Frankreich:
Geschichtspolitik
als gefährliches Spielfeld
Karriereorientierter
Minister kämpft gegen "nationale Selbstverleugnung" und fördert, de facto,
"Opferkonkurrenz"
Von Bernhard Schmid
Die
Rivalität an der Spitze des französischen Staates macht auch vor dem heiklen
Thema der Geschichtspolitik nicht halt – das verspricht neue Polemiken und
Zuspitzungen auch im soeben begonnenen Jahr. Präsident Jacques Chirac hat am
9. Dezember 2005 angekündigt, eine "pluralistisch zusammengesetzte"
Historikerkommission einzusetzen, um über die Bewertung des französischen
Kolonialismus zu debattieren?
Da musste sein großer
Herausforderer aus dem eigenen Lager, Nicolas Sarkozy, Innenminister und
Chef der konservativ-liberalen Sammlungsbewegung UMP (derzeit
Regierungspartei), einfach reagieren. Unmittelbar vor den
Weihnachtsfeiertagen hat er darum seinerseits verkündet, selbst eine
Kommission zum Thema einzusetzen; ihren Vorsitz soll der Rechtsanwalt Arno
Klarsfeld übernehmen. Dies erklärte Sarkozy in einem Interview mit
"Libération" vom 23. Dezember.
Ein
höchst problematisches Gesetz
Den Hintergrund der
Streitigkeiten bildet ein Gesetz, das am 23.
Februar
2005 durch die französische Nationalversammlung verabschiedet worden war,
nachdem konservative Hinterbänkler es – wie die französische Öffentlichkeit
erst im Nachhinein bemerkte – brisante Passagen neu eingefügt hatten.
Ursprünglich sah der Text eine materielle Entschädigung für Franzosen, die
im Zuge der Entkolonisierung in Afrika oder Asien Schaden erlitten haben
wollen, vor und sollte damit verbunde Fragen abschließend regeln. Doch der
neu hinzugefügte Artikel 4 der Vorlage schreibt nunmehr auch Lehrern und
Forscherinnen vor, in ihren Arbeiten oder in ihrem Unterricht den
angeblichen "positiven Beitrag der französischen Präsenz in Übersee, und
insbesondere in Nordafrika" ausdrücklich hervorzuheben.
Anders
ausgedrückt, sollte eine positive Sichtweise auf den französischen
Kolonialismus festgeschrieben werden – besonders im Hinblick auf Algerien.
In letzterem Zusammenhang ist diese Vorstellung besonders absurd. Denn 132
Jahre "französischer Präsenz" in diesem Land bedeuteten vor allem eine
radikale Absenkung der Zahl des Lesens und Schreibens kundiger Algerier
gegenüber der vorkolonialen Ära (1) und
die Errichtung eines auf konfessionellen Kategorien – Christen, Juden und
Moslems – basierenden Apartheidsystems.
Schon kurz
nach Bekanntwerden dieser Gesetzespassage, die freilich bereits im
Schnelldurchlauf verabschiedet worden war, liefen Wissenschaftler und Lehrer
gegen diese "staatlich vorgeschriebene Geschichtsdoktrin" Sturm. Am 25. März
05 erschien etwa von Historikern (unter ihnen Gérard Noiriel und Gilbert
Meynier) lancierte Petition
"Kolonisierung:
Nein zum Unterricht einer offiziellen Geschichte"
in der liberalen Pariser Abendzeitung Le Monde.
Ende
November 2005 flammte die politische Polemik dann wieder auf: Um wieder
wettzumachen,dass ihre eigenen Abgeordneten im Februar des Jahres die
Verschärfung der Gesetzesvorlage verschlafen hatten (denn in Unkenntnis des
veränderten Inhalts stimmten sie dem Text zu) und im Herbst 2005 den
Notstandsmaßnahmen der konservativen Regierung im Zusammenhang mit den Riots
keinerlei vernehmbare Opposition entgegen setzten, forderten die Sozialisten
jetzt eine erneute Abstimmung über den umstrittenen Artikel 4. Doch die
konservative Mehrheit stimmte ihm abermals zu, was die linksliberale Pariser
Tageszeitung Libération mit dem Titel "Dumm und frech" (vom 30.
November 05) kommentierte. Daraufhin musste Innenminister Sarkozy aber,
angesichts massiver Proteste, am 8.
Dezember
einen geplanten Besuch auf den französischen Antilleninseln absagen. Denn in
La Martinique und Guadeloupe erinnern sich zahlreiche Einwohner daran, dass
die Kolonialperiode für ihre Vorfahren den Abtransport in die Sklaverei –
sie war in Frankreich bis 1848 legal – bedeutete. Der 92jährige Poet und
Antikolonialist
Aimé Césaire,
der eine ungeheure moralische Autorität auf der Insel besitzt, hatte vorab
erklärt, er weigere sich, auf La Martinique mit Sarkozy zusammenzutreffen.
Am 22.
Dezember 05
verabschiedete das Parlament des "Überseedépartements" La Martinique dann
noch eine Resolution, die das umstrittene Gesetz verurteilt.
Chiracs Kommission und die
Gefahren eines Amalgams
Präsident
Chirac aber bekam kalte Füße: Er fürchtete, die Auseinandersetzung könnte
ihm künftig die von ihm so geschätzten "Bäder in der Menge" auf dem
afrikanischen Kontinent gründlich verderben. Ferner fürchtete er, die
Polemik könne die aktuellen Pläne für einen umfassenden Staatsvertrag
zwischen Frankreich und Algerien, der neben Freundschaftsbekundungen auch
eine enge ökonomische und militärische Kooperation einschließen soll,
durchkreuzen. Im Laufe von 2005 war der Vertragsabschluss verschoben worden,
er könnte aber – nachdem Präsident Abdelaziz Bouteflika nach mehrwöchigem
Krankenhausaufenthalt in Paris am 31. Dezember in die algerische Hauptstadt
zurückgekehrt ist – in Bälde wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden.
Aus
diesen und vielleicht auch anderen Gründen verkündete Chirac in einer
Ansprache vom 9. Dezember beruhigend, es sei "nicht Aufgabe des Staates, die
Geschichte zu schreiben", dies sei Aufgabe der Historiker, und setzte
gleichzeitig eine "pluralistisch zusammengesetzte" Kommission ein. Die damit
logisch verbundene Abschaffung des strittigen – und von Chirac persönlich
ungeliebten – Gesetzesparagraphen mochte er freilich nicht offen fordern, da
er ansonsten "seine"- vom Rivalen Sarkozy umworbenen – Konservativen damit
desavouiert hätte.
Deswegen
wird auch das Aufgabenfeld der Kommission, die drei Monate Zeit für die
Erarbeitung eines Untersuchungsberichts haben wird und unter Vorsitz des
konservativen Parlamentspräsidenten Jean-Louis Debré steht, extrem weit
gefasst: Sie soll nämlich "die Tätigkeit des Parlaments auf dem Gebiet der
Erinnerung und der Geschichte" erörtern (nichts weniger als das...) und
dabei alle Gesetze Revue passieren lassen, die den Umgang mit historischen
Ereignissen zum Gegenstand haben. Darunter fällt dann nicht nur das
strittige Gesetz über den angeblichen "positiven Beitrag" des französischen
Kolonialismus, sondern eben auch zum Beispiel das Zusatzgesetz zum
Anti-Rassismus-Strafgesetz vom Juli 1990, das u.a. die Leugnung des
Holocaust unter Strafe stellt. Oder Gesetze wie jenes vom 29. Januar 2001
(zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern während des Ersten
Weltkriegs, den die offizielle Türkei noch immer abstreitet) und vom 21.
Mai 2001
(zur Anerkennung der Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschheit).
So
ambivalent diese Verquickung unterschiedlicher Sachverhalte – des äußerst
kritikwürdigen Gesetzes vom 23. Februar, mittels dessen Frankreich sich
selbst eine positive Rolle als ehemalige Kolonialmacht zusprechen soll, mit
solchen Gesetzen, die das Grauen real stattgefundener Genozide anerkennen
und vor Leugnung und Beschmutzung schützen sollen – ist, so ambivalent
fielen auch einige Reaktionen aus. Denn nunmehr meldeten sich 19 renommierte
Historiker (am 12. Dezember) zu Wort, die die Abschaffung gleich aller
dieser Gesetze forderten, im Namen einer freien und entkriminalisierten
Debatte über die Geschichte und ihre Bewertung. Nun sind diese Historiker
sicherlich keine Holocaustleugner im Geiste, und manches an ihrer Initiative
mag gut gemeint gewesen sein – aber es bleibt ein Unwohlsein zurück.
Eine
Rolle beim Zustandekommen dieser Initiative spielte aber wohl auch, dass
eine Strafanzeige gegen den Historiker Olivier Pétré-Grenouilleau wegen
Relativierung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit läuft. Dieser
Pariser Historiker hatte die Sklaverei und ihre verheerenden Dimensionen
zwar nicht abgestritten, aber ihre Ausmaße doch durch Gegenrechnen des
europäischen Sklavenhandels mit anderen Formen von Sklaverei (dem
innerafrikanischen und arabischen Handel mit Sklaven) und eine Form von
Gegeneinander-Ausspielen sehr relativierend dargestellt. Dass dies nun
erstmals zu einer Strafanzeige und der Aufnahme von Ermittlungen führte,
wird durch manche Historiker als Eingriff in die Freiheit der
wissenschaftlichen Diskussion erlebt.
Eine
Gegenpetition vom 20. Dezember wiederum, die von 32 Prominenten (Historiker,
aber auch Soziologen, Anwälten und Medizinern) unterzeichnet ist und die
sich gegen das Ansinnen der Tilgung der o.g. Gesetze wendet. In dieser
Petition wird – neutral, aber immerhin doch distanziert – das umstrittene
Gesetz vom 23. Februar als "diskutierbar" bezeichnet. Aber ansonsten warnt
dieser Text davor, ein Amalgam zwischen diesem (also mindest potenziell
kritikwürdigen) Text einerseits und Gesetzen "von anderer Natur", die
"anerkannte und feststehende Genozidtaten bzw. Verbrechen gegen die
Menschheiten" zum Gegenstand haben, andererseits anzurichten.
Sarkozy: Gegen Beschmutzung
der Nationalehre… und für eine Partikularisierung der Opferrollen
Sarkozy
(wie immer als Rivale Chiracs im Hinblick auf die kommende Wahl auftretend)
dagegen hält, wie er der Presse erklärte bzw. in einem eigenen Beitrag für
die Sonntagszeitung JDD im Dezemberschrieb, nichts von nationaler
"Selbstverleugnung" und einer "Tendenz zur systematischen Reue". Man wolle
sich "nicht dafür entschuldigen, Franzose zu sein". Er möchte die
Widerstände gegen den Versuch staatlicher Reglementierung des
Geschichtsbilds einfach aussitzen.
Später
schlug der Minister, der unbedingt Präsident werden möchte, eine eigene
"Lösungs"möglichkeit vor: In seinem Interview mit Libération sprach
er kurz vor Weihnachten davon, man könne doch Zweideutigkeiten an dem Gesetz
vom 23. Februar 2005 beseitigen, indem man den Wortlaut abändere. Danach
solle dort nicht mehr von einer positiven Rolle der französischen Präsenz
"in
Übersee"
die Rede sein, da man unter diesem Begriff heutzutage die verwaltungsmäßig
so bezeichneten
"Überseebezirke"
(wie die Antilleninseln Guadeloupe oder La Martinique) verstehe, wo – vor
1848 – die Sklaverei auf den Zuckerrohe- und sonstigen Plantagen praktiziert
wurde und die unterdessen heute zu integralen Bestandteilen des
französischen Staatsgebiets geworden sind. Vielmehr solle in dem
Gesetzestext künftig von einem angeblichen positiven Beitrag der
französischen Präsenz
"in
Überseefrankreich"
die Rede sein.
Das hieße
also: in den ehemaligen Kolonien (die heutzutage nicht mehr zum
französischen Staat gehören) und in Algerien als ehemaligem
"Übersee-Bestandteil
des französischen Mutterlands"
(so der Status Algeriens im französischen Staatsverband von 1848 bis zur
Unabhängigkeit 1962). Nichts anderes also würde dies bedeuten, als zu sagen:
Die Unterdrückung auf den heute noch französischen Antilleninseln war
schlecht, aber dagegen war jene in Nordafrika oder Schwarzafrika von der
berühmten "positiven Rolle" erfüllt. Ein durchsichtiger Versuch, sich bei
potenziellen WählerInnen in den französischen Staatsbestandteilen wie etwa
den Antilleninseln wieder lieb Kind zu machen, aber zugleich eine knallharte
Position zu den frühere, Schandtaten des französischen Kolonialismus
(anderswo) beizubehalten. Nicht gelitten hat demnach, wer heute (in der
Regel) nicht in Frankreich wählen geht.
Nunmehr
versucht Sarkozy sich noch an einem anderen gefährlichen Spiel, nämlich an
der Instrumentalisierung jüdischer Stimmen, um die Legitimität der einen
historischen "Opfergruppe" gegen die anderer Opfer – nicht eines Genozids,
aber von kolonialer Unterdrückung und Sklaverei – ins Spiel zu bringen.
Deswegen setzte er den Anwalt Arno Klarsfeld zum Vorsitzenden "seiner"
Kommission ein, dessen Ernennung in der liberalen Pariser Abendzeitung Le
Monde vom 25. Dezember 05 als "Geste an die jüdische Community"
analysiert wurde. (2) Dem Gremium will
Sarkozy den anspruchsvollen Titel "Kommission zur Reflexion über das Gesetz,
die Geschichte und die Aufgabe der Erinnerung" verleihen.
Und wohl
auch deswegen lobte er den Philosophen Alain Finkielkraut jüngst als
angebliche "Ehre der französischen Intelligenz". Finkielkraut hatte im
November 05 der israelischen Haaretz erklärt, während sein Vater – er
war in Auschwitz – gelitten habe, hätten die Schwarzen doch keinen Grund zu
Hass auf Frankreich, denn Frankreich habe den Afrikanern "nur Gutes" getan.
Ferner hatte Finkielkraut den Kolonialismus als Projekt, das (so wörtlich)
"den Wilden Bildung und Zivilisation bringen" sollte, verharmlost. (3)
Bereits
im Oktober 2005 hatte Finkielkraut sich, in einem Interview mit dem
rechtsaußen angesiedelten Wochenmagazin Valeurs actuelles (vom 07.
Oktober), gegen eine französische Reueerklärung für die Folter im
Algerienkrieg ausgesprochen. - Was Finkielkraut dabei vor allem umtreibt,
ist in Wirklichkeit seine Abrechnung mit der eigenen linken Vergangenheit.
Dereinst, in den 70er Jahren, einmal Maoist und als solcher kritikloser
Verherrlicher bestimmter antikolonial-nationalistischer
Befreiungsbewegungen, verwirft Finkielkraut heutzutage (wohl allzu)
systematisch alles, was auch nur entfernt damit zusammenhängt. Im oben
zitierten Interview mit Valeurs actuelles, Sprachrohr des
französischen Rüstungsindustriellen Serge Dassault mit einer Leserschaft von
(laut Umfrage aus 2004) 65 Prozent konservativen und 25 Prozent
rechtsextremen Wählern, spricht Finkielkraut abschätzig vom "moralisierenden
Masochismus vieler westlicher Intellektueller" und führt aus: „Ich bemühe
mich, das kritische Denken den Stereotypen der Herrschaftskritik zu
entziehen. Leider sind wir nicht sehr zahlreich. Man glaubte mit dem Ende
des Sowjetsystems, dass der Kommunismus tot sei, aber die progressiven
Mythen sind sehr zählebig. (...) Die Herrschaftskritik, die für keinen
realen Sozialismus mehr haftbar gemacht wird, ist so machtvoll wie nie."
Die
links-alternative und eher pazifistische "Französische jüdische Union für
den Frieden" (UJFP) sprach, angesichts der jüngsten Ereignisse und der
Berichte über die Bildung der Sarkozy-Kommission, von einem
Gegeneinander-Ausspielen vom Kritik am Kolonialismus und dem Gendenken an
die Opfer von Antisemitismus un Shoah.
Sie
publizierte dazu eine Erklärung vom 28. Dezember,
unter
dem Titel "Nein zur Konkurrenz der Opfer!".
Damit
trifft sie hier wohl ins Schwarze, was jedenfalls die Absichten betrifft,
mit denen sich dre ambitionierte Minister und Möchte-gar-zu-gern-Präsident
Sarkozy herumträgt.
Die
objektiv vorhandene Tendenz, verschiedene Opfer der Geschichte gegeneinander
auszupielen – die es auch unter Schwarzen gibt, insbesondere verbunden mit
dem Namen des französisch-kamerunischen Antisemiten
Dieudonné
M'bala – möchte Sarkozy sich nun gerne zunutze machen. Ein höchst
gefährliches Spiel.
Überarbeitete
Fassung; eine Kurzfassung erschien in
Jungle World vom 04. Januar
06.
Anmerkungen:
(1)
Vgl. dazu insbesondere das Buch des französischen Autors Guy Pervillé: "Les
étudiants
algériens de l’Université française" (1984) und die dortigen näheren
Zahlenangaben.
(2)
Der
39jährige Arno Klarsfeld (Sohn der Prominenten Serge und Beate Klarsfeld)
war durch seinen Auftritt als Anwalt der Nebenkläger beim Prozess gegen den
NS-Kollaborateur Maurice Papon 1997/98 bekannt geworden, auch wenn er sich
dort durch einige Verfahrensfehler zu Lasten der Nebenkläger nicht nur
beliebt machte. Im Jahr 2003 leistete er freiwillig seinen Militärdienst bei
einer israelischen Grenzschützeeinheit im besetzten Westjordanland, in der
Nähe von Bethlehem, ab. Deshalb zog seine Ernennung jüngst die Kritik
französischer, eher pro-palästinensischer Organisationen wie der
Antirassismusbewegung MRAP auf sich, die ihn als "pro-kolonialen Aktivisten"
bezeichnete. Arno Klarsfeld gibt heute allerdings an, Befürworter einer
Zwei-Staaten-Lösung sowie einer Teilung Jerusalems zwischen Israelis und
PalästinserInnen zu sein.
(3)
Der
volle Wortlaut des Interview findet sich hier, in englischer Sprache: http://www.haaretz.com/hasen/spages/646938.html.
Eine, stellenweise entschärfte oder vergröbert übersetzte, deutsche Fassung
findet sich hier:
http://www.welt.de/data/2005/12/10/814875.html. |