter Fotoporträtserien in bisher nicht bekannter
Vollständigkeit. Kraus hat sich von prominenten Fotografen seiner Zeit
aufnehmen lassen: Lotte Jacobi, Madame d'Ora, Trude Fleischmann, Charlotte
Joël-Heinzelmann, H. Ephron. Viele dieser Aufnahmen stammen aus dem Besitz
des Autors und werden seit kurzem im Kraus-Archiv der Wiener Stadt- und
Landesbibliothek aufbewahrt.
Juden, Christen, Antisemiten
Hier werden jüdische und nichtjüdische Zeitgenossen von Kraus sowie
öffentliche Auseinandersetzungen um den Antisemitismus gezeigt. Das späte 19.
Jahrhundert und das erste Drittel des 20. Jahrhunderts haben eine Vielzahl oft
kontroversieller Strömungen hervorgebracht, die in ganz unterschiedlicher
Weise Geschichte und Gegenwart des Judentums berücksichtigten: Von elitären
antisemitischen Kulturphilosophien des Jörg Lanz von Liebenfels bis zu
Nationaljüdischen und zionistischen Positionen.
Sie werden in Dokumenten und exemplarischen Zitaten vorgestellt und
jeweils zu Kraus Leben und Arbeit in Beziehung gesetzt. Die meisten Trends
haben Kraus beeinflußt oder zu Stellungnahmen in der »Fackel« veranlaßt:
Religionsfragen - so der zweifache Austritt Kraus' (zuerst »aus dem
Judenthum«, dann aus der katholischen Kirche), seine Auseinandersetzung mit
negativ/jüdisch besetzten sozialen Positionen, mit der Presse, die stark von
jüdischen Journalisten, Zeitungsmachern und -finanziers geprägt war; die
große Empfindlichkeit antisemitischen Haltungen gegenüber, seine starke
Ablehnung des Zionismus oder seine unterschiedliche große Distanz zu Theodor
Herzl. Diese uneinheitlichen und mehrfach widersprüchlichen Reaktionen, die
sich in der »Fackel« und in biografischen Dokumenten niederschlagen, werden
in Beispielen gezeigt und kommentiert.
"Die Fackel: Schreiben und Drucken"
In den ersten Jahren erschien ›Die Fackel‹ dreimal im Monat, mit 16 bis 24,
bald 32 Seiten. Später wurde die Erscheinungsweise unregelmäßiger, dafür das
einzelne Heft umfangreicher. In den ersten zwölf Jahren zog Kraus die
verschiedensten Mitarbeiter heran; die anderen fünfundzwanzig Jahre (ab 1911)
schrieb er die Texte – absehen von ganz wenigen Ausnahmen – allein. Wir wissen
wenig über die technische Herstellung der Zeitschrift in den ersten Jahren.
Genaueres läßt sich aus der Zeit berichten, in der Satz, Druck und Verlag bei
der Firma Jahoda & Siegel lagen.
Karl Kraus arbeitete häufig die Nacht durch, legte sich vormittags
schlafen und stand am Nachmittag auf. Den Abend verbrachte er meist in
Gesellschaft, in Kaffeehäusern mit Gesprächen oder mit der Lektüre von
Zeitungen. Kraus bearbeitete seine Texte mehrmals: Er sandte einen
handschriftlichen Text zum Satz in die Druckerei und führte die Arbeit am
Text weiter, indem er Korrekturen, Erweiterungen, Änderungen in den
Bürstenabzug des Satzes notierte, die »Satzkorrektur«. Dieser Vorgang
wiederholte sich so lange, bis der Autor mit dem Text zufrieden war. Mit
Manuskripten von fremder Hand verfuhr Kraus, wo er es nötig fand, ebenso. Es
sind zahlreiche Eingriffe in Texte seiner Mitarbeiter bekannt – ob sie immer
abgesprochen waren, muß bezweifelt werden.
"Anti-Medium"
Die Medien – das heißt für den Zeitraum seines Schaffens: die Zeitungen –
sind das zentrale Thema seines Werkes, und es gibt wohl kaum einen
Schriftsteller deutscher oder anderer Sprache, der sich mit gleicher
Intensität diesem Thema gewidmet hätte. Nach dem Vorbild von Maximilian
Hardens Berliner ›Zukunft‹ gründete er seine eigene Zeitschrift ›Die Fackel‹,
die er in den Dienst des »Antikorruptionismus« stellte.
Zentrale Begriffe von Kraus’ Medienkritik sind »Phrase« und »Phantasie«.
Mit jener ist das beliebig reproduzierbare, in den Zeitungen jedem
Sachverhalt übergestülpte Klischee gemeint, das mit der komplexen
Wirklichkeit nichts zu tun habe. Es gab und gibt kaum eine Zeitschrift, die
in allen Aspekten so intensiv kontroversiell eingestellt war. Von der Form
bis zu den Inhalten, den Angriffsebenen, der Gestaltung der Seiten bis zur
innovativen Verwendung von Text- und Bild-Zitaten. Kraus und sein grafisches
Team zählen zu den Pionieren der Fotomontage. Sparsam verwendet, finden sich
doch verschiedenste Methoden der "Bearbeitung" unterschiedlichster
satirischer Intention. Die Reaktionen auf die Zeitschrift sind in mehreren
Etappen belegt: Durch einige der überaus zahlreichen Leserbriefe, auf die
Kraus oft herrisch und besserwisserisch - aber in jedem Fall - reagierte;
anfangs selbst in der »Fackel«, später, als die Menge dies nicht mehr
zuließ, durch das Büro "Verlag der 'Fackel'" - genau nach seinen
Anweisungen.
"Weltkrieg"
Der Autor der »Letzten Tage der Menschheit« hat den Ruf eines
Antikriegsautors schlechthin. Doch ist Kraus’ Einstellung zum Krieg
differenziert zu betrachten, vor allem weil sie sich erst allmählich
entwickelte. Insbesondere zu Beginn des Krieges war Kraus nicht so
antimilitaristisch, wie man aufgrund der bekannten Stellungnahmen annehmen
möchte.
Mehr als andere erlebt Kraus den Krieg als Ausdruck eines öffentlichen
Bewußtseins im Hinterland, das von den Medien gezielt pervertiert worden
ist. Vergleicht man das, was an Text und Bild vom Kriegsgeschehen und von
den Vorgängen im Hinterland der Öffentlichkeit bekannt war und wie Kraus es
in der »Fackel« umformte und darstellte, wird die Eindringlichkeit seiner
künstlerischen Kraft bewußt. Die gelesene Präsenz der Aussage gegen die
Verheerungen des Krieges werden nur noch durch sein Bild und seine Stimme
beim Vortrag von Überlegungen zum Krieg übertroffen - die im 1934 gedrehten
Film, der in der Ausstellung gezeigt wird, eindrucksvoll zu erleben ist.
"Polemik und Satire"
Die Unerbittlichkeit, mit der Kraus zahlreiche Personen verfolgte, denen er
Fehlverhalten ankreidete, ist ebenso erstaunlich wie die Vielfalt und Zahl der
Prozesse, die er anstrengte - wenn auch nicht jede Polemik der »Fackel« vor
Gericht endete.
Exemplarisch werden Gegnerschaften, die in der »Fackel« ausgetragen
wurden, dokumentiert: die lebenslange Kontroverse mit dem Journalisten und
Autor Hermann Bahr, die mit dem anfänglichen Vorbild und Ratgeber Maximilian
Harden, seine Angriffe auf Franz Lehár, den Verflacher der Operette, seine
Attacken gegen den Wiener Polizeipräsidenten Johannes Schober, der für das
Blutbad bei den Demonstrationen im Juli 1927 (Justizpalastbrand)
verantwortlich war, und die Kontroversen mit dem Herausgeber des
Boulevardblatts "Die Stunde", Emmerich Békessy, der Kraus mit
antisemitischen Texten und Bildern reizte. Im politischen Bereich werden in
der Ausstellung Kraus' kritische Positionen zur Sozialdemokratie, seine
Stellung zum Nationalsozialismus und die kompromißbereite Haltung dem
Ständestaat gegenüber thematisiert.
"1918 - 1936"
In den Augen von Kraus mußten Politik und Schreiben ein vorrangiges Ziel
haben: die Vermeidung eines neuen Kriegs. Die Erinnerung an die Greuel der
Jahre von 1914 bis 1918 beherrschte bis 1936 sein Denken ebenso, wie die
Erschütterung darüber, daß so viele es so rasch vergessen und verdrängt
hatten.
Daß die Monarchie zusammengebrochen war, bedeutete für ihn eine riesige
Chance. Die Gesellschaft, so dachte er, würde sich nun völlig erneuern,
könnte und würde nun endlich mehr vom Geist als vom Geschäft und von den
alten, entleerten Formen der untergegangenen Ordnung her sich definieren
wollen. Die parlamentarische Demokratie war für ihn, der von den
Fehlentwicklungen des Parlamentarismus im franzisko-josephinischen
Österreich geprägt war, kein Selbstwert; mit ihren Spielregeln hat er sich
nie leicht getan. Und obwohl er es nur selten sagte, gehörte der
provinzielle Politikertypus der in der Ersten Republik maßgebenden
bürgerlichen Parteien zu einer ihm völlig fremden Welt.
"Theater, Vorlesungen"
Kraus versuchte sich unter dem Eindruck der Persönlichkeiten des ‚alten‘
Burgtheaters in jungen Jahren als Schauspieler, doch der Erfolg blieb aus. Er
wandte sich der journalistischen Arbeit zu. 1910 griff er die Anregung auf,
aus seinen Schriften - und bald aus denen anderer Autoren - vorzutragen, was
er eindrucksvoll beherrschte.
Seine Anhänger in Wien und vielen Städten des deutschsprachigen
Kulturbereichs, aber auch in Paris, schätzten seine Auftritte. Kraus brachte
es in 26 Jahren auf 700 Vorlesungen. Bald nannte er seine Vorträge »Theater
der Dichtung«, da er auch ganze Theaterstücke vortrug - alleine, alle Rollen
sprechend und mit Klavierbegleitung singend. Zu den von ihm lebhaft
geschätzten Autoren, die er auch gegen zeitgenössische Fehlinterpretationen
verteidigte, zählten Johann Nestroy und Ferdinand Raimund, die Genies des
österreichischen Theaters des 19. Jahrhunderts sowie Shakespeare und Jacques
Offenbach. Von den Theatergrößen seiner Zeit schätzte er wenige: er lehnte
das moderne Burgtheater ab, liebte stattdessen die realitätsnahe Komik der
Budapester Orpheumgesellschaft und die selbstsichere Freizügigkeit von Stars
wie Josephine Baker.
"Geist und Geschlecht"
Die Erotik und das ›Weib‹ bilden zusammen ein großes Thema der ›Fackel‹ von
der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg. Insofern unterscheidet sich
Kraus kaum von den meisten (männlichen) Schriftstellern seiner Zeit, besonders
da er einen zentralen Aspekt der Sexualmythologie des Fin de Siècle unkritisch
weiterzutradieren scheint. Vor allem in den Aphorismen, die er um 1906 zu
schreiben beginnt, wird der Gegensatz zwischen der sexuellen Frau und dem
geistigen Mann zum Prinzip erhoben. Kraus, der Frauen statt gleicher
intellektueller Kraft wie den Männern, lediglich vitale Erlebnisfähigkeit
zusprach, sie nur als Auslöserinnen männlicher Kreativität sah, forderte nicht
ganz ohne Eigennutz deren sexuelle Ungebundenheit.
Schauspielerinnen zählten zu den ersten Personen, die der Vorstellung von
sexueller Lockerheit entsprachen, welche in der »Fackel« (nicht nur von
Kraus) propagiert wurde. Seine große, kurze Leidenschaft zur Schauspielerin
Annie Kalmar vom Deutschen Volkstheater in Wien zeichnete den Weg für
männliche Leidenschaft und Herrschaft wie weibliche Freizügigkeit, den Kraus
immer vehementer vertrat. Seine Vorliebe für die Stücke Frank Wedekinds ließ
ihn sogar so weit gehen, daß er dessen Stück »Die Büchse der Pandora« in
Wien aufführen ließ, gegen allen Widerstand der Zensurbehörde.
Kraus vertrat wortgewaltig die Position der Libertinage, die in berühmten
Prozessen von Verfechtern scheinheiliger moralischer Atavismen verurteilt
und verdammt wurde. Die Ausstellung zeigt seine Attacken gegen die
selbsternannten Hüter der Moral anhand des Falles Beer und des Prozesses
Riehl. Im Kampf gegen Heuchelei war er Sigmund Freud nahe, der um sein
Verständnis warb; doch Kraus lehnte die Psychoanalyse heftig ab. In der
Liebe zu der böhmischen Aristokratin Sidonie Nádherný erreichte Kraus trotz
des Auf-und-Ab dieser Beziehung so etwas wie ein erotisches Gleichgewicht,
bei dem aber die Dialektik zwischen Geist und Geschlecht nicht mehr im
Vordergrund seines Werkes stand.
"Altenberg, Loos, Kokoschka"
Zu den ältesten Freunden, denen Kraus bis zu ihrem Tod und in der ›Fackel‹
darüber hinaus treu geblieben ist, gehören Peter Altenberg und Adolf Loos. Die
beiden Schriftsteller und den Architekten einten Lebensanschauungen und
ästhetische Prinzipien. Sie unterstützten einander im Künstlerischen und
Geschäftlichen: Loos und Kraus förderten nach Kräften den Bohemien Altenberg.
Was Adolf Loos in seiner in den Formen nüchternen, im Material oft opulenten
Architektur und in seinen Gestaltungsprinzipien präzisierte, wurde von Kraus
oder nahestehenden Fachleuten in der »Fackel« vehement verteidigt; wie einsam
und verkannt sie in ihrer avantgardistischen Radikalität waren, betonte Kraus
in seiner Zeitschrift wiederholt.
Kraus verschaffte beiden Aufträge oder Gönner. Man traf sich an den
Stammtischen und lebte Kunst. Loos wiederum machte gewichtige Vorschläge für
die Gestaltung der »Fackel« und von Kraus' Büchern. Kraus und Loos hatten
einen Schützling, dem sie den Weg zur Karriere bahnten: den Maler Oskar
Kokoschka, der in Porträtaufträgen aus dem großen Freundeskreis der drei
erste Aufträge erhielt. 1909 fanden die Sitzungen für Kokoschkas Ölporträt
statt, das 1944 verbrannt ist. In der Ausstellung zu sehen ist das zweite
Kraus-Porträt von Kokoschka, das 1925 entstanden ist.
Lebenslauf