Im Jahr 1900 hatte der 23jährige Otto
Funkenstein seine Approbation erhalten, am 30. September 1938 wurde sie
ihm wieder entzogen. Am 12. Oktober nahm sich Otto Funkenstein das
Leben. Im Münchner Lehel, in der Bruderstraße, hatte er als Allgemein-
und Kinderarzt gearbeitet. Zu einer Familie, die nicht mehr in seine
Praxis gekommen war, soll er gesagt haben: "Jetzt habt auch Ihr mich im
Stich gelassen."
Mit der "Vierten Verordnung zum
Reichsbürgergesetz" von 25. Juli 1938 wurde die Approbation aller
jüdischen Ärztinnen und Ärzte für den 30. September für "erloschen"
erklärt. 3152 jüdische Ärzte lebten damals noch in Deutschland, sie alle
durften nach dem 30. September niemanden mehr behandeln, auch nicht als
Heilpraktiker. Sie durften sich nicht mehr Arzt nennen. 709 jüdischen
Medizinern wurde auf Widerruf zugestanden, als "Krankenbehandler"
jüdischen Menschen zu helfen; sie wurden bei der Polizei registriert.
Dieses Zugeständnis, schreibt der kanadische Historiker Michael H.
Kater, sei aus der Angst entstanden, daß in der jüdischen Bevölkerung
Seuchen ausbrechen könnten, da Juden zu keinem deutschen Arzt gehen
durften. "Entjudung der Ärzteschaft" war Anfang August in den Neuesten
Münchner Nachrichten zu lesen, "in Deutschland wird von nun an kein
jüdischer Arzt mehr einen deutschblütigen Menschen behandeln dürfen."
Zum 1. Januar 1939 wurde mit einer weiteren Veordnung zum
Reichsbürgergesetz jüdischen Zahnärzten, Tierärzten und Apothekern die
Approbation entzogen. "Die gesamte Gesundheitspflege von Juden
gereinigt", meldeten die Zeitungen.
Sind sechzig Jahre kein Grund für einen
Gedenktag? Nur in München wurde im Juli in einer Feierstunde im Audimax
der Ludwig-Maximilians-Universität daran erinnert, wie jüdischen Ärzten
mit dem Approbationsentzug Lebenswerk und Existenz zerstört wurde. Der
kleine Münchner Ärztliche Kreis- und Bezirksverband hat diese
Gedenkstunde zusammen mit der Israelitischen Kultusgemeinde initiiert
und den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz
Bubis, als Redner gewonnen, gerade um junge Ärzte an ihre Verantwortung
zu mahnen. "Erinnerung dient dazu, für die Zukunft eine Lehre zu ziehen,
Rassismus und Totalitarismus zu erkennen", sagt der Vorsitzende des
Verbandes, Wolf von Römer.
Am 25. Juli 1938 hatten die
Nationalsozialisten und Hand in Hand mit ihnen die Ärzteschaft nach fünf
Jahren ihr Ziel erreicht, alle jüdischen Ärzte aus Ämtern und Praxen zu
vertreiben. Kurz nach der Machtergreifung, am 23. März 1933, hatten die
ärztlichen Spitzenfunktionäre die "Gleichschaltung" mit dem
Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund beschlossen. Am 2. April,
einen Tag nach dem Boykottaufruf gegen jüdische Ärzte, Apotheker,
Rechtsanwälte und Geschäftsleute, verkündete der Ärztebundvorsitzende
und spätere Reichsärzteführer Gerhard Wagner "die Entfernung von Juden
und Marxisten aus den Vorständen und Ausschüssen". Am 5. April empfing
Hitler die ärztlichen Spitzenfunktionäre, am 7. April wurde mit dem
Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums Juden und politische
Gegner aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen. In vielen
Universitäten kam es zu Razzien, jüdische Arzte wurden "beurlaubt",
verhaftet, mißhandelt. Am 20. April 1933 wurde die Vertreibung auf
jüdische Kassenärzte erweitert. "Neuzulassungen solcher Ärzte zur
Tätigkeit bei den Krankenkassen finden nicht mehr statt." Wer noch im
Amt blieb, verlor spätestens nach dem Erlaß der "Nürnberger Gesetze"
1935 seine Anstellung.
Nach Theresienstadt deportiert
Schon Anfang April 1933 wurde in Berlin der
prominente sozialdemokratische Arzt Julius Moses, Reichtagsabgeordneter
und Mitglied des Reichgesundheitsrates, seiner Ämter enthoben. Karl
Haedenkamp war als Beauftragter zur "Ausschaltung jüdischer und
sozialistischer Ärzte" die treibende Kraft. Nach 1945 wurde er wieder
Spitzenfunktionär, von 1949 bis 1955 war er geschäftsführender
Vorsitzender des Präsidiums Deutscher Ärztetag. Julius Moses blieb in
Berlin, er wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und kam dort ums
Leben. In seinen Erinnerungen schreibt er: "Dies hier ist
niedergeschrieben worden im Sommer 1938, also unmittelbar nach meinem
70. Geburtstag, in jener Zeit, da man mir die Bestallung als Arzt – nach
45jähriger ärztlicher Tätigkeit – genommen. Ich darf mich nicht mehr
praktischer Arzt nennen, ich, der ich beinahe ein halbes Jahrhundert
hindurch meine ärztliche Tätigkeit ausschließlich in den Dienst der
Armen und des Proletariats gestellt habe, ohne Rücksicht auf meine
eigenen wirtschaftlichen Verhältnisse."
Ärztliche Tätigkeit im Dienst der Armen
sollte es nicht mehr geben. Am 14.Juli 1933 wurde das Gesetz zur
Verhütung erbkranken Nachwuchses veröffentlicht. Die Hitlerjugend lernte
in ihren Gesundheitsbüchern, was Krankheit bedeutet: "Jeder Deutsche hat
die Pflicht, so zu leben, daß er gesund und arbeitsfähig bleibt.
Krankheit ist ein Versagen, der Kranke ist nicht zu
bemitleiden."Entfernt wurde aber auch die Konkurrenz. 52.000 Ärzte gab
es 1932 in Deutschland, ihre Zahl wuchs und mit ihr der Konkurrenzkampf.
Die 8.000 bis 9.000 jüdischen Ärzte arbeiteten vor allem in Großstädten,
in Berlin waren 43 Prozent aller Ärzte Juden. In München lebten 1933
nach der genauen und sehr anrührenden Dokumentation von Renate Jäckle
("Schicksale jüdischer und staatsfeindlicher Ärztinnen und Ärzte nach
1933 in München") 270 jüdische Ärzte.
Am 14.Januar 1934 fand im Städtischen
Krankenhaus Schwabing eine große Feier statt: das 25jährige Bestehen des
Hauses. Den Klängen der Münchner Philharmoniker lauschte auch der
Chefarzt der II.medizinischen Abteilung, Hans Baur. Eigentlich hätte auf
seinem Platz Otto Neubauer sitzen müssen. Am 1. April aber war Neubauer
von der Stadt in den Ruhestand versetzt worden, zusammen mit dem
Pathologen Siegfried Oberndorfer und dem Bakteriologen Martin David
Mandelbaum. Mandelbaum war erst am 14. Februar schriftlich als Chefarzt
des Bakteriologischen Instituts bestätigt worden. Neubauer, der als
genialer Arzt galt, emigrierte 1938 nach England, Mandelbaum folgte ihm
am 7. Mai 1939. Oberndorfer war schon 1934 in die Türkei geflohen, er
wurde Direktor des Pathologischen Instituts und des Instituts für
Krebsforschung der Universität Istanbul und starb 1944. Parteimitglied
Hans Baur befand sich indessen auf einem steilen Karriereweg: der
Privatdozent wurde 1935 Professor, 1937 Direktor des Schwabinger
Krankenhauses.
Jeder vierte Arzt war in der SA
Die deutschen Ärzte liefen den
Nationalsozialisten in Scharen zu, mehr als in jedem anderen
Berufsstand. Mehr als die Hälfte aller Ärzte, schreibt der
Medizinhistoriker Gerhard Baader, war Mitglied der NSDAP. 26% der Ärzte
gehörten der SA an, 8% Prozent der SS – bei den Lehrern waren es 0.4%,
heißt es in der "Geschichte der Deutschen Ärzteschaft". 1933 und 1934
war es der deutschen Ärzteschaft gelungen, etwa 3.000 jüdische Ärzte in
die Emigration oder den Selbstmord zu treiben.
Schon 1933 mußten viele der großen Ärzte
Deutschlands ihren Lehrstuhl oder ihre Professur räumen: der Nestor der
forensischen Psychiatrie Gustav Aschaffenburg, der Dermatologe Max
Jessner, der Pädiater Albert Eckstein, der Chirurg Rudolf Nissen, der
Nobelpreisträger und Biochemiker Otto Meyerhoff. Aus Österreich
emigrierte die Wiener Schule der Psychoanalyse mit Sigmund Freud, der
Pharmakologe und Nobelpreisträger Otto Loewi, der Neurologe Max
Schacherl. In der Ärzteschaft protestierte kaum jemand.
Der Nürnberger Ärzteprozeß, schrieb der
Beobachter Alexander Mitscherlich 1948, habe "den Charakter einer
Stichprobe" gehabt. Nur 23 Ärzte mußten sich für ihre Verbrechen
verantworten. "Wissenschaft ohne Menschlichkeit" hatten Alexander
Mitscherlich und Fred Mielke 1948 ihre Dokumentation des Schreckens
genannt, 10.000 Ärzte erhielten dieses Buch. Doch es dauerte vierzig
Jahre, bis ein Ärztepräsident öffentlich die Schuld der Ärzteschaft
bedauerte, bis Ärzte begannen, den kollektiven Schutzmantel ihres
Berufsstandes zu lüften, unter dem sie Verbrecher verborgen hatten,
Werner Catel beispielsweise, den Obergutachter für die
Kinder-Euthanasie, oder den Eugeniker Otmar Freiherr von Verschuer.
Catel wurde 1946 Chefarzt, 1954 Ordiniarus für Kinderheilkunde in Kiel
und 1960 emeritiert. 1962 forderte er eine begrenzte Euthanasie bei
"völlig idiotischen Kindern".
Die jüdischen Ärztinnen und Ärzte, die
emigrierten, kamen oft mit ihrem Schicksal nicht mehr zurecht. Ihre
Karrieren waren zerbrochen, viele Länder verlangten ein neues Studium
mit Approbation und die Staatsbürgerschaft. Der Medizin-Historiker
Gerhard Baader berichtet unter anderem von Walter Oettinger, Professor
für Hygiene an der Sozialhygienischen Akademie in Charlottenburg.
Oettinger konnte nirgends Fuß fassen, nicht in den USA, nicht in
England, er kehrte nach Deutschland zurück, wurde 1942 nach Riga
deportiert und blieb verschollen. Die sozialdemokratische Ärztin Käte
Frankenthal, die am 30. März 1933 Berlin verließ, konnte in New York von
ihrer kleinen Praxis nicht leben, sie arbeitete als Eisverkäuferin und
Wahrsagerin. Der Kinderarzt Julius Spanier dagegen wollte Deutschland
nicht verlassen. 1907 ließ er sich in München nieder, setzte sich für
die Säuglingsfürsorge ein, war bis 1933 Schularzt. Nach dem 30.September
1938 leitete er als "jüdischer Krankenbehandler" das israelitische
Krankenheim in der Hermann-Schmid-Straße. Am 4. Juni 1942 wurden fünfzig
Kranke, auch Sterbende, nach Theresienstadt deportiert, mit ihnen Julius
Spanier und seine Frau. Sie überlebten als einzige. Und sie kehrten nach
München zurück. Julius Spanier wurde Leiter des Säuglingskrankenheims in
der Lachnerstraße.
Drei Verbände jüdischer Arzte gibt es derzeit
in Deutschland, in Berlin, in Frankfurt und in Bayern – seit fünf
Jahren. Dieser jüdische Ärzteverband, sagt der Vorsitzende Nathan
Kaminski, sei aus einer spezifisch jüdischen Sichtweise heraus
entstanden: "Wenn wir die Brücken nicht wieder aufbauen, dann stärken
wir das Zerstörungswerk."
SZ vom 25.07.1998