Freie Hand für den Generalsstab? Pro:
Blut, Schweiß und Tränen:
Nasrallah schwitzt
"Ihr wisst genau, was zu tun ist, um diese Bedrohung, die über Israels
Köpfen schwebt, zu entfernen", so Premier Ehud Olmert zu den Mitgliedern des
Generalstabs. Einer der Generäle brachte nachher seine Zufriedenheit zum
Ausdruck.Freie Hand für den
Generalsstab? Kontra:
Zu den jüngsten Gewaltexplosionen:
Ein verdächtiger Sieg des israelischen Generalstabs
Von Reiner Bernstein
Die jüngsten Gewaltexplosionen im Gazastreifen und in
Libanon beschreiben eine schwerwiegende Niederlage der israelischen Politik.
Lange hat sich der Chef des Generalstabs Dan Chalutz darüber beschwert, dass
die Regierung zu zögerlich gegen extremistische Palästinenser aus dem Lager
der Hamas und gegen deren Izzedin-al-Qassam-Brigaden vorgehe.
Die schweren Verluste, die israelische Panzer- und
Luftangriffe unter der palästinensischen Zivilbevölkerung anrichten, werden
als bedauerliche, aber unvermeidliche Kollateralschäden in Kauf genommen.
Allein am 12. Juli kamen im Gaza-Stadtteil Sheikh Radwan sieben Kinder im
Alter zwischen vier und sechzehn Jahren mit ihren Eltern ums Leben. Am
selben Tag, dem Beginn der Libanon-Invasion, sind nach israelischen
Medienberichten 36 Zivilisten getötet worden, darunter eine Familie mit zehn
und eine weitere mit sieben Kindern. Durch vom Gazastreifen abgeschossene
Qassam-Raketen sind zuletzt im März 2006 zwei Israelis zu Tode gekommen.
Was von israelischen Militärhistorikern und Politologen seit langem
beobachtet wird, treibt auf einen neuen Höhepunkt zu: Die Regierenden haben
die Generäle gewähren lassen und laufen permanent Gefahr, überspielt zu
werden. Jeden Tag erteilt ein ranghoher Offizier der Politik Ratschläge. Da
das Amt des Regierungschefs und – in ihren Augen noch schlimmer – des
Verteidigungsministers jetzt von zwei Männern mit schmalbrüstiger
Reservistenerfahrung geführt wird, ist für Kommandeure die Stunde gekommen,
ihnen das Gesetz des Handelns zu entwinden. Ehud Olmert und Amir Peretz
zeigen sich überfordert, statt auf den operativen Primat der Politik zu
pochen; vor allem die Seilschaften im Verteidigungsministerium weisen den
Chef in die Schranken.
Olmerts erstaunliche Erklärung, die israelische Armee sei die moralischste
der Welt, bestätigt nicht nur das im Militär gepflegte Selbstbild, sondern
erteilt ihm seinen politischen Segen – und vermittelt das Bild eines von
seinem Mentor Ariel Sharon getriebenen Regierungschefs, der in
Feldherrn-Kategorien befangen war. Wenn Olmert nicht davor zurückschreckt,
unter den gegenwärtigen Umständen seinen Abkoppelungsplan für große Teile
der Westbank zu bekräftigen, bemüht er sich um den Nachweis seiner
Autorität. Ob er damit Erfolg hat, ist wenig wahrscheinlich.
Wenn es bei seiner Ankündigung bleibt "Ich verhandle nicht mit Hamas, ich
habe nicht mit Hamas verhandelt, und ich werde nicht mit Hamas verhandeln",
dann negiert Olmert bewusst die Grabenkämpfe in der islamischen
Widerstandsbewegung zwischen ideologieverbrannten Ansprüchen auf ganz
Palästina und bedächtigem Realitätssinn, der auch in jüngsten Äußerungen des
Autonomiebehörden-Chefs Ismail Haniyeh seinen Widerhall findet. Israelische
Kommentatoren warnen deshalb vor einem Mehrfrontenkrieg mit unabsehbaren
Verschleißfolgen unter Einschluss Syriens, das am 27. Juni die Kulisse
israelischer Überschall-Kampfflugzeuge über den Palast des Präsidenten in
Qardacha hilflos hinnehmen musste.
Ein Blick auf die geopolitische Landkarte unterstreicht die potentielle
Verletzlichkeit Israels. Tatsächlich kann sich der Staat keine militärische
Niederlage leisten. Stimmt die israelische Wahrnehmung, dass der Staat von
einer Meute unversöhnlicher Feinde eingekreist sei, dann wäre es die Pflicht
der Politik, Schneisen der Aufweichung in jene Ablehnungsfront zu treiben.
Politische Klugheit würde es verlangen, jene überbordende Rhetorik zu
unterlassen, die der frühere Generalstabschef und nachmalige
Ministerpräsident Ehud Barak mit dem Satz an den Tag legte, die militärische
Schlagkraft seines Landes reiche bis nach Teheran.
Solche Äußerungen haben eine Tradition begründet, die sich schwer bändigen
lässt. Zwar hat sich Olmert vor wenigen Tagen davon überzeugt gezeigt, dass
die Mehrheit des palästinensischen Volkes mit Israels Verlangen nach dem
Ende der Gewalt sympathisiert, aber er ist den Beweis schuldig geblieben,
daraus die erforderlichen Schlussfolgerungen zu ziehen. Während das Militär
als Kollektivstrafe eine Totalblockade über Libanon verhängt, will sich Amir
Peretz mit der auf Dauer angelegten Vertreibung der Hisbollah aus dem Süden
des Landes zufrieden geben. Die israelischen Zielkonflikte sind offenkundig,
obwohl Bewohner im Norden des Landes nach den Artillerie- und
Raketeneinschlägen der Hisbollah-Milizen ihre Wohnungen fluchtartig
verlassen. Doch der Sieger steht mit der Generalität schon fest.
Von der früheren Hilflosigkeit unterscheiden sich die
Aussagen der USA und der Europäischen Union zur jüngsten Eskalationswelle
auch diesmal nicht. Sie begnügen sich damit, die unverzügliche und
bedingungslose Freilassung der drei israelischen Soldaten zu verlangen. Es
reicht nicht aus, ansonsten vor einem unverhältnismäßigen Mitteleinsatz zu
warnen, ohne Ross und Reiter zu nennen. Seit dem Wahlsieg von Hamas Ende
Januar 2006 hat sich die "internationale Staatengemeinschaft" endgültig von
einer Nahostpolitik verabschiedet, die diesen Namen verdient, obwohl sich
die Konfliktfelder Israel/Palästina, Libanon/Syrien, Iran und Irak
inzwischen unübersehbar überlappen. In den Auswärtigen Ämtern dämmert es den
Verantwortlichen noch immer nicht, dass die Beschwörung des
Friedensprozesses längst jegliche Substanz eingebüßt hat. Die unübersehbare
Glaubwürdigkeit lässt sich durch die Lieferung humanitärer Hilfsgüter und
durch Finanztransfers nicht wiederherstellen, ja sie bedeckt die eigene
politische Entschluss- und Handlungsunfähigkeit mit dem Mantel der
Selbsttäuschung.
Mit der von Israelis und Palästinensern
vorgelegten Genfer
Friedensinitiative wurde im Dezember 2003 ein Entwurf für eine
Vereinbarung im Sinne einer Zwei-Staaten-Lösung präsentiert. Der Münchner
Historiker Reiner Bernstein
vertritt die Initiative in Deutschland. Von
Reiner Bernstein ist zuletzt erschienen: "Von
Gaza nach Genf – Die Genfer Friedensinitiative von Israelis und
Palästinensern". Wochenschau Verlag, 2006. |