Shylock - verschenkt:
Über das jüdische Element in der deutschen Kultur
Von Daniel Haw
Zweifellos fällt es dem Menschen als gesellschaftliches Wesen schwer, die
Entstehung, Zusammenhänge und Einflüsse der eigenen Kulturgemeinschaft
objektiv zu bewerten. Einerseits spielen hier Erziehung, Tradition und
religiöse Disposition eine große Rolle, andererseits stellt, wie in vielen
Lebensbereichen, auch in der historischen Exegese, die Mode eine
entscheidende Kraft dar, die den unverhohlenen Blick auf Ursprung,
Entwicklung und den Status quo nationaler Kultur beeinflusst.
Als Leiter der ersten jüdischen Privatbühne in Deutschland nach dem 2.
Weltkrieg ist mir dieser Gedanke spürbar bewusst geworden und auch erst als
ein solcher.
Die Resonanz auf die Gründung meines "Theater Schachar" im Jahre 1998 konnte
heterogener nicht sein. Das "Schachar" (hebr.: Morgenröte) verstand und
versteht sich als eine Mittlerin zwischen den Kulturen. Eine seiner Aufgaben
besteht in der Förderung einer weitestgehend furchtfreien Perspektive, aus
der das christlich geprägte Publikum die Welt jüdischer Künste zu betrachten
vermag.
Hiermit habe ich auch bereits das primäre Problem angesprochen, dass zum
einen die Vermittlung jüdischer Kulturinhalte in Deutschland unsäglich
erschwert und zum anderen die bereits erwähnte, generelle Schwierigkeit der
von Zeitgeist unabhängigen historischen Kulturexegese illustriert.
Es ist festzustellen, dass sich die Religion zwiefach in der abendländischen
Kulturgeschichte manifestiert: als Bestandteil und als Korrektiv derselben.
Es ergeben sich zwei religiöse Positionen: die äußerlich beurteilende und
die innerlich beteiligte. Wenn ich von der externen religiösen Position
spreche, meine ich selbstverständlich die christliche beider Kirchen, die
über die Jahrhunderte hinweg die Entwicklung der deutschen Kultur lenkten
und bestimmten, jeglichen anders gearteten religiösen Einfluss auf die
Kultur tilgten, die Philosophie dienstverpflichtete oder bannte und die
Sittengeschichte hochnotpeinlich prägte. Das Resümee, europäische und
christliche Kulturgeschichte sei ein und dasselbe, erscheint mir, auf dem
Hintergrund kirchlicher Macht vergangener Jahrhunderte, weder überspitzt
noch provokant.
Die Verbrechen der Kirchen an den Menschen Europas und ihren Kulturen, die
uns allen bekannt sind und an dieser Stelle nicht gesondert aufgeführt
werden müssen, markieren deutlich die externe Machtposition der christlichen
Institutionen, aus der heraus sie bewerteten und handelten; intern hingegen
beteiligten sie sich aktiv am Aufbau und an der Entwicklung europäischer und
deutscher Kultur. Auch hier erübrigt es sich, auf die Verdienste
christlicher Nonnen und Mönche zu verweisen, die sich unter anderem um die
Grundlagen der deutschen Literatur verdient gemacht haben. Dies ist
allenthalben bekannt.
Aus Furcht vor den christlichen Machtinstitutionen, aus Gründen der
Erziehung, Tradition und Sozialisation, akzeptierten, befolgten,
verinnerlichten und propagierten Kunst, Geistes- und Naturwissenschaft die
dogmatischen Paradigmen der Kirchen.
Erst die französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts, die Deklaration der
Menschenrechte, der große Amerikanische Unabhängigkeitskrieg, ihm folgend
die Französische Revolution, befreiten die Kultur von klerikalem Diktat.
Dies war der Zeitpunkt, an dem die jüdische Geisteswelt begann, sich
vorsichtig und teils selbstverleugnend ins Rampenlicht europäischer Kultur
zu wagen. Immer wieder diffamiert von der entmachteten Kirche, von hämischer
Presse und neidischer Öffentlichkeit, verfügte die Judenheit zu keinem
Zeitpunkt in der Geschichte über den religiös-philosophischen Einfluss auf
die europäische Kultur, der ihr selbst noch im Jahre 2007 nachgesagt wird.
Niemals gewann jüdisches Denken in seiner unumwundenen Ausprägung die
paradigmatische Bedeutung und Macht, wie das der christlichen Kirchen.
Nur verborgen hinter symbiotischem Schleier durfte jüdisches Geistesgut in
den europäischen Kulturkanon einfließen, immer bedroht und gefährdet von dem
mörderischen Gespenst des Antisemitismus', das sich auch nicht nach dem
offensichtlichen Machtverlust der Kirchen hatte vertreiben lassen.
Mal um Mal, und besonders, sobald sich jüdische Künstler in Europa,
insbesondere in Deutschland, ausnehmend sicher fühlten und hinsichtlich
ihrer religiösen Herkunft unvorsichtig wurden, erschien das Gespenst erneut
und zwang sie schmerzhaft in ihre historischen Schranken. Der Verweis auf
christliche Mythen, wie den Mord am Messias und Ähnliches, genügte, um auch
bei den Juden Urängste aufkommen zu lassen. Pogrome vergisst ein Volk nicht.
Die kollektive Erinnerung des Opfer- und des Tätervolkes sind von
genetischer Zuverlässigkeit!
Giacomo Meyerbeer, in seiner Zeit bereits ein gefeierter Komponist, war dem
Zeitgenossen und hervorragenden Antisemiten der Musikgeschichte Richard
Wagner aufgrund seines maßlosen Erfolges ein Dorn im Auge. Dessen
unbestreitbarer Judenhass, den er opportunistisch offen oder hinter
Pseudonymen verborgen, verbal oder journalistisch, ausspie, den er aber auch
nach Bedarf zu verleugnen wusste, wenn es die Situation erforderte (wie vor
Ludwig II. von Bayern), fand in dem selbstbewussten, sarkastischen Meyerbeer
allerdings ein undankbares Opfer. Die perfiden Angriffe auf den
Protagonisten der Grande Opera, in dem Wagner ursprünglich den Wegbereiter
des Gesamtkunstwerks sah und ihn deshalb, wie um sein unleugbares Genie,
bewunderte, gipfelten in seinem verachtungswürdigen Ausspruch, Juden seien
wahrhaften Komponierens, wahrhafter Kunst nicht fähig und blendeten das
Publikum nur durch fatale Nachäfferei europäischen Genies. Wahrhaft fatal
ist die Tatsache, dass Reichspropagandaminister Joseph Goebbels diesen
wagnerschen Gedanken kongenial adaptierte.
Selbst die Shoah wusste der geniale Sachse seherisch heraufzubeschwören; so
ließ er den großen jüdischen Dirigenten Hermann Levi wissen, die Juden mögen
nur durch ihren Untergang erlöst werden. Zahlreiche schriftliche Belege
machen deutlich, dass Wagner dies nicht bloß im übertragenen Sinne meinte.
Felix Mendelssohn-Bartholdy, den der Dichter Detlev von Liliencron als
"Felix Mendelmaier" bespöttelte, erhielt von Wagner ebenfalls (unter
Pseudonym) eine journalistische Ohrfeige: Die Musik jüdischer Komponisten -
also auch die Musik Mendelssohns, ja diese im Besonderen - sei von Glätte,
perfektionistischer Kälte und leerer Formenhaftigkeit erfüllt.
Mendelssohn, der das fragwürdige Privileg besaß, ein "getaufter Jude" zu
sein (welch sprachlicher Unsinn!) und zudem den Vorteil genoss, aus
finanzstarkem Elternhaus zu stammen, machte zwar zu Lebzeiten seinem
Vornamen wie seinem Familiennamen alle Ehre (wobei er dessen jüdischen Teil
gegen den Willen seines Vaters beibehielt), doch Wagners böse Saat ging im
Kanon der deutschen Musikwissenschaft auf, sodass sein Werk Ende des 19.
Jahrhunderts nahezu aus dem nationalen Bewusstsein getilgt war. Den Rest
erledigten die Nazis per Dekret.
So dankte Deutschland dem Juden, der den genialen Johann Sebastian Bach dem
Vergessen entrissen und der deutschen Kultur zurückgegeben hatte.
Im Laufe der europäischen Geschichte waren die Juden aufgrund ihrer
schmerzhaften Erfahrungen aller nationalen Illusionen beraubt worden. So
musste ihnen zwangsläufig vaterländisches Pathos fragwürdig erscheinen.
Künstlerische und intellektuelle Herausforderung konnte also nicht die Hymne
sein, sondern der eher der Humor, der einerseits das Überleben erleichterte
und andererseits die Dinge ins rechte Licht rückte.
Kein Wunder also, dass sich der Deutsche Michel just in Zeiten nationaler
Euphorie, in denen Bierernst den gesunden Menschenverstand und völkische
Sentimentalität patriotische Gefühle ersetzten, von seinen jüdischen
Dichtern und Denkern, in welchen er im reinen Sinne des Wortes
vaterlandslosen Gesellen sah, aufs Schändlichste angegriffen fühlte.
Leider hatte sich auch nach 1945 in der deutschen Seele kein beeindruckender
Wandel vollzogen; mit schamloser Augenwischerei überzeugte Deutschland, das
über Nacht wieder in die Völkergemeinschaft zurückgeführt worden war, sich
selbst und, in den folgenden Jahren, auch den größten Teil der Welt von der
eigenen Zerknirschtheit und der prinzipiellen Unschuld am großen
"historischen Unfall".
Geschichtlich betrachtet hatte Deutschland die schlimmste Niederlage
erlitten, die einer Nation nur widerfahren kann: die -wenn auch
kurzfristige- Ächtung seines gesamten Volkes durch die Weltgemeinschaft.
Kulturpolitisch betrachtet hatte es den Krieg gewonnen, denn der
Reichspropagandaminister, dessen Gesetze im Theaterbereich teilweise heute
noch gelten (sic!), durfte posthum vollen Erfolg verbuchen: Die parasitären
Juden waren aus dem deutschen Kulturleben ausgemerzt worden. Goebbels Rede
vom 27.11.1936 in der Berliner Philharmonie, in welcher er triumphal
konstatieren durfte: "…Der früher oft gegen uns vorgebrachte Einwand, es
gäbe keine Möglichkeit, die Juden aus dem Kunst- und Kulturleben zu
beseitigen, weil deren zu viele seien und wir die leeren Plätze nicht neu
besetzen könnten, ist glänzend widerlegt worden.", hatte sich tatsächlich
erfüllt.
(Hierzu dringt sich mir ein fast drolliger historischer Vergleich auf: Nach
'45 taten sich die Alliierten Besatzer schwer, die von Nazis entleerten
Plätze in Verwaltung, Justiz und Kultur mit demokratisch gesinnten Deutschen
neu zu besetzen!)
Die "Stunde Null" stellte den Beginn einer neuen Ära in der deutschen
Kulturgeschichte dar: die Ära der Mittelmäßigkeit.
Die Creme der Kulturschaffenden, Juden wie Christen, hatten Deutschland
verlassen – lebend oder tot: Thomas und Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger,
Billy Wilder, Ernst Lubitsch, Albert Einstein, Sigmund Freud, Marlene
Dietrich, Willy Rosen, Richard Tauber, Otto Wallburg, Schalom Ben-Chorin,
Kurt Weil, Bruno Frank, Oskar Maria Graf, Erich Maria Remarque, Kurt
Tuchosky usw. usw. …
Was in Deutschland hatte bleiben wollen, war, mit wenigen Ausnahmen,
Mittelmaß.
Gerade im Bereich des Humors war Deutschland nach 1945 judenfrei. Der
spröde, trockene, der absurde Witz, der menschliche Schwächen augenzwinkernd
reflektierende Witz, das komische Sprachflorett, einst fester
dramaturgischer Bestandteil des deutschen Rundfunks, des deutschen
Kabaretts, der deutschen Bühne, des deutschen Films und der deutschen
Literatur, sie waren tot.
An seine Stelle trat altbackene Albernheit deutscher Nachkriegsklamotte. So
herzzerreißend armselig wie die Geschichtslüge von der legendären "Stunde
Null", mit der sich das angeblich neue Deutschland maskierte, um erneut die
Weltbühne zu betreten, so bedauernswert war auch der Zustand des deutschen
Humors. Seitdem herrscht in diesem Lande mit wenigen, dann jedoch
großartigen, Ausnahmen, ein teutonischer Witzersatz, der seinen
zweifelhaften Höhepunkt in den TV-Darbietungen junger "Comedians" gefunden
zu haben scheint.
Der Humor ist für Deutschland nach dem Holocaust ein Importartikel geworden,
da es vor 1945 seine jüdischen Humoristen zwangsweise und ohne Gewinn
exportierte respektive liquidierte. Seit der erlogenen "Stunde Null"
amüsiert sich das deutsche Publikum über jüdischen Humor (ohne es zu ahnen)
in Form amerikanischer Filmproduktionen ("Eins, zwei, drei" Billy Wilder)
und Fernsehserien ("Die Nanny" Fran Drescher), ohne recht zu wissen, dass es
über entartete Späße lacht, deren Urheber es noch vor 60 Jahren auszumerzen
galt. Doch es wurde im neuen Deutschland sogar über Humoristen gelacht,
deren jüdische Herkunft offensichtlich war. Als exemplarisches Beispiel sei
an dieser Stelle Ephraim Kishon angeführt, der jedoch, um die deutsche
Toleranz ein wenig ins rechte Licht zu rücken, nicht als Jude, sondern als
Israeli gehandelt wurde, was ihn, der moralischen Bequemlichkeit halber, vom
Opferstatus befreite, was wiederum der deutschen Volksseele sehr
entgegenkam. Seitdem ist man jedem jüdischen Faxenmacher dankbar, der die
deutsche Schuld am Genozid vergessen macht, indem er freiwillig jegliche
Erinnerung an den Holocaust meidet und sich lediglich am persönlichen
Medienerfolg interessiert zeigt.
Als Autor dieses Textes stütze ich meine Betrachtung nicht allein auf die
Recherche, vielmehr auf die Erfahrung als Leiter eines jüdischen Theaters:
Sobald ich Komödien aus eigener Feder aufführe, die mit Selbstironie:
Strenge, groteske Gefühlsbetontheit und Familiengläubigkeit des Judentums
persifliere, ernte ich stets großen Beifall und Anerkennung. Erzähle ich die
Geschichte eines "arischen" Mädchens, das in einem Jugend-KZ ihr Heimatland
zu hassen lernt, fragen mich besorgte oder zornige Lehrer, wo denn das
"versöhnende Element" bliebe.
Wie ich bereits ausführte, scheint mir der prägnante Anteil jüdischen
Geistes und jüdischer Kreativität innerhalb der deutschen Kultur von jeher
ein kaschierter gewesen zu sein, nie ein unverblümter. Noch heute gewinnt
der jüdische Künstler dort Anerkennung, wo er sich verleugnet, was ihm am
besten und unverdächtigsten gelingt, sobald er sich der Werkzeuge des Humors
bedient.
Es gab und es gibt genug jüdische Kulturschaffende, die sich zum Bajazzo
machen, nur um das selbstgefällige deutsche Publikum zu amüsieren, wobei sie
im schlimmsten Fall die eigene geistige und religiöse Herkunft denunzieren,
sei es nun bewusst oder unbewusst.
Das Buhlen um die Gunst des christlich geprägten Publikums einiger meiner
Kollegen von Film, TV und Bühne, die sich über ihre jüdische Provenienz
ausschweigen, erinnert mich oftmals an die trostlosen Versuche des jüdischen
Bürgertums im Zweiten Deutschen Reich, Erlösung und Frieden per
Assimilierung und Konversion zu finden.
Sobald die Kollegen sich, meist durch äußeren medialen Druck, zu erkennen
geben (müssen), präsentieren sie sich stets als moderate, nachsichtige,
verständnisvolle, aufgeschlossene und tolerante Staatsbürger, die dem Volk,
das ihren Eltern nach dem Leben trachtete und den Völkern, die ihnen heute
nach dem Leben trachten, diesem West-östlichen Diwan delikater Art
sozusagen, ein derart selbstmörderisches Verständnis entgegenbringen, das es
jedem aufrechten Juden grausen muss:
"Es gab auch das andere Deutschland!" heißt es erlösend. Natürlich gab es
das "andere Deutschland" – und?
Es liegt nahe, dass meine Kollegen sich vor dem schlechten Gewissen
fürchten, das sie den Deutschen des Massenmordes halber bereiten, wobei sie
wohl schon das eigene Überleben als Provokation einschätzen, was sie erneut
zu Gastsassen –im psychologischen Sinne- macht.
Doch bin ich der letzte, der sie hierfür verurteilen will.
Im Laufe der deutschen Geschichte haben sich schon ganz andere nach
Zugehörigkeit gesehnt und am christlich-abendländischen Katzentisch Platz
genommen. Die stete Hoffnung der Juden, irgendwann ein respektierter
Bestandteil jener Gesellschaft zu werden, die den Raum ihrer Heimat stellte,
war so verständlich, wie sie absurd war. Zudem erwies sich die Assimilierung
stets als ein schlechtes Geschäft, was jeden Antisemiten erstaunen lassen
sollte, der die Durchtriebenheit der jüdischen Rasse kolportiert:
Um welchen Preis verleugneten jüdische Künstler, Komponisten, Dichter und
Gelehrte ihren Glauben und ihre Tradition? Um einen Platz am Katzentisch –
wenn überhaupt!
Heinrich Heine, der über seine Konversion zum Protestantismus noch mit
optimistischen Witz vom "Entree-billet zur europäischen Kultur" sprach,
irrte sich gewaltig: Für die Gesellschaft seiner Zeit und für die Nachwelt
blieb er der Jud, den er in seinem Schabbat-Gedicht so hübsch beschrieben
hat. Nein, die Assimilierung war im Grunde ein miserables Geschäft und
eigentlich eine Art Vorwegnahme der jüdischen Zwangsverkäufe im Dritten
Reich.
Zumindest blieb in der Zeit während des Zweiten Reiches, in der sich auch
jüdische Künstler als kaiser- und staatstreu erwiesen, die gläubige Hoffnung
auf eine positive Entwicklung der deutschen Gesellschaft erhalten, nicht
unähnlich der Hoffnung auf die Ankunft des Messias. Geister wie Heine sahen
natürlich rasch ein, dass eine christliche Taufe zwar eine Eintrittskarte
ins deutsche Kulturleben darstellte, aber eben nur eine dritter Klasse. Am
Rande sei zu erwähnen, dass Heine in deutschen Schullesebüchern heute zwar
wieder zu finden ist, partiell sogar mehr von ihm als nur die ewige
"Loreley", nicht jedoch seine "Prinzessin Sabbat".
Selbst im Jahre 2007 wird die religiös-traditionelle Herkunft, die Heines
Witz, Boshaftigkeit und Gefühlstiefe bestimmt, nicht mit seinem Werk in
Verbindung gebracht … und somit verleugnet.
Der legendäre wie treffende Ausspruch des jüdischen Arztes Zwi Rix:
"Auschwitz werden uns die Deutschen nie verzeihen!" findet seine Bestätigung
auch im Bereich der Kultur: Da, wo sich das Judentum politisch-historisch
zur eigenen Sache äußert, da, wo es Deutschland auffordert, sich mit dem
eigenen, uneingestandenen Schuld-Trauma zu befassen und es nicht weiter zu
verdrängen, wird es brüsk zurückgewiesen, wird ihm Revanchismus und
Unversöhnlichkeit vorgehalten, wobei die vermeintlich Angegriffenen zum
Entwurf ihres Judenbildes drolligerweise jene Farbpalette wählen, derer sich
der deutsche Antisemit bereits seit jeher bediente.
Der literarische Archetyp Shylock drängt sich mir bei diesem Vergleich auf.
Martin Walser attackierte Ignaz Bubis sel.A. auf derart perfide Weise, dass
es ihm gelang, dem Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland
vor der dummen, breiten Öffentlichkeit die Shylockmaske überzustülpen, als
ewig rachsüchtigen, den naiven Christen marternden Juden, der nicht nur Gott
ans Kreuz geschlagen hat, sondern der den geläuterten, verständigen
Deutschen, der seinen besten Willen zeigt, ein ewiges schlechtes Gewissen
bereiten will, wobei das eine wie das andere ist, sich bedingt und
bestätigt.
Martin Walser hat es uns bewiesen: Der ewige Jude Ahasver trachtet der
zivilisierten Menschheit nach Glück und Leben. Aber er hat es nicht
expressis verbis formuliert. Dies ist wohl seiner Bauernschläue
zuzuschreiben und seiner, wenn auch fragwürdigen, Kunstfertigkeit im Bereich
des Schrifttums.
Von Martin Walser lässt sich übrigens eine delikate Brücke zur legendären
"Gruppe 47" schlagen, der einige Noch- oder Nicht-mehr- oder
Nicht-mehr-ganz-Nazis angehörten.
Eine ihrer ersten großen Kulturtaten, die jene vielversprechenden
Aufbaudichter eines neuen Deutschlands vollbrachten, galt einem Juden, der
sich törichterweise nicht verleugnete, sondern sein Schicksal und das aller
Juden Europas thematisierte. Der Jude hieß Paul Celan, sein Gedicht heißt
die Todesfuge, und die große Kulturtat nach der Stunde Null, mit der die
"Gruppe 47" sich hervorzutun befleißigte, war ein großes Lachen.
Sie lachte Paul Celan aus. Sie lachte seine Todesfuge aus. – Was lässt sich
dazu sagen? Fragen Sie Günter Grass!
Ingeborg Bachmann, eine der wenigen Frauen dieses "literarischen Zirkels",
fühlte sich 1952 so, als sei sie "unter deutsche Nazis gefallen". Der
israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk, der mit Günter Grass einen
vehementen Streit über das im ersten Golfkrieg (vom Irak) eingesetzte
deutsche Gas (sic!) führte, kritisiert die Versäumnisse deutscher
Schriftsteller folgendermaßen: "Ich glaube, dass die Vertreter dieser
Generation die Juden nicht wirklich vermissen. Sie schreiben wundervolle
Bücher über Deutschland, aber es ist ein judenreines Deutschland. Das begann
in den 50er Jahren und dauert bis heute an." – Übrigens ist der Kontakt
zwischen Kaniuk und Grass seit diesem Streit abgerissen.
Da also, wo der Jude als Jude sich zu erkennen gab und Anteil nehmen wollte
an ernsthafter Zeitanalyse und Kulturarbeit, mit den Mitteln, deren
Anwendung er während seiner tragischen Geschichte in Europa hatte erlernen
müssen, explizite: die scharfe Analyse, die unverblümte Kritik, die Frage
als Prinzip und als Gegengewicht: die Vision vom allgemeinen Wohl, da also,
wo der Jude als Jude sich unverhohlen gab, wies man ihn zurück; es war so
1947, 1987 und 2007!
Und jeder anständige Deutsche muss nun gegen meine Feststellung opponieren,
da er sich doch, wie fast die gesamte Nation, auf die Fahnen geschrieben
hat, ein verständiger, toleranter Geist zu sein, der das Leid seiner
ehemaligen Untermenschen versteht und deren Wesen dazu und obendrein deren
Religion.
Und jeder Jude, der seine gute Absicht anzweifelt, sei ein undankbarer
Geselle, der den Deutschen an die Seele wolle! – Ein Jud eben!
Als kleines Beiseite: In der Humanmedizin nennt man ein derartiges Phänomen
einen Circulus vitiosus (den man an irgendeiner Stelle unterbrechen sollte,
so man wollte).
Dort, wo der Jude allerdings seine rachsüchtige, unzeitgemäße Religion,
seine weltfremden Zeitheilungsvisionen im Verborgenen hält, da wird er
gelitten oder geschätzt (außer man wittert gerade darin seine Perfidie).
Kaschiert der jüdische Künstler sein Judentum, mutmaßt der Deutsche nämlich
seine seelisch-moralische Bindungslosigkeit, bestenfalls die Abkehr von der
Religion seiner Väter. Somit ist er Freiwild und steht der öffentlichen
Meinung zum Abschuss frei.
Michel Friedmann ist nicht von der Presse niedergestreckt worden, weil er
als kritischer und streitbarer Geist, das moralische Richtschwert
schwingend, seinen TV-Gesprächspartnern deren verlogene Phrasen, verquere
Denkpositionen oder geistige Flachheiten vorführte und sich plötzlich als
ein geiler Bock entpuppte, der es gern mit minderjährigen, osteuropäischen
Zwangsprostituierten treibt; nein, er wurde von der öffentlichen Meinung
enthauptet, weil er ein hochrangiger Störenfried war, der ein sich
unverschämt erstarkendes Judentum repräsentierte (das die Großväter doch
fast ausgelöscht hatten). Dieser Friedmann erlaubte sich, die adorable
deutsche Prominenz in aller Öffentlichkeit bloßzustellen und privat seinen
schmutzigen Lüstchen nachzujagen. Das hätte er sich als Manager der
Deutschen Bank erlauben dürfen, nicht aber als lästiger Einkläger deutscher
Scham. Da durfte sich der brave deutsche Biedermann um sein Mitleid mit
6.000.000 toten Juden betrogen fühlen; da freute sich der stets aufmerksame,
brave Antisemit, dass ihm die Judensau so willig ins Messer gelaufen kam und
er endlich wieder ein zünftiges Schlachtfest feiern durfte.
Die schmerzhafte Selbstanklage und demütigende Entschuldigung des Juden
Friedmann hätte kein Deutscher christlicher Prägung fertig gebracht; aber es
hätte auch niemand von ihm verlangt oder erwartet.
Wie sich Herr Friedmann -seiner Rolle gemäß- vor aller Augen in der Suhle
seiner Schande wand und um Gnade flehte, genoss die arische Öffentlichkeit
mit großer Genugtuung, zumal sie sich außerdem an der Entwertung der von ihr
selbst erfundenen Moralinstanz weiden durfte, die sie den Juden aus
uneingestandenem Schuldgefühl nach der Shoah immer wieder zugewiesen und
vorgeworfen hatte.
Ich bin mir sicher: einem Deutschen christlicher Prägung wäre durch die
Öffentlichkeit, in Ermangelung des hämischen Genusses, kein Prozess dieser
Art gemacht worden.
Der Fall Friedmann war ein Fest für den antisemitischen Teil der deutschen
Gesellschaft, die jeglichen Einfluss jüdischen Geistes auf die deutsche
Kultur zu tilgen sich befleißigt.
Doch welcher Einfluss ist hier gemeint? Ist es die vom Christentum
adaptierte jüdische Moralphilosophie? Ist es die Idee von der Verantwortung
des Einzelnen als soziales Wesen gegenüber der Gesellschaft? Ist es die
messianische Perspektive, die jegliche Menschheitsvision einer "besseren
Welt" erst möglich macht? Sind es die Gedanken von Maimonides, Freud,
Einstein, Marx, Heine, Börne?
Wie nun sieht dieser oft beschworene "jüdische Einfluss" aus? Anders
gefragt: Wie sieht das Vorurteil der meisten Deutschen christlicher Prägung
von dieser jüdischen Einflussnahme aus? Jedes antisemitische Vorurteil,
meine ich, basiert auf der Legende vom rachsüchtigen Juden, den Christus,
der neue Gott, in den Staub getreten hat. So vom Messias abgewiesen, neide
er den Christen ihr Heil!
Unzählige Male in den Staub getreten, durch die Jahrhunderte – was kann man
von einem Juden anderes erwarten als Rache? Shylock schreit es heraus:
Rache! Rache! Rache!
Kortner hat es herausgeschrien.
Und wenn der Rachedurst nicht herausgeschrien werden darf, weil die
politischen Verhältnisse dem Juden nicht opportun sind, da sie ihn, als
Opfer, zum lästigen Gläubiger machen, der eine längst verjährte Schuld
einzutreiben nicht müde wird, eine Schuld übrigens, deren Währung man nicht
mehr handelt, dann greift der schlaue Jud zu anderen Mitteln: Er beginnt
Gesellschaftskritik zu üben im und am Lande, das ihn als Gastsasse duldet.
Er kritisiert außerhalb der erlaubten rhetorischen Normen politischer
Verständigung. Er erlaubt es sich, die Dinge beim Namen zu nennen, und damit
beleidigt er unsere Feigheit. Und wahrlich, es gibt nichts Erniedrigenderes,
als unsere Feigheit zu beleidigen!
Als ich das "Theater Schachar" gründete, hatte ich drei Dinge im Sinn: Zum
ersten wollte ich der deutschen Gesellschaft einen kleinen Teil dessen
erstatten, wessen sie sich selbst beraubt hatte, nämlich jüdische
Theaterkultur im weitesten Sinne; zum anderen lag mir sehr daran, einen
öffentlichen Raum jüdischer Kunst zu schaffen, der sich unabhängig von der
Gemeinde oder anderen jüdischen Institutionen präsentierte. Drittens wollte
ich Juden und Deutschen christlicher Prägung einen ebensolchen "neutralen"
Raum der Begegnung und des geistigen Austausches einrichten.
Jüdische Schauspieler, Regisseure, Musiker, Sängerinnen, Schriftsteller aus
Deutschland, Österreich, Spanien, Russland, der Ukraine, Israel und den USA
gastierten seitdem im kleinen "Theater Schachar". Das christlich geprägte
Publikum zeigte sich durchweg begeistert, das jüdische Publikum teils recht
furchtsam, da es bis heute gewohnt ist, Kulturveranstaltungen meistenteils
in den jüdischen Gemeinden und damit nahezu "unter sich" zu erleben. Das ein
Jude die Chuzpe hatte, jüdische Kultur schamlos in der Öffentlichkeit zu
präsentieren, stieß nicht nur auf Anerkennung. So gab es von jüdischer Seite
her einerseits viel Lob, andererseits aber auch ernstzunehmende
Anfeindungen, die uns als Theaterschaffende das Leben schwer machten.
Juden wie Nichtjuden erwarteten Unterschiedliches von unserem Theater, aber
allesamt erwarteten sie etwas! Die einen verlangten nach Folklore und
Tradition, die anderen nach jiddischen Komödien und Klezmermusik, dritte
forderten antifaschistische Agitation sowie überwiegend politische
Inhalte, etc.
In der Tat bot das Schachar dem Hamburger Publikum acht Jahre lang ein
äußerst abwechslungsreiches Programm, ohne sich dem Diktat der
Öffentlichkeit zu beugen: Schauspiele, klassische und volkstümliche
Konzerte, Lesungen und Veranstaltungen zu verschiedenen jüdischen Feiertagen
fanden in unserem kleinen Hause statt, was ihm eine Menge Achtung und
Beachtung einbrachte, - aber auch nur dies.
Die politischen Parteien, die Behörden, die Presse, die Wirtschaft, das
Publikum, allesamt waren sie sich einig: das erste jüdische
Privattheater-Projekt in Deutschland nach 1945 galt es unbedingt finanziell
und ideell zu fördern. Zu unserem Bedauern erwartete wohl jeder vom anderen
die tatkräftige Unterstützung, die er selbst zu erbringen nicht willens war.
Zumindest befriedigte dieser sich bis zur Lächerlichkeit wiederholende
Zustand alle Beteiligten, da er ihre guten Absichten manifestierte - außer
uns.
Um nicht die Nerven und meinen Optimismus zu verlieren, tat ich, was unserer
jüdischen Seele eigen ist: ich suchte verzweifelt nach dem Humor in der
ganzen Katastrophe. Und tatsächlich wollte es mir temporär gelingen, dem
oben erwähnten Zustand eine gewisse Tragikomik abzugewinnen.
Als ich jedoch auf Behördenebene und hinter der Hand erfuhr, wie negativ
bestimmte Kreise in der Hamburger Politik unserem Theater gegenüberstanden,
und als ich zusätzlich einen anonymen Drohbrief (nebst einer Doppelpackung
Präservative erster Qualität) erhielt, des Inhaltes, ich möge doch das
Hamburger Publikum mit meinem Jugend-KZ-Drama "Die Hölle der Mädchen"
verschonen und die mitgelieferten Präservative zur endgültigen Beendigung
meiner Fortpflanzungslinie verwenden, da allerdings verließ mich auch mein
jüdischer Humor und ich verschloss der Stadt Hamburg unser Theaterportal.
Seitdem gastiert das umbenannte "Studio Schachar" erfolgreich in Bayern,
Niedersachsen, Bremen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern.
Als ich vor Jahren die zuständige Mitarbeiterin in der Hamburger
Kulturbehörde, in der Tat mit rhetorischen Hintergedanken, fragte, ob die
Stadt Hamburg überhaupt ein jüdisches Theater "haben wolle", wobei ich mich
bewusst dieser kindlichen Formulierung bediente, war ihre Antwort ein
minutenlanges Schweigen.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde mir bewusst, dass meine Annahme, die
Deutschen christlicher Prägung sehnten sich nach einer Reanimierung
jüdischer Kultur innerhalb ihrer Gesellschaft, nicht mehr als eine
romantische Illusion darstellte.
Angeblich strebt die deutsche Gesellschaft eine Normalität zwischen sich und
den Juden an. Meine Idee, hierzu den Weg der Begegnung, des gemeinsamen
emotionalen Kulturerlebnisses zu wählen, wurde von Politik und Wirtschaft
nicht unterstützt.
Es ist interessant festzustellen, dass weder der nichtjüdischen noch der
jüdischen Seite an der Umsetzung meines größten Wunsches gelegen ist: die
erneute Bereicherung deutscher Kultur mit jüdischem Geist.
In den Jahren zwischen 1933 bis 1945 hat Deutschland sich selbst die
schlimmsten Wunden geschlagen, die sich eine Nation in rauschhafter
Untergangslust nur zufügen kann. Wissend um das eigene Tun amputierte es
sich selbst, den unverzichtbaren jüdischen Anteil seiner Seele. Um diesen
neu erstehen zu lassen, bedarf es keines "Stelenfeldes" und keiner
"Gedenksteine", sondern der Förderung lebendiger jüdischer Kultur.
Diesmal nun also verlangt Shylock nicht zurück, was ihm gehört; im
Gegenteil: diesmal wünscht er zu verschenken, was ihm gehört!
Kultur in Hamburg:
Das
Theater Schachar
Das Theater Schachar wurde
1998 gegründet. Es ist das erste professionelle jüdische Theater in
Deutschland (nach dem Holocaust). Im Raum Norddeutschland ist das Theater
Schachar das einzige jüdische Theater... |