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"Dem Volk dienen!"
Wie die RAF ihren Kampf gegen Faschismus, die USA und Israel erklärte

Von Susanne Bressan

Politisches Engagement und privater Umgang mit dem nationalsozialistischen Erbe in den Biografien der ersten RAF-Generation

Um zu eruieren, welche biografischen Erfahrungen, welche theoretischen und politischen Diskurse in die "Erklärung zur Sache" eingeflossen sind, müsste nachvollzogen werden, wer auf welche Art und Weise daran beteiligt war. Aus einem ersten Blick in die zur "Erklärung" zwischen den Häftlingen zirkulierten Schriftstücke geht hervor, dass der endgültigen Version mehrere Entwürfe, Anmerkungen und Überarbeitungen nicht nur der Angeklagten in Stammheim vorausgingen.[1] Unübersehbar sind die Parallelen in den Argumentationsmustern zu den Texten der Studentin und Journalistin Ulrike Meinhof. Die Stipendiatin der "Studienstiftung des Deutschen Volkes", Jahrgang 1934, hatte seit ihrem Engagement gegen die atomare Bewaffnung Westdeutschlands Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre immer wieder Analogien zwischen der Bundesrepublik und deren nationalsozialistischen Vorgängerstaat aufgestellt. Dass ihr dabei die Professorin der Pädagogik Renate Riemeck Vorbild war, zeigt eine jüngst erschienene Biografie über Ulrike Meinhof[2]. Nach dem Tod der Mutter von Ulrike Meinhof im Jahr 1949 übernahm Renate Riemeck die Vormundschaft für die Waise. Später verbanden beide, Ulrike Meinhof und Renate Riemeck, ihr publizistisches Engagement gegen atomare Rüstung mit dem politischen Ziel der Vereinigung von BRD zu DDR. Doch  im Unterschied zur Mehrheit der Akteure in der "Kampf-dem-Atomtod-Bewegung", die ebenfalls neutralistisch und gesamtdeutsch eingestellt waren, hofften Renate Riemeck und Ulrike Meinhof auf eine Vereinigung unter kommunistischen Vorzeichen.[3]

Auch Gudrun Ensslin, Jahrgang 1940, war für die Gegner der atomaren Rüstung aktiv. Im Unterschied zum Engagement ihrer späteren "Kampfgenossin" Ulrike Meinhof, die sich Unterstützung aus hochschulpolitischen Verbänden und später von der KPD und der SED holte, beschränkte sich das pazifistische Engagement Gudrun Ensslins auf ein einmaliges publizistisches Projekt. Gemeinsam mit ihrem damaligen Lebensgefährten Bernward Vesper editierte sie 1964 die Anthologie "Gegen den Tod. Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe". Unter Autoren wie Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger, Walter Jens, Anna Seghers und Stefan Zweig überrascht der Dichter Hans Baumann, der einst Liedtexte für die Hitler-Jugend verfasst hatte.

Sowohl Gudrun Ensslin als auch Ulrike Meinhof haben in ihrem publizistischen und politischen Engagement intellektuelle Traditionen ihrer elterlichen Bezugspersonen aufgegriffen. Auf den Protestantismus der Elternhäuser von Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof wird häufig verwiesen, um den Dezisionismus als Grundlage des späteren terroristischen Handelns beider Frauen zu erklären.[4] Darüber hinaus fallen die Beziehungen beider Familien zu publizistisch tätigen Theologen auf. Während Renate Riemeck, Ulrike Meinhofs Vormund und Freundin ihrer Mutter, ihre politische Meinung sowohl in den "Blättern für deutsche und internationale Politik" als auch in von Martin Niemöller herausgegebenen "Stimme der Gemeinde" artikulierte, pflegte der Vater Gudrun Ensslins, evangelischer Pfarrer in Württemberg, Kontakte zu Martin Niemöller, und anderen protestantischen Persönlichkeiten, die sich für die "Anti-Atombomben-Bewegung" und einen neutralistischen Kurs der BRD engagierten.

Gudrun Ensslins weitere publizistische Interessen waren darüber hinaus von ihrer Partnerschaft mit ihrem ersten langjährigen Lebensgefährten Bernward Vesper geprägt. Zusammen mit ihm hatte sie nicht nur die Anthologie "Gegen den Tod" verlegt, sondern auch die Novellen-Sammlung "Geschichten von Liebe, Traum und Tod" von Will Vesper im österreichischen Verlag "Dr. Bertl Petrei" neu editiert. Die beiden editorischen Projekte überschnitten sich zeitlich, wobei das zuletzt genannte an dieser Stelle besondere Beachtung hinsichtlich des persönlichen Umgangs der späteren RAF-Terroristin mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ihrer Elterngeneration verdient.

Im Namen des Verlags "Dr. Bertl Petrei" verschickten Gudrun Ensslin und Bernward Vesper Rezensionsexemplare der "Geschichten von Liebe, Traum und Tod" von Will Vesper.[5] Auch der in Jerusalem lebende österreichisch-israelische Publizist Moshe Ya’akov Ben-Gavriêl erhielt ein solches Exemplar und schickte einen entsprechenden Kommentar an die Adresse Gudrun Ensslins zurück. Darin bezeichnet er es als "unerhörte Zumutung" und "außerordentliche Geschmacklosigkeit (...), einem jüdischen Publizisten das Werk eines Nazis" zu schicken, der zu jenen Schriftstellern gehörte, die "es für opportun hielten, gegen Juden und ‚Kulturbolschewisten’ zu hetzen".[6] Die Antwort von Gudrun Ensslin und Bernward Vesper an Moshe Ya’akov Ben-Gavriêl zeugt von einem Mangel an Empathie für die Opfer des Holocausts und deren Angehörigen sowie von der Unfähigkeit, sich ernsthaft mit der Verantwortung des Nationalsozialisten Will Vespers auseinanderzusetzen.[7] Dabei versuchen Ensslin und Vesper die Situation zu entschärfen und teilen Ben-Gavriêl mit, es habe ihnen "fern gelegen ihn zu kränken", sie bitten ihn jedoch nicht um Entschuldigung. Mit keinem Wort benennen sie die tatsächliche Rolle Will Vespers im Nationalsozialismus, sondern umschreiben diese schwammig mit "politischen Ansichten", welche sie selbst "in keiner Weise teilen" und welche Will Vesper auch nur "etwa 10 Jahre seines 80-jährigen Lebens" vertreten habe. Es ist erstaunlich, mit welcher Dichtheit und Ambivalenz in diesem zweiseitigen Schreiben einerseits Tatsachen verschwiegen, verharmlost oder verdreht werden – zum Beispiel, dass Will Vesper sich nach 1945 von seinen nationalsozialistischem Gedankengut eben nicht getrennt hatte[8]. Zugleich wird der Adressat in belehrender Manier zurechtgewiesen. Die aktuellen Probleme seien, dass "viele der echten Machthaber (...) wieder – oder noch immer – in führenden Stellungen sind, wo Militarismus und Autoritarismus ihr Haupt frech erheben."

In einem Satz relativieren Gudrun Ensslin und Bernward Vesper die Verantwortung Will Vespers, indem sie ihn den "echten Machthabern" gegenüberstellen, und werfen zugleich Ben-Gavriêl vor, er würde sich auf Probleme der Vergangenheit beziehen.

Als Anliegen für die Neuauflage der Schriften Will Vespers geben die beiden Herausgeber an, "der Forschung dieses Werk zugänglich" zu machen: "Nachzuforschen wäre: wie kam ein solcher Mann dazu (...), in den frühen dreißiger Jahren zu der Ihnen und auch uns bekannten und unverständlichen Haltung zu gelangen." Dieses Anliegen konterkarieren Gudrun Ensslin und Bernward Vesper zugleich in dem Schreiben, indem sie eben nicht benennen, auf welche Weise sich Will Vesper in den Dienst der Nationalsozialisten stellte, sondern lediglich biografische Details Will Vespers aufzählen, in denen er "nicht die Spur einer Verhetzung zeigte."[9]

Zusammengenommen scheinen sich Gudrun Ensslin und Bernward Vesper von Ben-Gavriêl vor allem eines erhofft zu haben: Von einem Juden die Absolution für die nationalsozialistische Vergangenheit Will Vespers zu erhalten, und dies möglicherweise stellvertretend für all diejenigen Deutschen, die wie er, nicht zu den "echten Machthabern" gehört hatten.

Die Rehabilitation Will Vespers war zwar vermutlich in der Hauptsache das Projekt seines Sohnes Bernward Vesper.[10] Doch aus welchen Motiven unterstütze Gudrun Ensslin das Projekt ihres Lebensgefährten mit solch großer Tatkraft?[11] Während Will Vespers Rolle als aktiver Nationalsozialist schon seiner herausgehobenen Position wegen nicht geleugnet werden kann, findet man zum Verhalten der Eltern Gudrun Ensslins im Nationalsozialismus bislang kaum Hinweise. Unklare Angaben kursieren zum Vater Gudrun Ensslins, dem Pfarrer Helmut Ensslin, und seiner Tätigkeit für die Bekennende Kirche. Ob und in welcher Weise er bereits während des Nationalsozialismus oder erst nach 1945 zu den sich offen gegen die Nationalsozialisten bekennenden Kirchenleuten hielt, muss erst noch rekonstruiert werden.[12] Hingegen existieren Hinweise darauf, dass das Verhalten der Eltern im Nationalsozialismus im familiären Erinnerungsdiskurs eine markante Rolle spielte.[13]

Zum Vater Ulrike Meinhofs, Werner Meinhof, sind jüngst biografische Details über die Zeit im Nationalsozialismus veröffentlicht worden. Demnach war er bereits im Juli 1933 Mitglied der NSDAP, und seine spätere Zugehörigkeit zur "Renitenten Kirche" scheint ihm kein Hindernis gewesen zu sein, im Jahr 1936 eine Stelle als Direktor des Stadtmuseums in Jena anzunehmen.[14] Noch immer wenig bekannt ist über das Verhalten der Mutter und der Ziehmutter von Ulrike Meinhof im Nationalsozialismus. Für die enge Freundin der Mutter von Ulrike Meinhof, Renate Riemeck, hat die Meinhof-Biografin Kristin Wesemann weder in Archiven noch aus der Befragung von Weggefährtinnen Renate Riemecks Anhaltspunkte gefunden, welche die von Renate Riemeck selbst kolportierte Gegnerschaft zum Nationalsozialismus bezeugen könnten. Stattdessen hat sie in Riemecks universitärer Karriere eine große Nähe zum nationalsozialistischen Lehrkörper der Universität Jena und zudem ihre Mitgliedschaft in der NSDAP nachgewiesen.[15] Darüber, wann und auf welche Weise Ulrike Meinhof von diesen biografischen Details ihrer Ziehmutter und ihres Vaters erfuhr, kann nur spekuliert werden. Spätestens 1968 hatte sie jedoch entsprechende Informationen über ihren Vater erhalten.[16]

Aus den Biografien von Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof verdienen hinsichtlich der Herausbildung von Motiven der Schuldabwehr drei Aspekte besondere Beachtung. Erstens kamen beide in ihrem ersten politischen Engagement in der "Anti-Atomtod"-Bewegung mit einem Gemenge aus Pazifismus, antiwestlichen Ressentiments, nationalem Denken und Mustern der Schuldabwehr in Berührung. Zweitens artikulierten  beide in dieser Bewegung bereits ihre Gegnerschaft zur Politik der BRD, ohne dabei gegen ihr Elternhaus zu opponieren. Drittens stellt sich bei beiden das familiäre Erinnern an das Handeln der Eltern, der Schwiegereltern bzw. der Ziehmutter im Nationalsozialismus zumindest ambivalent, wenn nicht widersprüchlich dar.

Zu den anderen Koautoren der "Erklärung zur Sache", Andreas Baader und Jan-Carl Raspe besteht zu den intellektuellen Einflüssen und der Rolle ihrer Familien im Nationalsozialismus noch Forschungsbedarf. Zu Jan-Carl Raspe liegt bislang noch keine biografische Publikation vor. Die bisherigen biografischen Publikationen zu Andreas Baader sprechen vielmehr dafür, dass intellektuelle Traditionen und politische Motive in seinem Lebenslauf erst sehr spät biografisch relevant werden und dass ihn hierin vor allem Gudrun Ensslin prägte, die nach ihrer Trennung von Bernward Vesper seine Lebensgefährtin geworden war. Zum innerfamiliären Erinnern der Raspes und Baaders an den Nationalsozialismus ist nichts bekannt. So lassen sich zwar nicht für alle RAF-Mitglieder der ersten Generation gleichermaßen Motive der Schuldabwehr ausmachen. Doch außer Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof sind für ein drittes Gründungsmitglied Motive der Schuldabwehr eindeutig zu erkennen: Horst Mahler, der sich während seiner Haftzeit vom Linksterrorismus lossagte und heute bekennender Neonazi ist.

Knotenpunkt Frankfurt 1969

Der Rechtsanwalt und Mitbegründer der RAF Horst Mahler hat zwar an der "Erklärung zur Sache" nicht mehr mitgewirkt, doch sind in anderen Äußerungen von ihm Motive der Schuldabwehr zu erkennen.[17] Ob er mit seinem nationalsozialistischen Elternhaus jemals gebrochen hat, bleibt nicht zuletzt seit seiner klar neonazistischen Wendung fraglich. Analogien zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der nationalsozialistischen Herrschaft formulierte er, damals als Bedrohungsszenario, unter anderem in seiner Verteidigung im Prozess gegen Andreas Baader und Gudrun Ensslin im Jahr 1969 – knapp ein Jahr vor der Gründung der RAF. Das Paar hatte gemeinsam mit zwei Gesinnungsgenossen einen Brandanschlag auf ein Kaufhaus in Frankfurt am Main verübt, um, so die Selbstexplikation,  auf den "Völkermord in Vietnam" aufmerksam zu machen.

Im Rahmen des Gerichtsprozesses trafen verschiedene intellektuelle Traditionslinien der Schuldabwehr zusammen: Die Kommunistin Ulrike Meinhof, die als Journalistin zum Prozess angereist war, begegnete hier zum ersten Mal Gudrun Ensslin. Der einstige Lebensgefährte Gudrun Ensslins, Bernward Vesper, trat als Zeuge im Prozess auf und betonte die Idee vom Widerstand gegen einen zweiten, sich in Vietnam wiederholenden Holocaust. Zur Erinnerung: Mit Bernward Vesper hatte Gudrun Ensslin die Werke seines Vaters, des nationalsozialistischen Schriftstellers Will Vesper, neu aufgelegt. Bernward Vesper war außerdem der Herausgeber der seit 1966 erscheinenden "Voltaire-Flugschriften", in denen er die deutsche Übersetzung von Günther Anders’ "Nürnberg und Vietnam" verlegt hatte und in denen er auch die Rede der Angeklagten im Kaufhausbrandstifterprozess druckte. Die Rede mit dem Titel "Unter einer solchen Justiz verteidigen wir uns nicht", enthält bereits jene Muster der Schuldabwehr, die sich in Analogien des nationalsozialistischen Deutschlands mit den USA ausdrücken und die in der "Erklärung zur Sache" zugespitzt und auf Israel übertragen formuliert werden. Deutlich wird in der Rede zudem die Inanspruchnahme des Opferstatus von Seiten der Angeklagten, die sich als Opfer einer "faschistischen" Justiz darstellen.

Der gegen Israel gerichtete Schuldabwehrantisemitismus, die faschismustheoretische Abspaltung des historischen Holocaust auf einen gegenwärtigen, schlimmeren Holocaust und die damit einhergehende Verharmlosung des Genozids an den europäischen Juden, die Übertragung der Verantwortung Deutschlands für den historischen Holocaust auf einen von der USA zu verantwortenden gegenwärtigen Holocaust – all diese Facetten der Schuldabwehr finden sich in der "Erklärung zur Sache" zu einem einzigen großen Welterklärungsmuster zusammengestrickt. Die einzelnen Fäden liefen bereits 1969 im Frankfurter Kaufhausbrandstifterprozess zusammen. Dort trafen nicht nur die späteren Gründerinnen und Gründer der RAF aufeinander, sondern darüber hinaus befanden sich unter den Zeugen und im Gerichtssaal jene Angehörigen der intellektuellen Szene, welche mit ihrer Kritik am Vietnamkrieg und der zeitgenössischen BRD zugleich die Schuld der Elterngeneration am Holocaust abwehrten.

Aus heutiger Sicht fällt die Vorstellung schwer, dass die den Nationalsozialismus relativierenden Analogisierungen und sekundärantisemitische Argumentationsmuster, die sich aus der Zeit vor der RAF bis in der "Erklärung zur Sache" verfolgen lassen, von Zeitgenossen nicht vehement zurückgewiesen wurden. Der Soziologe Friedhelm Neidhardt zieht Bedingungen einer terroristischen Lebensweise und die damit einhergehenden scharfen Abgrenzungsprozesse zum Gruppenerhalt heran, um die "Nichtfalsifizierbarkeit des Absurden" der Argumentationsweise von Seiten der RAF zu erklären[18]. Ergänzend wäre zu fragen, wie denn von Außen, ob im zeitgenössischen Umfeld der Gegner oder dem der mehr oder weniger zaghaften Unterstützer überhaupt versucht wurde, die Argumentationsmuster der Schuldabwehr und des sekundären Antisemitismus öffentlich zu falsifizieren.[19]

Reaktionen der bundesdeutschen Justiz und Öffentlichkeit

Richter und Staatsanwälte im Stammheimer Verfahren hatten gute Gründe, aus der Strafsache gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe keinen politischen Prozess zu machen. Hört man die Tonbandaufzeichnungen aus den Verhandlungen, bekommt man jedoch den Eindruck, dass dies ein Unterfangen war, das dem Gericht nicht gerade leicht fiel[20]. Dies lag unter anderem daran, dass die Verteidiger die RAF-Häftlinge in ihrer Argumentation mit großem Engagement unterstützten. So bezeichnete Axel Azzola, Verteidiger von Ulrike Meinhof und Rechtsprofessor in Darmstadt, im Anschluss an die von den Angeklagten vorgetragene "Erklärung zur Sache" die Taten der RAF als Teil des internationalen Widerstands der proletarischen Freiheitsbewegungen gegen den Imperialismus des Kapitals. Vor diesem Hintergrund forderte er, die Angeklagten nach dem Kriegsrecht zu behandeln.[21] Otto Schily, der Verteidiger von Gudrun Ensslin, setzte den Krieg der USA in Vietnam mit dem Holocaust gleich[22] und beantragte, Richard Nixon als Zeugen zu laden.

Um diese Anträge zurückzuweisen, musste das Gericht nicht die Gleichsetzungen von den USA mit NS-Deutschland sowie von der RAF mit dem Widerstand gegen den Holocaust zurückweisen, sondern mit verfahrensrechtlichen Argumenten entscheiden. Dennoch drängt sich, aus dem zeitlichen Abstand und derzeitigen Kenntnisstand heraus, die Frage auf, warum es Staatsanwälte und Richter versäumten, die Anträge auch einer inhaltlichen Prüfung zu unterziehen. Wären die Rechtfertigungsversuche der RAF und derjenigen Unterstützer, die zwar nicht die Gewalt der RAF, aber deren Motive befürworteten, nicht viel besser entkräftet worden, hätte man sie als Verharmlosung des Holocausts und als Schuldabwehr hinsichtlich des Nationalsozialismus und des Genozids an den europäischen Juden herausgestellt?

Eine Ausnahme, in der das Gericht auch auf politische Argumente einging, ist der Antrag von Axel Azzola, den der Bundesanwalt Heinrich Wunder wie folgt kommentierte:

"Das Widerstandrecht in diesem Zusammenhang anzuführen, ist meiner Auffassung nach fast beleidigend für all diejenigen, die im 'Dritten Reich' zulässigen Widerstand geleistet haben, leisten mussten und dankenswerter Weise geleistet haben."[23]

Mehr nicht? "Fast" beleidigend – also noch nicht mal eine Beleidigung? Und was ist unter "zulässigem Widerstand" im "Dritten Reich" zu verstehen?

Über Azzolas Antrag wurde in allen großen überregionalen Tages- und Wochenzeitungen der BRD berichtet. Die Entgegnung des Bundesanwalts Heinrich Wunder zum Vergleich mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus wurde jedoch nur in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung wiedergegeben und nirgendwo kommentiert.[24] Warum rief ausgerechnet dieses Argument der Rechtfertigung linksextremer Terroristen so wenig Reaktionen von Seiten der Justiz und der Öffentlichkeit hervor?

Dass die westdeutsche und später gesamtdeutsche Justiz sich bis in die 1990er Jahre hinein davor scheute, von Gerichten der Wehrmacht verhängte Urteile des "Vaterlandsverrats" und der "Wehrmachtszersetzung" zu revidieren, kann Hans-Jochen Vogel, in den 1970er Jahren Bundesjustizminister, heute nicht mehr nachvollziehen.[25] Er ist einer der wenigen Politiker, der die Frage nach den eigenen Versäumnissen auf diesem Gebiet öffentlich thematisiert. Vielleicht liegt in solchen Fragen der Schlüssel zum Verständnis, warum auch von Seiten der Gegner der RAF und von der Justiz eine öffentliche Zurückweisung derjenigen Argumente der Gefangenen in Stammheim weitgehend ausblieb, die einerseits eine Entlastung der nationalsozialistischen deutschen Täter und "Mitläufer" artikulierten, und die andererseits westdeutsche Politiker für damalige tatsächliche oder angebliche Unrechtsregime und völkerrechtliche Verbrechen mitverantwortlich machten.

Wie der Holocaust zu verstehen und was aus dem Nationalsozialismus zu lernen sei, scheint jedenfalls weder eine Frage zu sein, welche die Generationen in der BRD spaltete, noch ein geeignetes Kriterium, um zwischen der RAF als terroristischem Ausläufer von "1968" einerseits und der nicht gewalttätig gewordenen Mehrheit der Studentenbewegung anderseits zu unterscheiden. In dieser Frage bildeten sich andere Grenzverläufe. Dass auch aus Kreisen der intellektuellen Unterstützer der Studentenbewegung Kritik an der einseitigen Israelfeindschaft geübt wurde, zeigt das Beispiel des Erziehungswissenschaftlers und Sozialisten Berthold Siemonsohn. In einem Porträt für die Jüdische Allgemeine zitiert Micha Brumlik einen Kommentar von Siemonsohn zu der sich etablierenden Abkehr seiner einstigen Mitstreiter von Israel nach dem Sechstagekrieg:

"Niemand verlangt eine einseitige Identifikation des internationalen Sozialismus mit der israelischen Politik, aber ich dachte, dass eine eindeutige Stellungnahme gegen Chauvinismus und Kriegshetzerei der Araber, gegen deren bedingungslose Aufrüstung durch die Sowjetunion und für ein Programm der Verständigung mit dessen Grundsätzen durchaus vereinbar sei. Ich bin der Meinung, dass es für Sozialisten auch in der Politik einen Grundtatbestand an moralischen Prinzipien gibt, die man nicht ungestraft verletzen darf."[26]

Warum es so vielen Zeitgenossen von Berthold Siemonsohn nicht gelang, die andere Seite zu sehen, bleibt an dieser Stelle eine offene Frage, die vielleicht nur anhand individueller Biografien zu beantworten ist.

Anmerkungen:
[1] RAF-Sammlung des Archivs des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Mappen; St,V/ 034, 001-003, St,V/ 011, 006; Gr, M/ 025, 010.
[2] Kristin Wesemann, Ulrike Meinhof: Kommunistin, Journalistin, Terroristin – eine politische Biografie, Baden-Baden 2007.
[3] Kristin Wesemann, a.a.O.
[4] Jörg Herrmann, "Unsere Söhne und Töchter". Protestantismus und RAF-Terrorismus in den 1970er Jahren, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, S. 644-656; Wolfgang Kraushaar, Entschlossenheit: Dezisionismus als Denkfigur: Von der antiautoritären Bewegung zum bewaffneten Kampf, in: Ders. (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, S. 140-156.
[5] Gerd Koenen 2003, a.a.O., S. 29; Michael Kapellen, Doppelt Leben: Bernward Vesper und Gudrun Ensslin. Die Tübinger Jahre, Tübingen 2005.
[6] Ben-gavriêl, M.Y., an "Sehr geehrte Frau Ensslin"/Verlag Dr. Bertl Petrei, Stuttgart-Cannstatt, 15.10.1963, Deutsches Literaturarchiv Marbach, A: März-Archiv I (Nachlass B. Vesper), Mappe 119a; zit. in: Gerd Koenen 2003, a. a. O., S. 29.
[7] Dr. Bertl Petrei, Pressestelle f.d.A. (für das Ausland), Stuttgart-Cannstatt, an M.Y. Ben-Gavriêl, 18.10. 1963, Deutsches Literaturarchiv Marbach, A: März-Archiv I (Nachlass B. Vesper), Mappe 119a, zit. in: Gerd Koenen, a. a. O., S. 30. Laut Gerd Koenen, der in die gesamte archivierte Korrespondenz Bernward Vespers Einsicht hatte, stammt die Antwort aus "Ensslins Schreibmaschine"; eine Kopie des Schriftwechsels zwischen Ben-Gavriêl und Gudrun Ensslin/ Bernward Vesper aus dem Archiv liegt der Verf. vor.
[8] Zu Will Vespers Wirken im Nationalsozialismus und nach 1945 siehe: Gisela Berglund, Der Kampf um den Leser im Dritten Reich.. Die Literaturpolitik der "Neuen Literatur” (Will Vesper) und der "Nationalsozialistischen Monatshefte", Worms 1980 (Schriftenreihe Deutsches Exil 1933-45 hrsg. v. Georg Heintz).
[9] Auch entbehrt das Buch jeden editorischen Hinweises darauf, dass es zu den erwähnten Forschungszwecken neu aufgelegt worden sei. Im Klappentext, im Umschlagstext sowie im Nachwort des Germanisten Adolf von Grolman finden sich nur lobende Worte für Will Vesper. Vgl. Will Vesper, Geschichten von Liebe, Traum und Tod, Maria-Rain/Kärnten u.a., 1963.
[10] Zu den Motiven Bernward Vespers, der mit der Rolle seines Vaters und zugleich seiner eigenen Sozialisation einerseits sehr haderte, andererseits zeitlebens große Schwierigkeiten hatte, sich von seinem Vater zu lösen, siehe Frederick Alfred Lubich, "Bernward Vespers 'Die Reise': Von der Hitler-Jugend zur RAF. Identitätssuche unter dem Fluch des Faschismus”, in: German studies review 10 (1987), S. 69-94, zu den Aktivitäten des adoleszenten Bernward Vesper in rechtsextremen und revisonistischen Zirkeln siehe Gerd Koenen, a.a.O., S. 31f.
[11] Wie Gudrun Ensslin an Bernward Vespers verlegerischem Projekt mitwirkte, schildern Gerd Koenen, a. a. O., S. 29, S.99 und Michael Kapellen, a.a.O.
[12] Die bisherigen Angaben hierzu weisen keine Quellen nach. Bei Jörg Herrmann liest man von einer "Zugehörigkeit" des Pfarrers Helmut Ensslin zur Bekennenden Kirche (Jörg Herrmann, "Unsere Söhne und Töchter", Protestantismus und RAF-Terrorismus in der 1970er Jahren, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, S. 644-656, hier S.647); In einem anderen Text bezeichnet Jörg Hermann Helmut Ensslin lediglich als "Anhänger" der Bekennenden Kirche (Jörg Herrmann, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin – Vom Protestantismus zum Terrorismus, in: Klaus Biesenbach (Hg.), Zur Vorstellung des Terrors. Die RAF-Ausstellung Band 2, Berlin/Göttingen 2005, S. 112-114, hier S. 112). Gerd Koenen schreibt, Helmut Ensslin habe "im Dritten Reich (...) zur Bekennenden Kirche gehalten." (Gerd Koenen 2003, a.a.O., S. 100). Hingegen schildert Gudrun Ensslins sechs Jahre jüngerer Bruder Gottfried in einem Interview gerade die Nichtzugehörigkeit seines Vaters zur Bekennenden Kirche als problematisch: "Mein Vater war ja im Dritten Reich, hatte eine Zeit, wo er von der Kanzel einige Sätze gegen Hitler sagte. Sinngemäß war die Äußerung, dass Christus größer als Hitler sei. Eigentlich für damalige Verhältnisse mutig, so was zu sagen. Es gab eine Anzeige von einem Lehrer am Ort. Nach einem Heimtückegesetz hieß das damals. Daraufhin ist mein Vater in den Krieg gegangen. Also es war, ich würde sagen, ein unvollendeter Widerstand. Und ich glaube, dass das nachgewirkt hat. Sowohl in der Diskussion in unserer Familie. Bei meinem Vater, der den Mut bewundert hat der Leute aus der Bekennenden Kirche, die sehr viel konsequenter gehandelt haben als er, wo er nicht mitgemacht hat." (Gottfried Ensslin zitiert in Margot Overath, Wer war Gudrun Ensslin? Ein Portrait. Produktion der Feature-Abteilung des Rundfunk Berlin Brandenburg mit dem Westdeutschen und dem Norddeutschen Rundfunk, 2005, Sendung: WDR 3, 1.2.2005, 22 – 23 Uhr, S. 9). Nach einer Auskunft aus dem Archiv der Evangelischen Landeskirche Württemberg kann eine Zugehörigkeit Ensslins zur Bekennenden Kirche während der nationalsozialistischen Diktatur aus den Akten weder nachgewiesen noch ausgeschlossen werden (E-Mail  von Michael Bing, Landeskirchliches Archiv Stuttgart, 15.06.2007).
[13] Vgl. für eine Schwester Gudrun Ensslins: Gerd Koenen, a.a.O., S.313, für Gottfried Ensslin vgl. Margot Overath, a.a.O. S.9.
[14] Kristin Wesemann, a.a.O., S. 49 u. S. 301-302.
[15] Kristin Wesemann, a.a.O., S. 43.-56. Wesemann schließt aus den Akten über Renate Riemeck auch auf eine NSDAP-Mitgliedschaft der Mutter von Ulrike Meinhof, ohne dies zu explizieren (S. 54, Fußnote 210).
[16] Kristin Wesemann, a.a.O., S. 49.
[17] Vgl. Martin Jander, "Horst Mahler", In: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg, 372-397.
[18] Friedhelm Neidhardt, Soziale Bedingungen terroristischen Handelns. Das Beispiel der "Baader-Meinhof-Gruppe" (RAF). In: Wanda von Baeyer-Katte u.a. (Hg.), Gruppenprozesse (Analysen zum Terrorismus Bd 3, hrsg. v. Bundesministerium des Innern), Opladen, 318-391, hier S. 320.
[19] Eine Veröffentlichung der Bundeszentrale für politische Bildung widmete sich dem Thema schon Anfang der 1970er Jahre: Axel Silenius (Hg.), Antisemitismus und  Antizionismus, Analyse, Funktionen, Wirkung, Frankfurt 1973. Wie das Thema darüber hinaus rezipiert wurde, bedarf einer Recherche in der zeitgenössischen Presse und weiteren wissenschaftlichen Veröffentlichungen.
[20] Die Tonbänder stehen als Audio-Datei zur Verfügung unter: http://www.wdr.de/themen/politik/deutschland/deutscher_herbst/stammheim_baender/_mo/
fotos_baender.jhtml
[12.03.2008]
[21] Süddeutsche Zeitung v. 21.01.1976, S. 5.
[22] "Das sind die gleichen Bilder: das jüdische Kind im Getto, das mit erhobenen Händen auf die SS-Leute zugeht, und die vietnamesischen Kinder, die schreiend, napalmverbrannt dem Fotografen entgegengelaufen kommen nach den Flächenbombardements.", zit in: Stefan Reinecke, "Otto Schily." Vom RAF-Anwalt zum Innenminister, Hamburg 2003, S. 179.
[23] Bundesanwalt Heinrich Wunder am 65. Verhandlungstag in der Strafsache gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Jan-Carl-Raspe, 20.01.1976, Tonbandmitschnitt, hier zitiert aus der Sendung "Funkhausgespräche spezial" im WDR 5, 08.10.2007, http://www.wdr.de/themen/_config_/mediabox/ index.jhtml?url=/themen/politik/deutschland/deutscher_herbst/stammheim_baender/_mo/audio_teil_7.jhtml
[11.02.2008].
[24] Süddeutsche Zeitung v. 21.01.1976, S. 5. Ausgewertet wurden für den Zeitraum vom 15.01.-31.01.1976 außer der Süddeutschen Zeitung: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Die Welt, Bild, Zeit und Spiegel.
[25] Hans-Jochen Vogel, Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Was damals Recht war..." – Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, 21.06.2007, Deutsches Theater, Berlin.
[26] Micha Brumlik, Der andere Achtundsechziger. Jurist, Pädagoge, Sozialist und Zionist. Vor 30 Jahren starb Berthold Siemonsohn, in: Jüdische Allgemeine Nr. 12/2008, S. 13.

hagalil.com 02-04-2008

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