Die Judenrat-Frage:
Tragisch überfordert oder ewig schuldig?
Von Wolf Murmelstein
Über die Judenräte – jüdische Funktionäre, welche ihre
Gemeinden/Gemeinschaften zur Zeit der Shoah vor den Nazi-Faschisten
vertraten – wird wieder viel debattiert. Hier soll eine Verteidigung zu Wort
kommen. Einige grundsätzliche Fragen sind zu beantworten:
Wie wurde jemand Judenrat?
Die Nazis versuchten in erster Linie Mitarbeiter von Jüdischen Gemeinden
und Organisationen zu ernennen; jüngere Männer wurden fast immer bevorzugt.
Hinzu kommt, dass Adolf Eichmann,
als Leiter der "Reichszentrale für jüdische Auswanderung",
die Erfahrung der Zionisten in Sachen Auswanderung nutzen wollte. Später, in
den Ghettos, wurden auch Personen ernannt, die entweder früher in der
Gemeinde tätig waren oder in der Peripherie standen oder aber nicht mehr der
jüdischen Religion angehörten.
In Wien wurde Josef Loewenherz, nach einigen Wochen Haft, Leiter der
Kultusgemeinde, mit der Ermahnung die Auswanderung forciert zu organisieren.
In Prag, März 1939, wurde Frantisek Weidmann zum Leiter der Kultusgemeinde
ernannt, nur weil er der einzige Beamte war, den man beim Einmarsch im
Amtssitz vorfand. In Lodz, 1939, wurde Chaim Rumkovski vielleicht nur durch
einen Zufall ernannt. In Litauen, 1941, wurden in einigen Fällen die
Mitglieder vom Judenrat durch Los bestimmt. Kenntnis der deutschen Sprache
war in den besetzten Gebieten ausschlaggebend.
Sollte vielleicht "Non Partizipation" geübt werden?
Nach einer verbreiteten Meinung hätten die Judenräte "Non Partizipation"
üben sollen. Man behauptet auch, dass ohne die Judenräte die Erfassung der
Juden für die Nazis viel schwieriger gewesen wäre. Ist dieser Standpunkt
sachlich und moralisch gerechtfertigt? Aus moralischer Sicht: In Litauen, im
Jahr 1941, sagten die Rabbiner, dass die Annahme der Wahl oder Ernennung zum
Judenrat Pflicht war. Aus diesen Responsen ergibt sich, dass ab 1933 jene,
die Prestige, Sachkenntnis, Beziehungen zu einflussreichen Persönlichkeiten,
Talent, usw. der Gemeinschaft zur Verfügung stellten – und die Gelegenheit,
sich selbst in Sicherheit zu bringen oft versäumte - seine Pflicht getan
hatten und des Lobes würdig seien.
Im Oktober 1941 entschied der Rabbiner von Kaunas/Kovno in Litauen, Rav
Ithak Shapiro, der sich seiner persönlich aussichtslosen Lage bewusst war,
dass wenn der Feind den Tod einer ganzen Gemeinde beschlossen hat, aber -
mit irgendeinem Mittel - es noch möglich ist, einen Teil dieser Gemeinde zu
retten, dann müssen eben die Vorsteher mit allen ihren Kräften diesen Teil
der Gemeinde retten. Es war eine große psychische Belastung, entscheiden zu
müssen, wen man, und nach welchen Kriterien, auf die Liste von einer
Auswanderungsgruppe setzen oder aus einen Deportationstransport
herausreklamieren sollte.
Die Meinung, dass die Deportationen nur durch das "Mitwirken" der Judenräte
durchführbar waren, ist unhaltbar. Die Nazis waren, von 1933 bis 1945,
international anerkannte Machthaber: Für die lebensrettende Auswanderung
wurde von den ausländischen Konsuln das Visum auf den von der Nazi-Behörde
ausgestellten Pass eingetragen. Das Rote Kreutz musste, über den Deutschen
Generalkonsul in Genf, mit der SS verhandeln, um Zutritt in die KZ zu
erreichen.
Vor welchen Problemen stand ein Judenrat?
Am Anfang der Nazi-Herrschaft entsprangen die Probleme der fortschreitenden
Entrechtung und Verarmung der Gemeindemitglieder. Es galt, Sozialhilfe und
Erziehungsdienste zu organisieren, sowie Auswanderungswillige zu beraten.
Von 1938 an musste die Auswanderung unter immer größeren Schwierigkeiten
organisiert werden, sowie den in KZs inhaftierten Gemeindemitglieder
geholfen werden. Im Umgang mit der Nazi-Bürokratie war für die
Gemeindemitglieder die Hilfe seitens des Judenrat/der Kultusgemeinde -
Assistenz durch jüdische Beamte oder Übermittlung von Dokumenten –
lebenswichtig.
In Oktober 1939 – in Nisko in Polen – sprach Eichmann von den notwendigen
Aufbauarbeiten und, zum Schluss, als Nachdruck, kamen die eisigen Worte:
"Sonst heißt es eben sterben". In den Ghettos mussten daher die Arbeiten für
die SS (innerhalb kurzen Fristen) als auch die Arbeiten für Aufbau und
Milderung der Lagerlebensbedingen durchgeführt werden.
Das Aufstellen von Arbeitsgruppen für äußere Arbeiten schien in den ersten
Zeiten eine Chance zum Überleben; dass sich daraus später die Auswahl für
die Deportierungslisten ergab ist tragisch, aber keine Schuld der Judenräte.
Weitere Probleme die sich ergaben und den Judenrat, fast immer,
überforderten:
Beaufsichtigung der Mitarbeiter gegen Missbräuche, Korruption und
Eigenmächtigkeiten. Strenges Geheimhalten der Einzelheiten von etwaigen
Rettungsaktionen; ein Judenrat bekam vom SS Kommandanten zu hören: "Ihre
Leute Quatschen zu viel". Strenge Kontrolle etwaiger Kontakte einzelner
Juden mit der SS, welche immer Zuträger suchte.
Wie stand der Judenrat vor den Nazi-Funktionären?
Der Judenrat in Deutschland, Wien und in den von den Deutschen besetzten
Gebieten hatte keinen Zugang zu den wirklichen Entscheidungsträgern, sondern
nur zu SS-Offizieren niedrigerer Ränge, die selbst wenig
Entscheidungsspielraum hatten und auch bespitzelt wurden.
Es war auch für die jüdischen Funktionäre schwer zu begreifen, dass man im
Land der Richter und der Henker nicht wie im Land der Dichter und der Denker
sprechen konnte. In Wien drückte es Alois Brunner so aus: "Ihretwegen werden
wir nicht Deutsch lernen wie Goethe" und "Versprechen gelten nur wenn sie
eingehalten werden".
Bei einer Vorsprache – und jede konnte die letzte sein – musste der Judenrat
oft stundenlang vor den SS Offizier stehen (nicht sitzen!) und grob
ausgedrückte Befehle entgegennehmen, welche in kürzester Frist durchgeführt
werden mussten. Einwände waren natürlich undenkbar. Anträge zur Milderung
mussten in für die SS verständlicher Form vorgebracht werden. Oft glaubte
der Judenrat etwas erreicht zu haben, um dann den Betrug erkennen zu müssen.
Ein Judenrat stand zwischen dem Hammer der SS, dessen Befehle kein Erbarmen
kannten, und dem Amboss der Leidensgenossen, deren Erwartungen nicht erfüllt
werden konnten. Der psychische Stress, der sich aus diesem Konflikt ergab,
muss vor jedem Urteil berücksichtigt werden.
In den Achsen-Staaten – Ungarn, Slowakei, Rumänien, Bulgarien, Vichy
Frankreich – war oft ein Zugang zu hohen Beamten und Politikern möglich. In
Bulgarien konnte dadurch fast die ganze Gemeinschaft, und in Rumänien ein
großer Teil, gerettet werden. In der Slowakei konnte man einige
einflussreiche Beamte korrumpieren, um die Deportationen zu unterbrechen.
Wie wirkte sich die Kriminalisierung der Judenräte nach 1945 aus?
Aus dem Protokoll der Sitzung vom 3.5.1945 des Theresienstädter Ältestenrat
mit den Delegierten vom Internationalen Roten Kreutz geht hervor, dass Leo
Baeck seinen aufrichtigen Dank für die Tätigkeit des Judenältesten Benjamin
Murmelstein ausdrückte, in der Hoffnung, dass dessen Fähigkeiten auch der
neuen Verwaltung zur Verfügung stehen würden. Wie bekannt ist wurde die
Verwaltung an einen tschechischen Kommunisten übertragen der anstatt der
jüdischen die Interessen der Benes-Regierung in kommunistischer Weise
vertrat. Der Vorschlag von Murmelstein, in Theresienstadt ein Zentrum für
die Betreuung der Deportierten vor ihrer Heimkehr einzurichten, wurde
verworfen und die Anlagen blieben ungenützt.
Die Kommunisten erhoben eine Reihe von Anschuldigungen gegen Murmelstein,
die aber einer ernsten Prüfung nicht standhielten und Murmelstein konnte
seine Unschuld beweisen.
Loewenherz und Murmelstein in Wien, Murmelstein in Theresienstadt, Cohen in
Holland, wie auch andere der wenigen Judenräte die, politisch nicht korrekt,
überlebt hatten, hätten einen großen Beitrag im Kampf um die Rückerstattung
des arisierten jüdischen Vermögens leisten können, - sofort und als die
Beweislage viel besser war als heute - wenn man sie nicht kriminalisiert und
beiseite gestellt hätte. Beim Eichmann Prozess wurde Murmelstein nicht als
Zeuge geladen und so konnten einige Punkte nicht ausreichend geklärt werden
oder wurden den Gericht gar nicht vorgelegt.
Es ergibt sich so, dass "Zuschauer"-Persönlichkeiten und Organisationen, die
ihre Unfähigkeit irgend eine nützliche Hilfsaktion zu unternehmen
verschleiern wollten - die Judenräte, fast alle Märtyrer, schwer
beschuldigten, zum Nutzen von Ariseuren, Tätern, Versicherungsgesellschaften
und Banken. Die Geschichtsrevisionisten konnten so über jüdische Mittäter
schreiben.
Auf welche Quellen stützen sich die Anschuldigungen gegen die Judenräte?
Aus einigen konkreten Beispielen ergibt sich die Fragwürdigkeit vieler
Quellen welche für die Anschuldigungen zitiert werden:
1. Der Rabbiner von Saloniki, Zwi Koretz, wird beschuldigt seine Gemeinde
verraten zu haben als er den Nazis die Liste der Gemeindemitglieder
aushändigte. Diese Anschuldigung geht über die Tatsache hinweg, dass diese
Liste vom Gemeindebeamten Saby Saltiel (der zum Presidenten ernannt wurde)
dem Berater vom Wehrmachtskommando, Max Merten, zu einer Zeit übergeben
wurde, als Rabbiner Koretz in Wien inhaftiert war; er wurde erst im Dezember
1942 zum Leiter der Gemeinde ernannt.
2. Eine schwerwiegende Anschuldigung gegen Benjamin Murmelstein wird mit der
angeblichen Aussage einer Dame begründet die als seine ehemalige Sekretärin
vorgestellt wird. Diese Dame konnte nie die Sekretärin von Murmelstein
gewesen sein: aus gründlicher Kontrolle geht hervor, dass sie nie in
Theresienstadt war.
3. Wann wurde Murmelstein Judenältester von Theresienstadt? Die Antwort
"November 1943" ist funktionell für einige Anschuldigungen gegen
Murmelstein. Die Antwort "7. September 1944" ist funktionell, um Murmelstein
Verantwortung für die Listen der Ende September 1944 abgehenden Transporte
in verleumderischer Weise aufzubürden. Richtig ist: "am 27. September 1944"
als diese zwei Transporte schon vor Abgang standen – die Listen wurden gemäß
genauer SS-Weisungen von der früheren Leitung zusammengestellt. Ab 2.
Oktober 1944 wurden die Listen – da Murmelstein als nicht verlässlich galt -
direkt von der Kommandatur zusammengestellt. So durch Gerichtsakten belegt.
4. Das Institut für Jüdische Geschichte in Warschau hat viel Material über
die Ghettos in Polen. Die Auswertung diese Materials musste im Sinne des
kommunistischen Regimes und dessen innenpolitischen Interessen geschehen:
man sprach daher viel von jüdischen Mittätern. Diese Sprachregelung wurde
auch im Westen akzeptiert.
Gelinde gesagt, ungenaue Angaben von Datum und Ort, unkritische Bewertung
von SS Berichten und Eingaben der jüdischen Funktionäre, die, aus dem
Zusammenhang gerissen, als Geständnisse missbraucht werden, einseitige
Tagebücher, als Aussagen getarnte Anklagen. Das sind die Quellen für die
Verurteilung von tragischen Gestalten der Shoah, unter welchen nur einer –
Murmelstein – jemanden (den Verfasser dieser Seiten) zurückgelassen hat, um
für die Verteidigung zu sprechen.
Dr. Wolf Murmelstein, Ladispoli, Italien – Oktober 2004
Der Autor, geb. 1936 in Wien, ist der Sohn von Benjamin Murmelstein und
unter den jüngsten der "Kinder von Theresienstadt".
Der Verfasser steht für weitere Fragen zu Verfügung:
wolf.murmelstein@tiscalinet.it
Ohne Alternative:
Die Wiener Judenräte unter der NS-Herrschaft
Die jüdischen Funktionäre sahen keine Alternative. Die
Kooperation mit den Nazis schien das jeweils geringere Übel zu sein. Immer
wieder schöpften sie Hoffnung, einen Teil der Gemeinde noch retten zu
können...
hagalil.com
27-10-2004 |