"Der Armenier ist wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein
Parasit":
Zum Genozid an der armenischen Bevölkerung des
Osmanischen Reiches Von Thomas
Schmidinger
Context XXI 5-6/2005 Während
der Genozid an den ArmenierInnen auch 90 Jahre nach der Tat in der
Türkei ein Tabuthema bleibt, wird er in Europa, vor dem Hintergrund
des geplanten EU-Beitritts der Türkei, erstmals zu einem auch medial
diskutierten Thema. Die Mitverantwortung des einstigen Verbündeten
des Osmanischen Reiches, der Österreichisch-Ungarischen Monarchie,
kommt dabei in der Debatte hierzulande wohlweislich nicht vor.
Bis zum 19. Jahrhundert bildeten die ArmenierInnen im
multiethnischen Osmanischen Reich ein Millet unter vielen. Die
ArmenierInnen stellten so nach dem traditionellem islamischem Recht
der Dhimma zwar Untertanen zweiter Klasse dar, waren wie die anderen
Dhimmis keinen besonderen Verfolgungen ausgesetzt. Dies änderte sich
jedoch unter dem Eindruck der Modernisierung und des aufkommenden
Nationalismus im 19. Jahrhundert. Einerseits führte die
kapitalistische Modernisierung zu ähnlichen Denkstrukturen, wie der
europäische Antisemitismus, der die abstrakte Seite des Kapitals und
die Zirkulationssphäre einer Bevölkerungsgruppe zuordnete, die in
den osmanischen Städten als "Händler" identifiziert wurden,
andererseits führte der aufkommende Nationalismus am Balkan, das
Wegbrechen des Großteils des europäischen Teils des Osmanischen
Reiches und der koloniale Zugriff europäischer (christlicher) Mächte
auf das osmanische Territorium [1] zu einem Bedrohungsszenario der
osmanisch-islamischen Bevölkerung die sich in paranoiden
Weltverschwörungsszenarien entlud. Im
Gegensatz zu Europa entlud sich der Hass auf die vermeintlichen
"Wucherer" und Händler jedoch nicht an der jüdischen Bevölkerung,
sondern an den armenischen Christen. Teile der armenischen
Bevölkerung, die im 19. Jahrhundert in die großen Städte
eingewandert waren und dort durch den Kontakt nach Europa zu einem
gewissen Wohlstand gekommen waren, boten sich dem paranoiden Hass
auf die Zirkulation und die Moderne besser an, als die alte
jüdischen Minderheiten der osmanischen Städte. Die Stereotype mit
denen ArmenierInnen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts belegt
wurden, glichen zunehmend jenen, die in Europa gegen die jüdische
Bevölkerung gepflegt wurden. Die armenische Bevölkerung wurde als
heimatlose Wucherer betrachtet, die als geschickte Händler die
islamische Bevölkerung ausbeuten würden und über beste
internationale Verbindungen verfügten. Die (vermeintliche)
Unterstützung durch christliche Mächte, insbesondere durch das
zaristische Russland, ermöglichte die Einbettung dieser
Vorstellungen in eine weltweite christliche Verschwörung. Wie die
Juden in Europa, wurde die Armenier jedoch nicht nur mit dem Kapital
identifiziert, sondern auch mit einem anderen Aspekt der Moderne: Da
sich viele armenische Intellektuelle aus ihrer anachronistischen
Situation als wohlhabende Bürger, die rechtlich jedoch Staatbürger
zweiter Klasse bildeten, für eine Modernisierung des Staates und die
Gleichheit all seiner Bürger eingesetzten, boten sich die Armenier
zugleich an, mit dem Liberalismus identifiziert zu werden. Die
andere Antwort auf die politische Marginalisierung der armenischen
Bevölkerung bildeten die sozialrevolutionären und kommunistischen
Gruppen, wie die Hintschaq-Bewegung, die es der konservativen
islamisch-osmanischen Oligarchie ermöglichten, die armenische
Bevölkerung auch noch kollektiv des Sozialismus zu verdächtigen.
Ähnlich der jüdischen Bevölkerung in Europa, wurden die
ArmenierInnen im späten osmanischen Reich somit mit allen Formen der
Moderne identifiziert, mit dem Kapitalismus und Liberalismus ebenso,
wie mit dem Sozialismus. Auch deutsche
Diplomaten formulierten selbst die Ähnlichkeit ihres eigenen
Antisemitismus mit den antiarmenischen Stereotypen im Osmanischen
Reich. Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein, der von 1897 bis
1902 als deutscher Botschafter in Istanbul residierte, erklärte: "In
der Türkei bilden die Armenier für Handel und Wandel das bewegende
Element, für die ärmere Bevölkerung aber, namentlich auf dem Lande,
eine wahre Geißel. In dieser Richtung ist ihre Geschäftspraxis weit
verderblicher als diejenige, welche man in Deutschland gemeinhin den
Juden vorwirft. Der Jude kann hier weder gegen die Griechen
geschweige denn gegen den raffinierten und gewissenlosen Armenier
aufkommen."[2] Erste, noch weniger organisierte Pogrome gegen die
vermeintlich "gewissenlosen Händler" fanden bereits seit den
1890er-Jahren, also noch lange vor Beginn des 1. Weltkrieges statt.
Bereits mit der Ansiedlung islamischer Flüchtlinge
aus dem Kaukasus, die vor der russischen Invasion in das Osmanische
Reich geflüchtet waren, verschlechterte sich die Situation der
armenischen Bevölkerung im Osten des Reiches. Die von russischen
Christen vertriebenen Abchasen, Tscherkessen und Tschetschenen
griffen immer wieder lokale Armenier an um sich für das selbst
erlittene Leid zu rächen und sich des armenischen Besitzes zu
bemächtigen. Dazu kamen seit den Verlusten Bosnien-Herzegowinas
(1878) und Bulgariens (1908) und den Balkankriegen (1912-1913) immer
mehr türkische Flüchtlinge aus dem Balkan, die in den armenischen
und kurdischen Gebieten Ostanatoliens angesiedelt wurden und die der
dort lebenden christlichen Bevölkerung, bestehend aus Armeniern und
aramäischsprachigen Assyrern, besonders feindlich gesonnen waren.
Zu ersten großflächig organisierten Pogromen kam es
bereits im September 1895, die vom deutschen Pfarrer Johannes
Lepsius bereits als "Vernichtung des armenischen Volkes" beschrieben
wurden, denen "ein einheitlicher, schon seit Jahren vorbereiteter
Plan zu Grunde" [3] liege. Mit dem Beginn des ersten Weltkriegs in
den das Osmanische Reich an der Seite des Deutschen Reiches und der
Österreichisch-Ungarischen Habsburgermonarchie eintrat, wurde jedoch
erst der Weg zu einer organisierten genozidalen Politik gegen die
christlichen Bevölkerungsgruppen im Osten des Reiches frei. Die vom
Turanismus [4] ideologisch untermalte Kriegsbegeisterung des seit
1908 an der Macht befindlichen nationalistischen "Komitee für
Einheit und Fortschritt" (Jungtürken), machte den Weg zu einer
genozidalen "Lösung" der "armenischen Frage" frei. Unter dem Vorwand
einer Bedrohung der Einheit des Reiches durch die armenische
Nationalbewegung, der eine Zusammenarbeit mit dem Kriegsgegner
Russland vorgeworfen wurde, begannen erste Deportationen aus den
Grenzregionen im Osten. Am 27. Mai 1915 gab
der der osmanische Innenminister Talaat Pascha schließlich den
offiziellen Befehl zur Deportation der Armenier. Im Laufe des Juni,
Juli und August wurden insgesamt rund 1,5 Millionen ArmenierInnen
und einige hunderttausend ebenfalls christliche AssyrerInnen aus
Ostanatolien nach Syrien und in den Irak getrieben, wo viele von
ihnen in wasserlosen Wüstengegenden ums Leben kamen und die
Überlebenden von osmanischen Truppen massakriert wurden. Nur wenige
Überlebende konnten bei der arabischen Bevölkerung Zuflucht finden.
Als das Osmanische Reich 1915 den Genozid an den ArmenierInnen
abwickelte stand es international jedoch keineswegs isoliert da.
Vielmehr gehörte es zu den Hauptverbündeten Österreichs und
Deutschlands im ersten Weltkrieg. Während einzelne deutsche
Diplomaten und Kirchenkreise, wie der Pfarrer Johannes Lepsius
korrekt ihre Beobachtungen an das deutsche Außenministerium
berichteten, wurde von deutscher Seite aus Rücksicht auf den
kriegswichtigen Verbündeten über den Völkermord geschwiegen. Die
Nachrichten der eigenen Diplomaten wurden der deutschen
Öffentlichkeit weitgehend vorenthalten. In den "Richtlinien für
deutsche Journalisten" vom 7. Oktober 1915 heißt es: "Über die
Armeniergreuel ist folgendes zu sagen: Unsere freundschaftlichen
Beziehungen zur Türkei dürfen durch diese innertürkische
Verwaltungsangelegenheit nicht nur nicht gefährdet, sondern nicht
einmal geprüft werden. Deshalb ist es einstweilen Pflicht zu
schweigen. Später, falls direkte Angriffe des Auslandes wegen
deutscher Mitschuld erfolgen sollten, muss man die Sache mit größter
Sorgfalt und Zurückhaltung behandeln und stets hervorheben, dass die
Türkei schwer von den Armeniern gereizt wurde."[5] Der Verbündete
wurde jedoch auch militärisch weiter unterstützt. Deutsche Militärs
bildeten osmanische Truppen aus und kommandierten teilweise sogar
ganze Truppenteile derselben Armee, die die Armenier deportierte und
ermordeten. Mindestens ein hoher deutscher Militär, der für den Bau
der Bagdadbahn zuständige Oberstleutnant Boettrich, unterzeichnete
auch eigenhändig Vernichtungsbefehle auf deren Grundlage zur
Zwangsarbeit an der Bagdadbahn abgestellte Armenier ermordet wurden.
So waren die letzten Armenier, "die in diesem Genozid umgebracht
wurden, waren denn auch die Arbeiter der Bagdadbahn."[6]
Aber nicht nur das Deutsche Reich, auch die
österreichisch-ungarische Habsburgermonarchie gehörte 1915 zu den
Verbündeten des osmanischen Reiches. Wenn auch österreichische
Militärs, aufgrund der im Vergleich zu Deutschland eher veralteten
Militärtechnologie, nicht unmittelbar osmanische Truppenteile
kommandierten und damit auch nicht im selben Ausmaß direkt in den
Genozid verwickelte waren, so hätte die Habsburgermonarchie als
wichtiger Verbündeter des Osmanischen und des Deutschen Reiches doch
Einfluss auf die Politik der jungtürkischen Regierung nehmen können.
Gerade von Wien, wo mit dem Mechitaristenkloster seit 1810 eines der
wichtigsten Kulturzentren der Armenier in Europa lag, hätten sich
viele ArmenierInnen erwartet, dass es der mörderischen Politik des
Kriegsverbündeten nicht protestlos zusehen würde. Dies belegen eine
Reihe von verzweifelten armenischen Hilfsgesuchen an die k. u. k.-
Regierung, u.a. das Gesuch des Katholikos, des Oberhaupts der
armenischen Kirche. Tatsächlich berichteten auch einige
österreichische Diplomaten über den Genozid nach Wien, wurden jedoch
vom österreichischen Boschafter in Istanbul, Marktgraf Johann von
Pallavicini gestoppt. Auch die Habsburger opferten die ArmenierInnen
letztlich auf dem Altar militärischer Bündnispolitik. Proteste
wurde, wenn überhaupt, nur halbherzig vorgetragen.
Auch die österreichische Öffentlichkeit wurde –
ähnlich wie die deutsche – medial auf Linie gehalten. Dabei wurde
nicht nur über den Genozid geschwiegen, sondern teilweise sogar die
antiarmenischen Stereotype übernommen. So schrieb etwa die
"Reichspost": "Unter den Armeniern gibt es eine widerliche Schicht
von Steuerpächtern und Getreidewucherern, die den ohnehin schwer
zinsenden türkischen Bauern bis aufs Blut peinigen."[7] Auch die
Wiener Zeitung und das Neue Wiener Tagblatt veröffentlichte im Juni
1915, also am Höhepunkt des Genozids, eine Erklärung der osmanischen
Botschaft, die die Niederschlagung des Aufstands von Van, bei dem
sich erstmals die armenische Bevölkerung bewaffnet ihrer Deportation
wiedersetzte, mit folgenden Worten rechtfertigte: "Rußland machte
sich die Unwissenheit und die Naivität eines Teiles der armenischen
Bevölkerung zunutze, indem es ihr beibrachte, sich gegen die
ottomanische Regierung zu erheben, und Rußland ist nicht errötet,
als es die, übrigens vorübergehende und durch diese aufrührerische
Bewegung in Basche Kalek und der Umgebung von Wan geschaffene Lage,
als das Ereignis des Erfolgs seiner Waffen der Welt gegenüber
hinstellte. Die ottomanische Regierung hat in Ausübung ihrer
Souveränitätspflicht den Aufstand unterdrückt."[8]
Interessant ist in diesem Zusammenhang jedoch die
Tatsache, dass nicht nur die Regierung selbst, sondern auch die
ansonsten kritischeren Teile der öffentlichen Meinung in Österreich
zu den Massakern an den ArmenierInnen schwiegen oder gar die
Sichtweise der Regierung in Istanbul übernahmen. So berichtete etwa
die sozialdemokratische Arbeiter Zeitung über den Aufstand von Van,
die Russen "und die armenischen Banden" hätten "vor der Räumung von
Wan die muselmanschen Stadtviertel und sodann auf der Flucht das
armenische Viertel in Brand gesetzt, Frauen und Mädchen
vergewaltigt, unter der Bevölkerung ein Blutbad angerichtet und jene
Personen, die sich in das amerikanische Institut geflüchtet haben,
getötet, indem sie das Gelände in Brand steckten."[9] Bereits nach
dem der Großteil der Armenier des osmansichen Reiches vernichtet
worden waren, berichtete die Arbeiter Zeitung statt über den Genozid
am 7. April 1916 über "Russische Truppen, namentlich armenische
Banden, die die Vorhut der Russen bilden", die bei ihrem Vormarsch
in Ostanatolien angeblich "unerhörte Grausamkeiten und Verbrechen an
der Bevölkerung, die in den vom Feinde besetzten Dörfern
zurückgeblieben ist, namentlich an Greisen und Verwundeten"[10]
verüben würden. Auch "Die Fackel" von Karl Kraus, ergriff durch den
Nachdruck eines von Else Marquardsen verfassten protürkischen
Artikels, den die Zeitschrift aus dem deutschen "Balkan-Heft"
übernommen hatte, für die Regierung in Istanbul Partei.[11]
Eine kritische Thematisierung des Genozids blieb in
Österreich einem Autor vorbehalten, der bei einer Reise nach Syrien,
1929 überlebenden armenischen Flüchtlingskindern begegnete, die in
einer Teppichfabrik in Damaskus arbeiteten. Franz Werfel war vom
Leid dieser teils verstümmelten und in tiefstem Elend lebenden
Kinder überwältigt und begann sich intensiv mit dem Leiden der
ArmenierInnen zu beschäftigen. In Wien lernte er schließlich einen
Mönch des Mechitaristenklosters kennen, der als Kind selbst die
verzweifelte Verteidigung einiger tausend Armenier am Musa Dagh
erlebt hatte. Werfel, selbst jüdischer Herkunft, sah zu Beginn der
Dreißigerjahre im immer brutaler werdenen Antisemitismus der Nazis
eine Parallele zur Verfolgung der ArmenierInnen im Osmanischen
Reich. Sein im November 1933, wenige Monate nach der Machtergreifung
der Nationalsozialisten in Deutschland erschienener Roman "Die
vierzig Tage des Musa Dagh" sprach zwar diese Parallele nicht
explizit an, allerdings wussten seine ZuhörerInnen bei Lesereisen in
Deutschland nur zu genau, dass hier nicht nur ein Roman über den
Völkermord an den ArmenierInnen erschienen war, sondern auch eine
Warnung vor dem deutschen Vernichtungsantisemitismus. Und auch die
Nazis hatten verstanden: Werfels Buch wurde bald nach seinem
Erscheinen verboten. Erst nach der Shoah wurde es zum weltweit
bekannten Hauptwerk des Autors. Werfel ist heute in Armenien der
bekannteste österreichische Autor. Die armenische Gemeinde in Wien
setzte ihm heuer im Rahmen eines feierlichen Gedenkens ein Denkmal
in Wien, jener Stadt aus der (nicht nur) er vertrieben wurde.
Ganz anders die Mehrheit der deutschen und
österreichischen Gesellschaft. Deutschland und Österreich sahen dem
Genozid nicht nur zu. Teilweise beteiligten sie sich daran und nach
vollbrachter Tat, wurde das Verbrechen der Verbündeten so rasch wie
möglich vertuscht. Adolf Hitler, der 1939 kurz vor dem Überfall auf
Polen auf dem Obersalzberg die rhetorische Frage stellte "Wer redet
heute noch von der Vernichtung der Armeniern?" hatte vermutlich über
seinen Parteigenossen Scheubner-Richter, der 1915 deutscher Konsul
in Erzerum war, vom Genozid an den Armeniern erfahren. Die
Straflosigkeit mit der dieser Genozid möglich und das Vergessen dem
er anheim gefallen war könnten ihn darin bestärkt haben, dass auch
die Vernichtung der Jüdinnen und Juden ungestraft möglich sein
könnte. Tatsächlich sind gewisse Parallelen
zwischen dem Genozid an den Armeniern und der Shoah nicht zu
leugnen. Die armenische Bevölkerung des osmanischen Reiches sah sich
ähnlichen Stereotypen ausgesetzt, wie die jüdische Bevölkerung in
Europa. Beide wurden mit der Moderne, mit Kosmopolitismus und mit
der Zirkulationssphäre des Kapitalismus assoziert. Die
antiarmenische ist damit der antisemitischen Projektion weit
ähnlicher als der rassistischen. Bezeichnend ist hierbei die
Parallele die auch antisemitische Zeitgenossen des Genozids an den
ArmenierInnen selbst zogen. So erklärte General Fritz Bronsart von
Schellendorf, der damalige Chef des osmanischen Feldheeres in
Istanbul: "Der Armenier ist wie der Jude, außerhalb seiner Heimat
ein Parasit, der die Gesundheit des anderen Landes, in dem er sich
niedergelassen hat, aufsaugt. Daher kommt auch der Hass, der sich in
mittelalterlicher Weise gegen sie als unerwünschtes Volk entladen
hatte und zu ihrer Ermordung führte."[12]
Nur etwas mehr als zwei Jahrzehnte später sollte sich dieser Hass in
Deutschland zur systematischen Ermordung der jüdischen Bevölkerung
steigern. Dass diese nicht mehr nur als "handwerkliche" Vernichtung,
wie im osmanischen Reich, sondern auch als perfekt funktionierende
Vernichtungsindustrie ablief, war neben der weiteren Entwicklung der
Produktivkräfte im industrialisierten Deutschland auch Resultat der
Verknüpfung eines "Antisemitismus der Vernunft" (Hitler) mit
gesellschaftssanitären/bevölkerungspolitischen Vorstellungen. Die
Totalität der Vernichtung ist darüber hinaus der stärkeren
Beteiligung der zur Volksgemeinschaft zusammengeschweißten deutschen
Bevölkerung am Verbrechen und dem damals herrschenden
apokalyptischen Wahn als Aspekt des Nationalsozialismus als
Politische Religion geschuldet. Dies alles ermöglichte eine noch
gründlichere Vernichtung als jene der ArmenierInnen im Osmanischen
Reich. Eine gewisse Vorbildwirkung des Genozids von 1915 kann jedoch
trotz dieser Unterschiede nicht ausgeschlossen werden.
Mehr aus Context XXI
Anmerkungen:
[1] Eine Finanzkrise stellte das Osmanische
Reich seit 1881 de facto unter die Finanzhochheit der
Gläubigerstaaten Großbritannien, Niederlande, Frankreich,
Deutschland, Italien und Österreich-Ungarn. Mit sogenannten
"Kapitulationen" wurden zudem große Teile der christlichen
Bevölkerungsgruppen des osmanischen Reiches unter den Schutz
europäischer Mächte gestellt.
[2] zit. nach: Schaller, Dominik J.: Die Rezepion des Völkermordes
an den Armeniern in Deutschland, 1915-1945, in: Kieser, Hans-Lukas /
Schaller, Dominik J.: Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah;
Zürich 2002: S. 523f.
[3] zit. nach: Hofmann, Tessa: Verfolgung und Völkermord. Armenier
zwischen 1877 und 1922, in: Hofmann, Tessa (Hg.): Armenier und
Armenier – Heimat und Exil; Hamburg, 1994: S. 20.
[4] Pantürkische ideologische Strömung, deren Namen sich von einem
mythischen Heimatland der Turkvölker mit dem Namen "Turan"
herleitet. Der Turanismus strebt die Vereinigung aller Turkvölker in
einem nach ethnischen Kriterien organisierten Großreich an.
[5] zit. nach Manutscharjan, Aschot: Armenier fordern Anerkennung
des Genozids, Die Welt, 23. April 2005.
[6] Die Zeit, 11.12.2003 Nr.51.
[7] zit. nach Ohandjanian, Artem: Armenier, Der verschwiegene
Völkermord; Wien / Köln / Graz, 1989: S. 188.
[8] zit. nach Ohandjanian, 1989: S. 181.
[9] Arbeiter Zeitung Wien, 21. August 1915.
[10] Arbeiter Zeitung Wien, 7. April 1916.
[11] Ohandjanian, 1989: S. 188.
(12) zit. nach Julius H. Schoeps: Der verdrängte Genozid. Armenier,
Türken und ein Völkermord für den bis heute niemand die
Verantwortung übernehmen will. Internet:
http://www.compass-infodienst.de/Compass/compass_extra/schoeps.htm. |