Die Lage ist festgefahrener und explosiver denn je:
Palästinensische Autonomiegebiete vor dem Bürgerkrieg
Ulrich W. Sahm, Jerusalem, 4. Oktober 2006: Blindwütig
schoss der junge Mann in gescheckter Uniform um sich. Passanten rannten um
ihr Leben. Händler rissen die Rolläden runter. Andere Uniformierte gingen in
Deckung hinter Betonklötzen. Inzwischen eine alltägliche Szene nicht nur im
Gazastreifen.
Diese Runde der Gewalt hatte am "schwarzen Sonntag" mit einem Streik der
Fatah-nahen Polizisten unter dem Befehl des Präsidenten Mahmoud Abbas
begonnen. In alter Manier der seit über einem Jahr verschwundenen
israelischen Besatzer blockierten sie die Hauptverkehrsader vom Norden des
Gazastreifens in den Süden und zerstückelten so den nur etwa 10 Kilometer
breiten Landstreifen zwischen Mittelmeer und der hermetisch abgeriegelten
Grenze zu Israel in drei Teile. Seit Monaten haben die "Ordnungshüter" keine
Gehälter mehr gesehen. Die Fatah-Anhänger machten die Hamas-Regierung dafür
verantwortlich, weil sie mit ihrem sturen ideologischen Kurs jede Chance auf
eine baldige Erneuerung der Finanzhilfe aus dem Ausland verbaute. Hinzu kam
die Entführung eines israelischen Soldaten im Juni durch eine unbekannte
Fraktion der Hamas, was wiederum die Spannungen mit Israel verschärfte.
Zudem fliegen fast täglich hausgemachte Raketen vom Gazastreifen auf
israelische Ortschaften, woraufhin Israel mit Luftwaffe und Panzern immer
wieder in den Gazastreifen eindringt, Waffenwerkstätten bombardiert oder
Extremisten gezielt tötet.
Seit den Wahlen im Januar, als die islamistischen Extremisten der Hamas die
seit 40 Jahren regierende Fatah wegen haarsträubender Korruption in die
Opposition gezwungen hatte, verweigert Israel die Überweisung hunderter
Millionen Dollar Steuereinnahmen, die eigentlich der Autonomiebehörde
zustehen. Doch nicht nur die ausbleibende ausländische Subventionierung der
Autonomiebehörde und so die ausgebliebenden Gehälter der insgesamt 160.000
Staatsbediensteten brachte die Menschen im Gazastreifen an den Rand einer
von internationalen Hilfsorganisationen seit März verkündeten "drohenden
Hungersnot". Inzwischen ist Oktober und noch ist niemand verhungert.
Gleichwohl ist das Warenangebot schmaler geworden, denn alle Grenzübergänge
sind seit Monaten gesperrt. Nur mal für ein paar Stunden oder bestenfalls
zwei Tage lang wird die Grenze nach Ägypten bei Rafah geöffnet oder der
Warenterminal Karni bei Sadschaijeh. Alle paar Tage entdecken die Israelis
nahe dem Terminal Tunnels, durch die Sprengstoff unter den Terminal gebracht
werden soll, um die Lebensader für die Bewohner des Gazastreifens mitsamt
ein paar dort arbeiteten Israelis in die Luft zu sprengen. Doch solange
Karni zu ist, fließen weder Mehl noch Zement und andere Waren nach Gaza. Und
im Gazastreifen produziertes Gemüse kann nicht exportiert werden. Die
Wirtschaft kommt zum Erliegen.
Die regierende Hamas wollte sich die Provokation der aufständischen
Polizisten nicht bieten lassen. Innenminister Siad Siam beorderte die
Hamas-eigene Sicherheitstruppe auf die Straße, um die "Ordnung" wieder
herzustellen. Schießtiraden zwischen den verfeindeten, schwerbewaffneten
Männer ließen nicht lange auf sich warten. Der Präsident und der
Hamas-Regierungschef Ismail Hanije riefen zur Ruhe auf. "Was schießt Ihr
aufeinander?" fragte ein Hamas-Politiker. "Es wäre besser, die Waffen gegen
Israel zu richten." Die palästinensische Menschenrechtsorganisation PHRMC
zählte seit Sonntag 14 Tote bei den Zusammenstößen, die meisten im
Gazastreifen. In Jericho wurde ein Kellner durch eine "verirrte Kugel"
getötet, in Kalkilja ermordeten Fatah-Leute einen Hamas-Mann aus "Rache".
Während seit Wochen die Verhandlungen über eine "Einheitsregierung" der
Fatah und Hamas zwischen Fortschritten, Rückschlägen, einer Rückkehr zum
Nullpunkt und einem baldigen Abschluss schwanken, wird gleichzeitig von
einem drohenden Bürgerkrieg geredet. Die Fatah will sich mit ihrer
Entmachtung durch die Wahlen nicht abfinden. Die Hamas erweist sich unfähig,
die Verwaltung in den Griff zu bekommen, zumal das ohne Geld nicht
funktionieren kann. Und so sind auch die Bemühungen um eine
Einheitsregierung vor Allem ein verzweifelter Versuch der Fatah den
Wahlausgang rückgängig zu machen und der Hamas, wieder die Hilfsgelder aus
dem Ausland fließen zu lassen, ohne zu politischen Konzessionen gezwungen zu
werden.
Fatah-Chef Abbas glaubt, seine Position durch Verhandlungen mit Israel
stärken zu können, obgleich er keine Macht hätte, auch nur das geringste
Verhandlungsergebnis gegen den Willen der Hamas durchzusetzen, solange er es
nicht einmal schafft, seine eigenen Kämpfer davon abzuhalten, die Gebäude
des Ministerrats und des Parlaments in Ramallah in Brand zu setzen oder die
Residenzen von Hamasministern zu attackieren. So beteiligt sich Abbas sogar
an der Erpressung Israels, im Tausch für den von der Hamas entführten
Soldaten Gilad Schalit möglichst viele palästinensische Gefangene
freizubekommen. Dabei wissen angeblich weder Abbas noch Hanije, wer den
Soldaten hält und wo er versteckt ist. Bei aller Zuversicht über
Verhandlungen "ohne Vorbedingungen" (Abbas) mit Israel und der Hoffnung auf
einen baldigen Gefangenenaustausch, wirkt die Lage zur Zeit festgefahrener
und explosiver denn je.
(Ulrich W. Sahm, hagalil.com)
Inner-palästinensische Gewalt:
Al-Aksa-Brigaden drohen, Hamasführer Meshal zu töten
Am Dienstag drohten bewaffnete Fatahmänner damit,
Führer der regierenden Hamasgruppe zu töten. Damit eskalierte ein
Machtkampf, der von der schlimmsten inner-palästinensischen Gewalt seit der
Gründung der palästinensischen Autonomiebehörde im Jahr 1994 markiert ist... |