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Europäischer Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart:
Die These von der Jüdischen Weltverschwörung

Von Johannes Heil
Vortrag in Mannheim 14. 7. 06

Auf dem Jüdischen Friedhof in Prag treffen sich einmal in hundert Jahren zu einer ausgemachten Stunde die Vertreter der zwölf Stämme Israels und beraten über das mittelfristige Vorgehen auf dem Weg zur gänzlichen Beherrschung der Welt. Dieses Mal rechnen sie das Kapital zusammen, über das Israel in London, Paris, Amsterdam und Frankfurt verfügt; sie besprechen, was zu Verarmung von Handwerk und Bauern, was zur Herabsetzung des Militärs und was zur weiteren Spaltung der Kirchen und zur Entfaltung des zersetzenden liberalen Geistes zu tun sei. "Achtzehn Jahrhunderte haben unseren Feinden gehört - das neue Jahrhundert gehört Israel" - heißt es im Verlauf der Besprechung. (1)

Das hier ist einige Jahre älter als die sog. "Protokolle der Weisen von Zion", an die man zuerst beim Stichwort Weltverschwörung denken mag. Diese Protokolle eines angeblich stattgehabten Treffens stehen im Hintergrund meines Vortrags. Ich will aber zeigen, dass das Motiv wesentlich älter ist, Hinweise auf sein Funktionieren geben und auch erklären, warum die mittlerweile selbst vergilbten Protokolle als Textur heute noch immer funktionieren, in allerlei Übersetzungen, unter Ladentheken und im Internet.

Natürlich ist der Text, den ich eingangs vorgetragen habe, eine Fiktion, und der Verfasser hat das auch gar nicht verbergen wollen. Die Szene "Auf dem Judenkirchhof in Prag" ist Teil eines mehrbändigen und heute kaum mehr bekannten Romans mit dem Titel "Biarritz", den Herrmann Goedsche = Sir John Retcliff 1886 veröffentlichte.

Die böse Szene war deutlich als Fiktion gekennzeichnet, aber war sie deswegen irreal? Merkwürdig stimmt, daß ihr ein Interesse zuteil wurde, das Romanen sonst selten widerfährt. Der Text kursierte bald als Separatdruck und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Offenbar korrespondierte Goedsches Fiktion mit einem Wissen von der Realität, in der der Roman zur Realmetapher werden konnte und als erfundener Stoff etwas über Wirklichkeit erzählte.

Um solch imaginierte Wirklichkeit soll es im folgenden gehen.

Wir können mit gutem Recht solche Vorstellungen als Phantasmen abtun; das hilft aber wenig, wenn man sie verstehen will. Für die, die sie denken, sind sie Wirklichkeit, ganz gleich, ob sie als Roman, als "Protokolle" oder als Nachrichtenmeldung daherkommen. Zum Verständnis will ich einen Sprung um mehrere Jahrhunderte zurück unternehmen, ins England des 12. Jahrhunderts.

Nach Thomas von Monmouth berichtete ein Jude, der sich bekehrt hatte und in den Mönchsstand eingetreten war, von jährlichen Treffen der "Fürsten und Rabbiner" der Juden aus Spanien in Narbonne, der Stadt, "wo ihr königlicher Same und ihr Ruhm am meisten gelten." Ziel des Treffens sei "wie von alters her bestimmt die Verhöhnung und Schmähung Christi." Und weil sie "ohne menschliches Blut weder Freiheit erlangen noch dereinst in das Land ihrer Väter zurückkehren können", bestimmen sie bei ihrem Konzil in Narbonne das Ritualmordopfer des kommenden Jahres, indem "sie jede Landschaft, in der Juden leben, auf einem Los notieren" und dann das Los über die Region bestimmen lassen, aus der das jeweilige Opfer kommen sollte. (2)

Tatsächlich handelt es sich hier um die Vorstellung von einer weltweiten, jedes Jahr eine andere Region betreffenden Verschwörung. Damit ähnelt, was der fromme Kirchenmann des 12. Jahrhunderts wußte, der Fiktion in Goedsches 600 Jahre jüngeren Roman. Goedsche bereitet also nur altes Wissen neu auf, und dabei ist es sogar einerlei, ob er sich dessen bewußt war: Ob er (was zu bezweifeln ist) Texte nach Art des englischen Thomas kannte oder ob er seinen Entwurf tatsächlich für originell hielt.

Die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Texten sind auffällig, ebenso, wenn man genauer hinschaut, auch die Differenzen. Thomas von Monmouth's Text zeigt, daß die mittelalterliche Version der Weltverschwörung über Legenden vom rituellen Mord (Passions-Imitation), von der Hostienschändung und vom Giftanschlag transportiert wurde. Bei Goedsche geht es nicht mehr um Heiliges und auch nicht um Gift, sondern um Einfluß und Geld. Beiden geht es aber um Macht und ihre Gewinnung – an diesem Punkt wird die Kontinuität zwischen altem und neuem Verschwörungsdenken fassbar, und eben auch das Alter dieser Vorstellung.

Das nämlich scheinen mir die jene, die sich mit Verschwörungsvorstellungen im 20. und 21. Jahrhundert befassen, zu wenig zu beachten. Die sog. "Protokolle der Weisen von Zion" ziehen alle Aufmerksamkeit der Forschung auf sich, weil sie, wiewohl selbst längst Geschichte geworden und als ziemlich plumpe Fälschung entlarvt, auch heute gelesen und geglaubt werden. Und sie werden, mit neuen Eckdaten versehen, fortgeschrieben. Das heißt dann "Zionismus" oder auch "Globalisierung". Die dahinterstehende Vorstellung ist mit den "Protokollen" aber nicht erst geboren worden, und die vermeintliche "Idealform" moderner Judenfeindschaft ist tatsächlich ein alter Hut.

Betrachten wir, um das Funktionieren von Verschwörungsvorstellungen und ihre Attraktivität zu verstehen, zunächst aber weiter die "Protokolle", ursprünglich ein Produkt der zaristischen Geheimpolizei, und das Umfeld, in dem sie in Deutschland rezipiert wurden. Die Niederlage Deutschlands von 1918 provozierte bekanntermaßen Fragen nach Verantwortlichkeiten und Schuldigen. Man meinte, daß "etwas" nicht mit rechten Dingen zugegangen
sei. Dieses "Etwas" galt es einzugrenzen. Die Aussage "im Felde ungeschlagen" provozierte im nächsten Schritt die Frage, wer dem Heer den entscheidenden Schlag versetzt habe. War es nicht der Gegner im offenen Kampf, dann blieb nur der unsichtbare, innere Gegner übrig.

Die in Bromberg erscheinende völkische "Ostdeutsche Rundschau" analysierte am 25. Juni 1919 geradezu archetypisch: "Die Juden haben unseren Siegeslauf gehemmt und uns um die Früchte unserer Siege betrogen. Die Juden haben die Axt an die Throne gelegt und die monarchische Verfassung in Stücke geschlagen. Die Juden haben die innere Front und dadurch auch die äußere zermürbt. Die Juden haben unseren Mittelstand zermürbt, den Wucher wie eine Pest verbreitet, die Städte gegen das Land, die Arbeiter gegen den Staat und [das] Vaterland aufgehetzt. Die Juden haben uns die Revolution gebracht, und wenn wir jetzt nach dem verlorenen Krieg auch noch den Frieden verlieren, so hat Juda sein gerüttelt Maß von Schuld." Die "Protokolle", eben in diesen Jahren in deutscher Übersetzung erschienen, fielen also auf einen schon vorbereiteten Boden.

Woher aber wußte die Bromberger Zeitung, was sie wußte? Anders gefragt: Warum kam man, als in England 1144 eine Kinderleiche gefunden wurde, auf die Idee, daß das etwas mit einem Treffen von Juden in Narbonne zu tun haben müßte? Beiden Narrativen ist gemeinsam, daß sie in erklärungsbedürftigen Situationen Erklärungen anboten, die die Ursache des zu Erklärenden nach außen verlegten. Die Verschwörungsvorstellung dient also der Füllung von Wissens- und Erklärungslücken. Eigentlich Unzusammenhängendes oder Unerklärliches wird durch sie zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefügt. Die irritierende Perfektion des Anschlags auf das WTC im September 2001 gibt dann den Hinweis auf die eigentlichen Hintermänner, den israelischen Mossad, der doch alleine in der Lage ist, solch komplizierte Aktionen auszuführen.

Damit ist eine wesentliche Bedingung der Verschwörungsvorstellung beschrieben: sie darf nicht phantastisch, sondern muß plausibel sein; sie hebt Widersprüche auf, die andere Erklärungen nicht ausräumen können. Sie erscheint also herkömmlichen Erklärungen in ihrer Stringenz überlegen. Zu den Erfolgsbedingungen der Verschwörungsthese zählt weiters, daß sie hinsichtlich ihrer Zielbeschreibung stimmig und erkenntnismehrend sein muß. Die Geschichte von der Rabbinerversammlung in Narbonne kann nur überzeugen, wenn sie mit einem plausiblen Ziel ausgestattet wird; hier ist es der Bedarf der Juden an christlichem Blut als Voraussetzung zur Heimkehr in ihr Land (das klingt phantastisch, ist aber im Zeithorizont betrachtet plausibel).

Die Mossad-Variante zur WTC-Attacke überzeugt, weil sich ein plausibles Ziel erkennen läßt: Die Juden haben die angeblichen arabischen Täter entführt, um die arabische Welt mit der angeblichen Tat zu diskreditieren und weiter zu demütigen.

So verhielt es sich auch mit dem Ausbruch der Vogelgrippe in Anatolien im vergangenen Winter. Sie sollte ein europäisch-amerikanischer Sabotageakt gewesen sein, um das Engagement der Türkei im Nahen Osten zu behindern und die Öffentlichkeit auf innere Angelegenheiten zu lenken (FAZ 16.1. 06). Und auch der jugoslawische Volksheld Slobodan Milosevic ist in Den Haag ermordet wurden – so wenigstens weiß es Jürgen Elsässer, der für die "Junge Welt" arbeitet (Der Spiegel, 10. 7. 06).

Die Weltverschwörungsvorstellung von 1919 überzeugte, weil damit das Geschehen in einen größeren, geradezu kosmischen Zusammenhang eingeordnet werden konnte: Die Niederlage Deutschlands erschien so gerade einmal als ein Element unter vielen anderen; die jüdische Weltverschwörung war die Klammer zwischen eigentlich unvereinbaren, aber gleichzeitigen Phänomenen: dem Sturz der Monarchien, dem Erstarken der Arbeiterbewegung, der Ausbreitung des Kapitalismus, etc.

Bis hier habe ich an alten und neuen Beispielen etwas über das Funktionieren der Verschwörungserzählung gesagt; nun will ich mich mit ihrer Entstehung befassen. Dazu gehe ich zeitlich wieder ein großes Stück zurück.

Der Chronist Ademar von Chabannes liefert den Bericht von einem Karfreitag um das Jahr 1018: Nach der Kreuzverehrung, also zum Höhepunkt der Karfreitagsliturgie, erbebte in Rom die Erde und erhob sich ein kräftiger Sturm, denn die Juden verspotteten zur selben Stunde in ihrer Synagoge die "Figur des Gekreuzigten." Der Papst, Benedikt VIII., schritt unverzüglich ein und ließ die Schuldigen enthaupten, woraufhin der Sturm sich legte. (3) Daß das Geschehen in seinem geschilderten Ablauf kaum Zeit hatte, sich abzuspielen, muß hier nicht interessieren.

In erzählerischer Hinsicht berichtet Ademar den Verlauf eines angeblichen Geschehens, der Form nach bietet er eine Mirakelerzählung: das römische Karfreitagsgeschehen sollte als typisches Geschehen erscheinen, das die gegebene Heilskonkurrenz abbildete und die Überlegenheit der christlichen Seite in Szene setzte.

Effektsteigernd erscheint die Wahl des Zeitpunkts, der Karfreitag, der als Moment besonders drastischer Aktualisierung jüdischer Christenfeindlichkeit auch in den (allerdings erst einige Jahrzehnte später aufkommenden) Erzählungen vom jüdischen Ritualmord wieder begegnet. Das Handeln der Juden zielt mit dem Angriff auf das Kreuz ganz direkt in das Zentrum der sakralen Sphäre des Christentums.

Dabei schrieb Ademar dem Handeln der Juden eine ausgesprochen hohe Wirksamkeit und eine gefährliche, jedoch nicht diesseitige, sondern übernatürliche und dämonengleiche Kraft zu: auf ihr Handeln hin erbebte die Erde, der Dramatik nach eine Antwort Gottes auf die Verhöhnung des Kreuzes, der Sache nach eine kosmische Reaktion auf menschliches Handeln in der Welt.

Die Tat der Juden gehörte für Ademar demnach in einen weiteren, höheren und letztlich transzendenten Zusammenhang, in dem die Juden als Mächte gleichsam "nicht von dieser Welt" auftraten. Sie wurden nicht als soziale Gruppe, sondern als gewichtige (negative) heilsgeschichtliche Größe wahrgenommen.

Wird schließlich - und hier erweist sich der grausame Bericht geradezu als Parabel - die Ursache des Geschehens abgestellt, so legen sich folgerichtig Sturm und Erdbeben wieder. Das Geschehen in Ademars Version ist noch ganz am Himmel aufgehängt, aber – und dies ist bemerkenswert – es wird durch das Handeln in der Welt aufgehalten.

Es handelt sich hier aber nicht um ein Geschehen in der Welt, bei dem die Juden, wie später auf dem Prager Friedhof oder anläßlich der protokollierten Versammlung der Weisen von Zion, auf eigene Fast und Rechnung agieren. Die Juden sind hier teil eines gottbestimmten, heilsgeschichtlichen Geschehens; dort freilich spielen sie eine wenigstens für moderne Ohren erschreckend negativ gezeichnete Rolle.

Das war aber (fast) der Normalfall. Was in den biblischen Schriften nur bedingt angelegt war (Dan., 2. Thess, 2. Joh., Apk), wurde seit dem 7. Jahrhundert von griechischen und lateinischen Autoren zu einem Gesamtbild zusammengefügt: Zu einer "Vita Antichristi", der sich im Tempel niederlassen und beschneiden lassen würde und dem die Juden als vermeintlichem Messias zuströmen würden.(4) Die danach vielfältig belegte Zuordnung der Juden zum endzeitlichen Geschehen und zum Wirken des Antichristen kann als Verschwörungsszenarium par excellence, zumal von kosmischer Dimension, verstanden werden.

Das erinnert in manchem an moderne Vorstellungen, nur bezeichnen Endzeit und Antichrist hier eine kosmisch-sakrale Komponente, die in modernen Versionen weitgehend verloren gegangen ist. Man sollte dann annehmen, dieses Charakteristikum sei mit der allmählichen Entzauberung der Welt in der Moderne verloren gegangen. Denn Endzeit- und Antichristangst haben sich ja irgendwo auf dem langen Weg in die Moderne erledigt. Die Gruppen, die sich ihnen noch heute hingegeben, weisen schon mit ihren Namen auf Randständigkeit hin.

Dann hätte sich auch die mittelalterliche Verschwörungsversion erledigt haben müssen. Das aber hat sie nicht, wie das Vorkommen der Juden in fast allen modernen Versionen von der Weltverschwörung belegt. Tatsächlich begegnen die Archetypen der modernen Verschwörungsvorstellung besonders in den uns so fernen und so erbarmungslos mittelalterlichen Geschichten. Nicht nur bei Ademar, sondern in vielfach kopierten und adaptierten Geschichten wie jenen vom rituellen Mord (zur Imitation der Passion Christi) oder der Schändung der Hostie (zur Prüfung bzw. Tötung des sakramentalen Körpers).

Die Legende vom Ritualmord trat als geschlossenes Narrativ zum ersten Mal in der Vita des Hl. Wilhelm von Norwich in Erscheinung, die Thomas von Monmouth bald nach dem fraglichen Ereignis (1144) verfaßte, und verbreitete sich danach rasch, wenngleich als zunächst dünne Spur, von England aus über den Kontinent. Der Überlieferung nach wurde der Leichnam des Norwicher Jungen am Karfreitag des Jahres 1144 in einem Wald nahe der Stadt entdeckt, für seinen Tod wurden die Juden vor Ort verantwortlich gemacht, die ihn nämlich, wie von langer Hand geplant, zur Verspottung Christi gekreuzigt haben sollen.(5)

Die Hostienschändungsfabel trat in antijüdischer Form erstmals in Frankreich 1290 auf, sie hat sich dann geradezu epidemisch verbreitet und schon in den Jahren 1298 ff. im Süden und Südwesten Deutschlands zu einer Pogromwelle, bis ins Elsaß hinein geführt.(6)

1348/49, als die Pest sich über fast ganz Europa ausbreitete, trat dann die Legende vergifteter
Brunnen hinzu (die Chronisten und andere Beobachter nicht glaubten, dafür aber die handelnden Behörden vor Ort). Diese Geschichten sind danach immer wieder erzählt worden, mit Konjunkturen im späten 13. und 14. Jahrhundert, dann wieder während der Reformationszeit. Im Zeitalter der Glaubensspaltung wurden sie zu einem Instrument wechselseitiger Inkriminierung – da sollte die jeweils andere Seite ein Werkzeug der Juden oder gar nicht schlimmer als diese sein.

Der Skandal der "Protokolle" und des Glaubens an ihre Echtheit reicht also wenigstens ins hohe Mittelalter zurück. Dabei wird allerdings übersehen, dass die Erzähltypen, die die Idee von der Verschwörung transportierten, im Ursprung gar nicht mit Juden zu tun hatten.

Die Verwendung des Pulvers aus den Körpern getöteter Knaben zu magisch-rituellen, d.h. aber auch eucharistieähnlichen Zwecken, spielte schon in den frühesten Darstellungen von angeblichen Praktiken der Häretiker eine Rolle. Nach Guibert von Nogent (gest. ~1124) warf die Häretiker-Gemeinde durch das Feuer "einen Knaben von Hand zu Hand, bis er getötet war. Darauf machte man [seinen Köper] zu Asche und bereitete daraus Brote, wovon ein jeder dann seinen Anteil zur Eucharistie erhielt, [und worauf] nach dem Verzehr kaum einmal einer aus dieser Häresie wieder zur Besinnung kam."(7)

Das gilt auch von den gegenüber den ersten antijüdischen Hostienfrevellegenden (1213/1290) älteren Beispiele wie Augsburg (1199/1200), Doberan (1201) und Schwerin (1222). Die ersten "Hostienschänder" der Vorstellungswelt waren Christen, nicht Juden. Das "Mirakel von dem heiligen Blute zu Doberan" handelt von einem Hirten, der 1201(?) die Hostie unterschlug und sie in "einfältiglicher Gebärde" seinem Hirtenstab zur Abwendung von Schaden an seiner Herde inserierte (Ernst von Kirchberg).(8)

Und auch das Gift, mit dem die Juden in den Pestjahren 1348/49 umgegangen sein sollen, kommt zunächst abseits antijüdischer Vorstellungen vor, nämlich wenige Jahre zuvor, 1321, als die Leprakranken sich mit dem Gift zur Ermordung der Gesunden aufgemacht haben sollen.(9) Nicht nur hinsichtlich der metaphysisch-sakralen Komponente, sondern auch, was ihr Herkommen angeht, hat sich die Legende von der Weltverschwörung über die Jahrhunderte hinweg also weit stärker gewandelt, als es der anfänglich gebotene Vergleich zwischen Goedsches Roman und Thomas von Monmouth auf den ersten Blick erkennen läßt.

Die moderne Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung kennt keinen Antichristen und auch keinen ihn bremsenden Gott mehr, dort sind die Juden selbst Herren des Geschehens und bestimmen ihre Ziele selbst. Wir haben es hier mit einem Prozeß von Säkularisierung zu tun, bei dem die metaphysischen Figuren allmählich verschwinden und ihre Stelle die Kommunistische Internationale, die Börse, die UNO, die Weltbank oder der Mossad treten.

Genau dieser Wandel allerdings hat eine lange Vorgeschichte. Sie beginnt nicht erst da, wo wir die Säkularisierungsprozesse für gewöhnlich ansiedeln, im 17. und 18. Jahrhundert, und auch nicht erst mit der Reformation. Letztere hat jenen Prozeß befördert, denn in der Polemik zwischen den Konfessionen nutzten sich die zunehmend zum Instrument der gesetzten Polemik verkommenen mittelalterlichen Deutungsmuster rasch ab.

Im 17. Jahrhundert waren Teufel und Antichrist zu publizistisch-literarischen Stilfiguren geworden, die den Romantikern noch einen schönen Schauer, aber keine existentielle Sorge mehr bereiteten.

Es waren aber nicht die sonst so gerne zitierten Aufklärer, die die Figur des Antichristen ideell demontierten. Um wieviel früher jener Säkularisierungsprozeß ansetzte, will ich an einem letzten Beispiel illustrieren; es ist ein Ausschnitt aus einem städtischen Untersuchungsprotokoll während er Pestwelle und -hysterie von 1348. Als man nahe Freiburg die Juden zum Bekenntnis brachte, daß sie "hätten vergiftet all die Brunnen, die zu Kenzingen sind", kam gleich ein ganzes Bündel von Vergehen ans Tageslicht. Da wird vom Geständnis des Juden Jacob berichtet: dieser habe in früheren Jahren zwei christliche Jungen "geschächtet", einen in Tübingen und einen in München. Ein anderer sollte in Straßburg ein Kind von einem Jahr "verderbet" haben. Das war keineswegs alles: auch das Sauerkraut sollen die Juden damals vergiftet, den Wein in der Kelter "beschissen" und dergleichen mit dem Graben gemacht haben, so daß schließlich auch die Fische und Frösche eingingen.

Hier erschien die Behauptung des Ritualmords gerade einmal als ein Element unter vielen und wohl als Spiegel dessen, was Untersuchungsbehörden erwarteten, wenn sie verdächtige Juden vor sich hatten.

Man könnte den Kenzinger Untersuchungsbericht nach im traditionellen Rahmen lesen: die Juden, so ließe sich folgern, vergehen sich an Mensch und Tier, an der ganzen Schöpfung also; das Gift erschien dabei nicht mehr nur als Instrument in ihren Händen, sondern als Ausfluß ihres Wesens.(10)

Gerade in der weiten, umfassenden Erstreckung der Taten mag man noch das traditionelle Motiv der jüdischen Rebellion gegen Gott gezeichnet erkennen. Gleichwohl: ein Gott kommt im Kenzinger Protokoll nicht vor. Er ist hier und in anderen Quellen nach dem vielen Wiedererzählen der immerselben alten Geschichten einfach verloren gegangen; die Geschichten haben sich durch stete Repetition und immer stärkere Verkürzung aus sich heraus säkularisiert. So blieb die Gegnerschaft der Juden in Kenzingen ganz auf die Welt bezogen; in ihr wollten die Juden nach dem Befund der Ermittler jeden Schaden anrichten, der sich nur irgend vollbringen ließ.

Kommen wir zur Moderne zurück: Im Unterschied zum planmäßigen Ende der Geschichte, wie es das Mittelalter vorsah und wo selbst der tumultarische Ablauf noch Gottes Plan und Ordnung folgte, erwarten neuzeitliche Phantasmen von jüdischer Weltverschwörung und – beherrschung einen dauernden Triumph der Juden und die ewige Verknechtung der überwundenen Gesellschaften. Die Juden, als Feinde nun weitgehend alleine auftretend und um so wirkmächtiger agierend, bindet kein Antichrist mehr, dessen Rolle per se auf den eigenen Untergang und das Mitreißen seiner Helfer ausgelegt wäre.

Das Handeln der Juden birgt also nichts mehr, was den Nichtjuden in letzter Konsequenz zu Vorteil, Heil und Vollendung gereichen könnte. Jüdisches Handeln ist auch im Ergebnis ganz auf den eigenen Vorteil und tatsächlich zum Schaden aller anderen ausgelegt. Es hat auch nichts Irrtümliches mehr, dessen Erkenntnis die Juden zur Umkehr bewegen könnte; sie werden – um an die Prager Friedhofsszene vom Eingang anzuknüpfen und – die Herrschaft tatsächlich übernehmen.

Das moderne Verschwörungsdenken ist deshalb strukturell nicht einfach un-apokalyptisch. Es verlangt, gerade nachdem der Antichrist ausgefallen und seine Rolle gestrichen ist, um so dringender nach der Figur des Salvators. Sie ist zwar nicht mehr religiös konzipiert, wird aber faktisch um so entscheidender: Der Anbruch der himmel- und höllenlosen Endzeit, der nun dauerhafte Zustand der Verknechtung (dem Wesen nach eine säkularisierte Hölle), läßt sich in der Vorstellung jener, die die Verschwörung entdeckt haben, nun tatsächlich aufhalten, sofern der oder die Erlöser unmittelbar und nachhaltig in die Entwicklung eingreifen.

Geschieht dies nicht, ist das Ende zwangsläufig und vor allem wesentlich irreversibel. Dem säkularisierten Verschwörungsdenken fehlt jede tröstende Hoffnung auf die Remedur des Himmels. Die Juden spielen im Weltverständnis der modernen Judenfeinde nicht mehr die für das mittelalterliche Verständnis so typische Rolle eines notwendigen heilsgeschichtlichen Widerparts, sondern treten als unbedingte Feinde in Erscheinung. Sie sind nicht mehr Statisten, sondern die Hauptakteure und Regisseure des Dramas zugleich.(11)

Was vormoderne und moderne Verschwörungsvorstellungen verbindet, sind die äußeren Strukturen des Denkens, die ich abschließend knapp skizzieren will.

a) die Vorstellung von Geheimnissen, die die Juden untereinander hegen (Sprache, Codes)

b) die Angst vor jüdischer Kommunikation und Organisation

c) das Wirken einer wissenden, planenden Elite

d) die Vorstellung von feindseliger Versammlung (Synode, Börse, Uno ...)

e) die Annahme von Partnern/Agenten der Juden im konspirativen Handeln zur Beschaffung von Körpern, Gift und Hostien). Dieses Moment ist im modernen Verschwörungsdenken allerdings auf ein Minimum reduziert (jüdisch-freimaurerische oder die jüdischbolschewistische, jüdisch-amerikanische => "Juden" = "Freimaurer" = "Bolschewisten" =
"Westen" = "der Islam" ....

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Anmerkungen:
(1) Vgl. SIR JOHN Retcliffe [alias Hermann Goedsche], Biarritz. Historisch-politischer Roman in acht Bänden, Bd. 1, Berlin 1905, S. 130ff.
(2) THOMAS VON MONMOUTH, The Life and Miracles of St. William of Norwich, hg. Augustus Jessopp, Cambridge 1896), II.11, S. 93f.
(3) ADEMAR VON CHABANNES, Chronicon, hg. P. Bourgain, = Ademari Cabannensis opera omnia, Bd. 1 (Corpus Christianorum Cont. Med.; 129), Turnhout 1999, S. 171; vgl. Richard LANDES, Relics, Apocalypse, and the Deceits of History: Ademar of Chabannes (Harvard Hist. Studies; 117), Cambridge/Mass. 1995.
(4) Vgl. AndrewColinGOW, The Red Jews. Antisemitism in an Apocalyptic Age 1200-1600 (Studies in Medieval and Reformation Thought; 55), Leiden/New York/Köln 1995
(5) Vgl. Rainer ERB (Hg.), Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden (Dokumente, Texte, Materialien; 6), Berlin 1993.
(6) Miri RUBIN, Gentile Tales. The Narrative Assault on Late Medieval Jews, New Haven/London 1999.
(7) Vgl. GUIBERT DE NOGENT, De vita sua, III.17, in: Migne, Patrologia Latina, Bd. 156, cols. 951B-D.
(8) ERNST VON KIRCHBERG, Mecklenburgische Reimchronik, i.A. der Historischen Kommission für Mecklenburg und in Verbindung mit dem Mecklenburgischen Landeshauptarchiv Schwerin hg. Christa Cordshagen et al., Köln etc.1997.
(9) František GRAUS, Pest - Geissler - Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 86), Göttingen 1987.
(10) Vgl. URKUNDEN und Akten der Stadt STRASSBURG, hg. mit Unterstützung der Landes- und Stadtverwaltung, 1. Abt.: Urkundenbuch der Stadt Strassburg, Bde. 5, Straßburg 1896, Nr. 188, S. 177.
(11) Vgl. zum Thema insg. Johannes HEIL, Gottesfeinde - Menschenfeinde. Die Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung (13.-16. Jh.). Herkommen - Kontext - Funktion – Wirkung (Antisemitismus: Geschichte und Strukturen; Bd. 3), Essen 2006.

hagalil.com 25-07-2006

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