Claudia
Roth, Parteivorsitzende von Bündnis90/Die Grünen und Mitglied im Deutschen
Bundestag. Ohne Augenmaß
Muss die jüdische Zuwanderung aus Osteuropa neu geregelt
werden?
von Claudia Roth
Seit 1991 sind mehr als hundertsiebzigtausend jüdische
Emigrantinnen und Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland
eingewandert. Meine Partei hat den Beschluss der
Ministerpräsidentenkonferenz, der dies ermöglicht hat, stets begrüßt. Für
uns ist es ein unschätzbarer Vertrauensbeweis, wenn Jüdinnen und Juden heute
in ein Land ziehen, das vor gerade einmal sechzig Jahren versucht hatte, das
Judentum weltweit zu vernichten.
Der Zuzug führte zu einem Aufblühen jüdischer Gemeinden in Deutschland.
Welche große Bereicherung dies nicht nur für unser Land, sondern auch für
die jüdischen Gemeinden in unserem Land bedeutet, spürt man, wenn man
Synagogen in Deutschland besucht.
Die Einwanderung stellt für die jüdischen Gemeinden in Deutschland aber auch
eine Herausforderung dar. Die neuen Gemeindemitglieder verfügen oft über nur
wenig oder keine Deutschkenntnisse. Auch die jüdische Religion und ihre
Traditionen sind vielen von ihnen fremd geworden. Daneben gibt es soziale
Probleme. Viele der neu Eingewanderten sind arbeitslos oder stehen in
deutlich unterqualifizierten Beschäftigungsverhältnissen – oft auch
deswegen, weil ihre Bildungsabschlüsse in Deutschland nicht anerkannt
werden. Die sozialen Probleme führen nicht selten zu besonderen psychischen
Belastungen bei den Betroffenen.
Zudem suchen und finden bei weiten nicht alle Eingewanderten den Weg in die
jüdischen Gemeinden. Für die Gemeinden ist das misslich. Aber: Die Tür nach
Deutschland steht auch säkularen Jüdinnen und Juden offen.
Angesichts des Anfang 2005 in Kraft tretenden Zuwanderungsgesetzes betraute
die Ministerpräsidentenkonferenz im Herbst vergangenen Jahres die
Innenministerkonferenz (IMK) damit, einen neuen Beschluss zur jüdischen
Einwanderung auf Grundlage des Anfang 2005 in Kraft tretenden
Zuwanderungsgesetzes vorzubereiten. Die IMK hat dies offensichtlich als
Einladung missverstanden, den Zuzug der jüdischen Einwanderinnen und
Einwanderer, insbesondere ihrer Familienangehörigen, einzuschränken.
Für die Fraktionen der rot-grünen Regierungskoalition kamen die
vorweihnachtlichen Meldungen über entsprechende Pläne der IMK überraschend.
Denn im Jahr 2002 hatten wir in einem Beschluss des Innenausschusses des
Bundestages festgelegt, "dass sich im Hinblick auf die Aufnahme jüdischer
Emigrantinnen und Emigranten die jetzige Rechtslage und Aufnahmepraxis"
durch das Zuwanderungsgesetz "nicht ändern" soll. Zudem hatten wir uns auf
die Rechtsauffassung des Bundesinnenministeriums (BMI) verlassen, dass es
zur Fortführung der jüdischen Einwanderung auch nach Inkrafttreten des
Zuwanderungsgesetzes "keiner erneuten Anordnung" der
Ministerpräsidentenkonferenz bedürfe.
Ungeachtet dessen wird nun innerhalb der IMK über strengere Regeln für die
jüdische Einwanderung diskutiert. Ehrlich gesagt, mich hat keins der bislang
bekannt gewordenen neuen Zuzugskriterien über- zeugt – weder das Kriterium,
nach dem die Einreise nur möglich sein soll, wenn eine jüdische Gemeinde zur
Aufnahme bereit ist, noch jenes, das den Zuzug von einer positiven Prognose
über die Integration in den deutschen Arbeitsmarkt abhängig machen will. Der
Vorschlag schließlich, Deutschkenntnisse zur Voraussetzung einer Einreise
nach Deutschland zu machen, stellt den Integrationsprozess auf den Kopf.
Nichts gegen Deutschkurse im Ausland, nur: Integration muss hier
stattfinden. Wir haben erst im vergangenen Jahr ein Zuwanderungsgesetz
beschlossen, das die neu Eingewanderten beim Erwerb der Sprachkenntnisse
unterstützen soll. Es scheint, dass einige Innenminister den eigenen
Ankündigungen nicht trauen.
Wer die Integrationschancen von einwandernden Menschen verbessern will,
benötigt Augenmaß. Er muss auch fragen, was die Politik und die
Behördenpraxis in Deutschland dazu beitragen kann – etwa bei der Anerkennung
von Berufsabschlüssen oder der Verbesserung der Wohnortzuweisung.
Die Debatte muss zudem parlamentarisch untersetzt werden. Es kann nicht
angehen, dass Abgeordnete zwar das Zuwanderungsgesetz verabschieden, von
dessen Umsetzung in derart wichtigen Fragen aber ausgeschlossen bleiben.
Und schließlich muss die Diskussion in einer Form geführt werden, die die
jüdischen Vertreter angemessen beteiligt. Die jüdische Einwanderung soll
auch weiterhin unser Land bereichern. Sie darf nicht eingeschränkt werden.
in: Jüdische Allgemeine, 13.01.2005 /
http://www.gruene-fraktion.de
Grüne wollen über jüdische
Zuwanderung im Bundestag sprechen
hagalil.com
17-01-2005 |