Ohne Alternative:
Die Wiener Judenräte unter der NS-Herrschaft
Von Doron Rabinovici
In meiner Wiener jüdischen Jugendbewegung, dem linkszionistischen
"Haschomer Hazair", spielten wir zuweilen bestimmte Gerichtsverfahren nach.
Die Streitsache war vorgegeben, und jede Rolle folgte einem Leitfaden, doch
zumeist entwickelten wir den Prozess im Stegreif weiter. Einer gab den
Richter, ein anderer den Angeklagten; da waren ein Verteidiger und ein
Kläger, die ihre Reden und Plädoyers hielten und die Zeugen ins Kreuzverhör
nahmen. Ich entsinne mich eines Falles, ich dürfte im elften Lebensjahr
gewesen sein, der mich besonders ergriff. Einer von uns, kaum älter als
siebzehn, stand als "Judenältester" vor Gericht. "Partisanen" sagten gegen
ihn aus. Andere "Überlebende" zeugten für ihn.
Mitten im Österreich der frühen siebziger Jahre stellten die Jugendlichen
eines jener jüdischen Ehrentribunale nach, wie sie ab 1945 in verschiedenen
Ländern, vor allem in den Displaced Persons Camps, errichtet worden waren.
Manche unserer Eltern mochten noch an solchen Verhandlungen teilgenommen
haben. Wir Zuschauer hatten die Geschworenen zu sein und zu einem Urteil zu
finden. Vorschnell und ohne viel Wissen fällten wir damals unseren
Schuldspruch. Nach dem Massenmord strebten jüdische Jugendliche nach einem
neuen Selbstbewusstsein und konnten sich bloß mit Widerstandskämpfern
identifizieren. Unmöglich schien es, sich in die Lage der Judenräte zu
versetzen.
Am 15. Oktober 1945 brachte der Leiter der Wiener Staatspolizei gegen
Wilhelm Reisz eine Anklage bei der Staatsanwaltschaft ein. Wilhelm Reisz war
während der Nazi-Zeit dem SS-Scharführer Herbert Gerbing unterstellt
gewesen. Unter Gerbing war Reisz an den sogenannten "Judenaushebungen"
beteiligt, er hatte mit dem SS-Mann jüdische Menschen, die von den
nationalsozialistischen Behörden zur Deportation bestimmt worden waren, in
ihren Wohnungen aufzuspüren, ihre Namen zu notieren und ihnen beim Packen
jener wenigen Sachen, die sie mitnehmen durften, zur Hand zu gehen. Das
Verhalten von Reisz, bemerkte der österreichische Leiter der Staatspolizei,
sei "besonders verwerflich", da er, um "sich selbst einen Vorteil zu
verschaffen, seine eigenen Landsleute ins Unglück stürzte".
Weshalb war Reisz eine Ausnahme? War er "besonders verwerflich", weil
ansonsten Österreicher nicht, um ihrer persönlichen Vorteile willen, ihre
eigenen Landsleute verraten, ausgeraubt, vertrieben, misshandelt oder
ermordet hätten? Keineswegs: Die nationalsozialistische "Judenpolitik" in
Österreich war nicht eine von außen, vom deutschen "Altreich" und gegen den
Willen der Bevölkerung erzwungene Maßnahme. Übereifrig machten sich
österreichische Antisemiten im Jahre 1938 ans Werk, pflichtversessen trieben
sie voran, was in Berlin noch unvorstellbar war.
War Wilhelm Reisz also keine Ausnahme im Land, das nach 1945 nur als
erstes Opfer Hitlers gelten wollte? Doch: Wilhelm Reisz war Jude – und er
hatte überlebt. "Eigene Landsleute", so die Wiener Staatspolizei, "stürzten"
Wilhelm Reisz "ins Unglück". Nicht unbedingt Österreicher oder gar deutsche
Reichsbürger waren damit gemeint, sondern ohne Ausnahme von den Nazis als
Juden Verfolgte. Das österreichische Volksgericht befand Wilhelm Reisz für
schuldig und verurteilte den Überlebenden zu fünfzehn Jahren Gefängnis,
einschließlich eines Vierteljahres schweren Kerkers. Fünfzehn Jahre für
einen Juden, der zuvor noch zum Tode verurteilt gewesen war und dem
Massenmord nur entging, weil er sich als "Gruppenführer" unentbehrlich für
Gerbing gemacht hatte. Herbert Gerbing wurde nicht verurteilt. Gerbing, 1914
im niederösterreichischen Mödling geboren, war verschwunden. Er sollte, wie
viele seiner SS-Kollegen aus der Wiener Zentralstelle, nie wieder gefunden
werden und musste sich nicht für seine Taten verantworten.
Am Tag nachdem das Urteil verkündet worden war, erhängte sich Wilhelm
Reisz in seiner Zelle. Sieben Jahre lang hatte er unter der
nationalsozialistischen Verfolgung gelitten und die Vernichtung überlebt.
Jetzt verübte er Selbstmord. Er hatte mit solch einem Schuldspruch nicht
gerechnet und sich nicht als Täter, sonder als Opfer des NS-Regimes
empfunden. Das Ausmaß der Urteils verwundert, besonders wenn es mit der
sonstigen Spruchpraxis der österreichischen Justiz nach 1945 verglichen
wird. Von den insgesamt 136.000 Personen, die bis 1945 in Österreich wegen
NS-Verbrechen vor den sogenannten Volksgerichtshöfen gelandet waren, wurden
108.000 Verfahren abgebrochen oder eingestellt. Von den übrigen 28.000 wurde
knapp die Hälfte schuldig gesprochen. Viele jedoch nicht wegen der ihnen zur
Last gelegten Verbrechen gegen andere Menschen, sondern bloß wegen
sogenannter Formaldelikte, wie etwa der illegalen NS-Mitgliedschaft in den
Jahren 1934 bis 1938. Dem Opfer wird vorgeworfen, mit den totalitären
Verbrechern in Tatzusammenhang geraten zu sein. Die Verantwortung für dieses
Nahverhältnis wird nicht dem Täter, sonder dem Opfer angelastet, als wäre es
an dieser tödlichen Konstellation vorrangig interessiert gewesen. Oft hieß
es, Funktionäre der jüdischen Gemeinde hätten "bloß" ihr eigenes Überleben
und das ihrer Familie sichern wollen. Die Legende, die jüdischen
Gemeindebediensteten hätten nur aus eigenem, egoistischem Interesse mit den
Nazis verhandelt, ist, ob bewusst oder unbeabsichtigt, nichts als
Denunziation, da im Gegenteil durchaus Gedanken sozialer Verantwortung der
Politik der Kompromisse zugrunde lagen. Nicht der Wunsch, selbst zu
überleben, war für die Gemeindeleitung entscheidend, sondern die anfängliche
Hoffnung im Handel mit der SS, Juden und Jüdinnen durch Auswanderung zu
retten. Später ging es darum, die totale Vernichtung aufzuhalten; und am
Ende nur noch darum, die Qualen lindern zu helfen.
Die jüdischen Opfer, von der nichtjüdischen Bevölkerung verfolgt oder im
Stich gelassen, wurden in doppelter Hinsicht getäuscht. Sie befolgten die
nationalsozialistischen Maßnahmen, welche die Kultusgemeinde verkündete, und
richteten ihre Empörung sodann gegen die eigene Vertretung. Nicht die SS
oder Gestapo, die jüdischen Funktionäre sollten die nationalsozialistischen
Erlässe veröffentlichen. Nicht der "Judenreferent" der Gestapo, sondern der
Leiter der jüdischen Gemeinde sollte im Gedächtnis der Überlebenden haften
bleiben, nicht der "SS-Scharführer", sondern der jüdische "Ordner" sollte
sich ihnen einprägen. So wurde das Vertrauen der Opfer in die eigen Leitung
missbraucht und gebrochen, um jegliches Aufbegehren gegen die Verbrechen zu
verhindern.
Die nationalsozialistische Taktik, das Täuschungsmanöver, war aufgegangen
und wirkte nach dem Sieg über das Deutsche Reich weiter. Sogar nach 1945
wurden Opfer mit Tätern verwechselt oder willentlich vertauscht.
Unter dem Nationalsozialismus war den Opfern verboten zu leben. Nach der
Befreiung mussten sie sich für ihr Überleben rechtfertigen. Die
antisemitische Logik, wonach bloß ein toter Jude ein guter sein könnte, hat
paradoxerweise das "Dritte Reich" überdauert.
In ideologischen Disputen wird zuweilen den jüdischen Organisationen das
Mitwirken an dem Verbrechen vorgeworfen. In der antisemitischen Phantasie
wäre es einfach zu schön, wenn die Juden an ihrer eigenen Vernichtung Schuld
hätten. Solche Vorstellungen könnten manche österreichische und deutsche
Schuldgefühle entlasten.
Die historischen Fakten beweisen, wie abstrus solche Mythen sind. Am 13.
Oktober 1940 etwa wurde Josef Löwenherz, dem Leiter der Kultusgemeinde, von
der Gestapo mitgeteilt, dass eine eigene Lebensmittelkartei für die 60.000
Juden, unter ihnen auch die sogenannten "Nichtglaubensjuden", eingerichtet
werden sollte. Die Kultusgemeinde hatte 30 Personen zur Verfügung zu
stellen, um diese zentrale Datei einzurichten. Ab dem 1. November 1940
wurden die Lebensmittelkarten aller antisemitisch Verfolgten mit dem
Aufdruck "Jude" versehen.
Wer essen wollte, ob Kind oder Greis, musste hier gemeldet sein. Die
jüdische Administration wurde erfolgreich getäuscht. Jene Kartenstelle, die
vorgeblich errichtet worden war, um die Verpflegung und Ernährung der Juden
zentral zu gewährleisten, diente ihrer Erfassung, ihrer Ausbeutung, ihrer
Deportation und ihrer Ermordung, der Maschine der Vernichtung.
Benjamin Murmelstein
Wer waren die jüdischen Funktionäre? Da war etwa Benjamin Murmelstein,
1905 in Lemberg geboren, stammte er aus einer orthodoxen Familie. Nach dem
Ersten Weltkrieg kam er nach Wien, wo er an der Universität Philosophie und
zur gleichen Zeit an der "Israelitisch-Theologischen Lehranstalt" studierte.
Er schloss 1927 mit dem zweitbesten Zeugnis in der Geschichte der
Lehranstalt die theologisch-rabbinische Ausbildung ab. Im selben Jahr
promovierte Murmelstein und verfasste seine Dissertation "Adam. Ein Betrag
zur Messiaslehre".
Aus dem Gelehrten entwickelte sich ein Administrator, aus dem
Intellektuellen ein Bürokrat; aus dem Gottesmann ein Manager im Elend.
Murmelstein leitete die Auswanderungsabteilung, und sein Aufstieg war auch
ein Zeichen für den Bedeutungszuwachs, den die Emigration in jener Zeit
erfuhr. Murmelstein begriff, wie die Kooperation mit der Gestapo ablief. Er
ging seine Aufgabe mit einer Kälte an, die andere jüdische Beamte nicht an
den Tag legten. In gewisser Weise spiegelte sich in seinem Auftreten eine
Geisteshaltung wider, die sich der Logik des Terrors unterwarf.
Intellektuell hatte Murmelstein akzeptiert, dass mit den Nationalsozialisten
zusammengearbeitet werden musste. Sollen viele Juden gerettet werden, dann
hatten sich alle an die Verordnungen der Gestapo zu halten. er beugte sich
dem System und kannte keine Skrupel im Einzelfall.
Vorgeworfen wurde Murmelstein, dass er kein Mitgefühl für seine
Schicksalsgenossen zeigte. Doch Murmelstein war noch nach dem Krieg davon
überzeugt, dass ein strenges Auftreten die einzige Möglichkeit darstellte,
den damaligen Problemen entgegenzutreten. Der SS durfte keine Handhabe gegen
die jüdische Gemeinde geboten werden. Die Jüdische Verwaltung hatte selbst
für Disziplin und Ordnung zu sorgen. Damals schien unvorstellbar, dass die
Kooperation den organisierten Massenmord befördern würde, dass die Nazis
nicht die Ausbeutung der Juden, sondern deren Ausrottung betreiben würden.
Die SS folgte keiner Rationalität; sie hielt sich nicht an Abmachungen, die
sie nach ihrem Gutdünken änderte. Die Einstellung Murmelsteins unterschied
sich nicht von jener anderer jüdischer Funktionäre; bloß seine Haltung,
seine konsequente Ungerührtheit, war eine andere. Murmelsteins Arbeit
rettete von 1938 bis 1940 vielen Menschen das Leben, doch sein Auftreten und
seine Herrschsucht brachten ihn in Misskredit.
1938, noch vor dem "Anschluss" veröffentlichte Murmelstein eine
Anthologie mit Texten von Flavius Josephus, dem einstigen Kommandeur der
jüdischen Aufständischen in Galiläa und späteren Chronisten ihres verlorenen
Krieges gegen das römische Imperium. Flavius Josephus wird in der jüdischen
Historiographie kontrovers beurteilt: Der jüdische Feldherr lief zu den
römischen Feinden über, als er den Kampf der Juden gegen sie für
aussichtslos hielt, zugleich aber bewahrte er durch seine Schriften die
Erinnerung an die jüdischen Kämpfer und verteidigte die Traditionen des
Judentums. Murmelstein beendete seine einleitenden Ausführungen über Flavius
mit den Sätzen:
"Am Judentume in Treue hängend, steht er auch im Banne der großen Idee
des römischen Imperiums. Sein zerrissenes und zweideutiges Wesen lässt ihn
daher als Sinnbild der jüdischen Tragik erscheinen."
Das liest sich heute wie eine autobiographische Voraussage, als hätte
Murmelstein 1937 einen Nachruf auf sich selbst verfasst; auf den künftigen
jüdischen Funktionär unter Eichmann und den späteren "Judenältesten" von
Theresienstadt.
Auch als Judenältester von Theresienstadt versuchte Murmelstein durch
Kooperation, so viele Juden wie möglich zu retten, die Pläne der
Nationalsozialisten, aus Theresienstadt ein Vorzeigeghetto zu machen,
auszunutzen. Der "Judenälteste" musste versuchen, sich in die
Nationalsozialisten hineinzudenken, dabei immer auf ein Mindestmaß ihrer
Rationalität zählend, in der Hoffnung, ihre Vorhaben durchschauen und
beeinflussen zu können. Doch selbst nach 1945, als sich erwiesen hatte, dass
die Nationalsozialisten das für die Opfer Unvorstellbare, das Undenkbare in
der Tat angestrebt hatten, hielt Benjamin Murmelstein noch an seiner
Sichtweise fest. In Wahrheit fielen die Beschlüsse der Machthaber, ohne auf
die Handlungen des "Judenältesten" Rücksicht zu nehmen. Nach 1945 wurde
gegen Murmelstein ein Verfahren eröffnet, aber er konnte sich gegen alle
Anklagen verteidigen. Er wurde freigesprochen. Rabbiner wurde er nicht
wieder. Eine Stelle in Triest wurde ihm 1947 angeboten, doch konnte er dort
nicht bleiben. Erhellend, was er dazu 1979 zu sagen wusste:
"In Wirklichkeit war die Sache ganz einfach, ich war nicht gewillt, mich
von einem Geldsack schuhriegeln zu lassen. (...) Habe ich ihnen gesagt "Habe
die Ehre", und bin weggegangen. Das ist das Natürlichste. (...= Ich war ja
schon ganz anderes gewohnt, ich konnte mich nicht mehr fühlen als der kleine
Angestellte der Kille [d.i. jiddisch für Gemeinde, D.R.], der abhängt vom
Vorsteher, vom Nasenrümpfen des Vorstandes. Vergessen Sie nicht, in Wien
oder in Theresienstadt hat alles getanzt nach meinem Wink – es wäre besser
gewesen, es wäre nicht der Fall gewesen, leider Gottes war es so – also
verstehen sie dieser Rückfall war mir ein wenig zu ..., das müssen sie
psychologisch nehmen, Herr Professor, verstehen Sie. Der Rückfall war zu
krass."
In diesen Worten offenbart sich die Geltungssucht Murmelsteins. Er hatte
es, trotz aller Einschränkungen, genossen, dass in Wien und Theresienstadt
"alles nach seinem Wink getanzt" hatte. Der ehemalige "Judenälteste" wollte
nicht mehr der kleine geistliche Angestellte sein, den der Amtsdirektor
Löwenherz vor dem März 1938 gerade mal gegrüßt hatte. Die Funktionäre und
reichen Honoratioren der Gemeinde, die seine Gelehrtheit nicht zu würdigen
wussten, verachtete er. Benjamin Murmelstein schien der Weg vom
Theresienstädter "Judenältesten" unter nationalsozialistischer Herrschaft
zum Triester Gemeinderabbiner eine Art Abstieg gewesen zu sein. Murmelstein
ließ sich mit seiner Frau und seinem Sohn Wolf in Rom nieder, behielt die
österreichische Staatsbürgerschaft und erwarb das ständige Aufenthaltsrecht
in Italien. Erst versuchte er erfolglos einen eigenen Betrieb zu errichten,
dann erzielte er als angestellter Möbelverkäufer Gewinne und bewies
geschäftliches Talent. Weiterhin arbeitete er theologisch-wissenschaftlich,
am Pontifico Instituto Biblico des Vatikans.
Murmelstein war kein Kollaborateur. Er kooperierte mit den Nazis, weil er
glaubte, bloß auf diese Art Juden retten zu können. Seine Rechtfertigungen
können von allen, die sich einfühlen wollen, nachvollzogen werden, und sie
entbehren nicht der Logik. Sein Vorgehen unterschied sich nicht von dem
anderer jüdischer Repräsentanten, aber sein Auftreten rief Widerwillen
hervor. Er schien die traurige Rolle, die ihm zugedacht worden war, und die
Vorteile dieses Bedeutungszuwachses teils zu genießen.
Schuldgefühle – Paul Klaar
Viele der Überlebenden, die im Zuge der Deportationen im Kontakt mit der
SS und Gestapo arbeiten mussten, litten hingegen nach 1945 unter den
Schuldgefühlen, auch wenn sie mit keinen Vorwürfen belastet wurden. Dr. Paul
Klaar war Chefarzt im "Sammellager" gewesen. Er musste dort die medizinische
Betreuung leiten und Gutachten herstellen, wer transportfähig war und wer
nicht. Seine Urteile musste er dem Lagerleiter oder der Gestapo vorbringen,
und er unterstand permanenter Kontrolle. Er versuchte, so viele Menschen wie
möglich von der Verschleppung zu befreien, aber oft wurden seine Anträge von
der Lagerleitung abgelehnt. Nach seiner Befreiung aus Theresienstadt wurde
er mit zahlreichen Ehrungen ausgezeichnet. Paul Klaar war nun "wirklicher
geheimer Hofrat" und Chefarzt der Wiener Polizei. Niemand erhob gegen Paul
Klaar Vorwürfe und alle Überlebenden wussten bloß Gutes über ihn zu
berichten. Sein Neffe George Clare schreibt aber über seinen Onkel:
"Körperlich war der große, dicke, stets vergnügte und energiegeladene
Onkel meiner Kindertage mit seiner jungenhaften Liebe für winzige Kameras
und riesige Füllfederhalter auf ein Drittel seines früheren Umfangs
zusammengeschrumpft. Seine Seele war noch mehr verkümmert. Er
"funktionierte". Er ging mit mir spazieren, nahm mich mit in sein Büro im
Polizeipräsidium, er sprach – wenn auch nur wenig und sehr langsam – , er aß
– ebenfalls wenig und langsam. Wenn ich neben ihm am Tisch saß, wenn ich
neben ihm durch die Straßen ging, saß und ging ich neben einem Roboter. Sein
Gesicht war völlig ausdruckslos, die Stimme monoton, die Augen ohne Leben."
Paul Klaar verzweifelte an seinen früheren Aufgaben. Drei
Selbstmordversuche scheiterten, dann wurde er auf dem Ring von einer
Straßenbahn überfahren. Zwei Tage später, am 12. September 1948, erlag er
seinen Verletzungen; im Alter von zweiundsechzig Jahren. Wer weiß, ob er
geistesabwesend oder mit Absicht in die Straßenbahn gelaufen war.
Löwenherz – Leiter der Kultusgemeinde in Wien
Löwenherz hatte bereits 1938 merklich unter seiner Position gelitten, und
auch danach quälte ihn seine Funktion unter nationalsozialistischer
Herrschaft. Er nahm an dem Leid der anderen Anteil und konnte seine
Emotionen nicht verbergen. Sein Mitgefühl und seine Skrupel verfolgten ihn
auch nach 1945 weiter; verfolgten ihn bis in den Tod. 1945 wurde Josef
Löwenherz von den sowjetischen Behörden verhaftet. In Prag wurden
Untersuchungen gegen ihn eingeleitet.
Nachdem die Untersuchungen in Prag abgeschlossen und die Anschuldigungen
entkräftet waren, konnte Löwenherz mit seiner Frau ausreisen. Josef und
Sophie Löwenherz wollten zu ihren Kindern; in die Vereinigten Staaten.
Löwenherz siedelte sich in New York an. Es heißt, er sei auch hier nie zur
Ruhe gekommen. Sooft er Wiener Juden traf, sah er sich veranlasst, sich für
sein Verhalten zu rechtfertigen. Im Jerusalemer Prozess gegen Eichmann, im
Jahre 1961, sollte Josef Löwenherz aussagen. Er war bereits ein kranker Mann
und lebte in New York. Der israelische Konsul stattete während der
Vorbereitungen zum Verfahren Löwenherz einen Besuch ab. Löwenherz war sehr
erregt und versprach, einen ausführlicheren Fragebogen demnächst
auszufüllen. Er kam nicht mehr dazu. Die Erinnerung an Eichmann war zuviel
für ihn. Er erlitt einen Herzanfall und starb drei Tage später.
Ohne Alternative
Alle Strategien der Juden, ob Widerstand oder Kooperation, scheiterten und
konnten die Vernichtung nicht verhindern. Das Verhalten der Opfer änderte
nichts daran, dass ihr Schicksal durch die nationalsozialistische Politik
besiegelt war. Gewiss kann leichthin verkündet werden, die Ostjuden wären
durch eine passive Ghettomentalität, die Westjuden wegen ihrer Assimilation,
die deutschen Juden aufgrund von Germanophilie leichte Beute für die Mörder
gewesen.
Auf keinen Fall jedoch ist die Kooperation der jüdischen Funktionäre mit
Kollaboration gleichzusetzen. Gewiss, einzelne Juden, darunter auch jüdische
Funktionäre, verrieten andere Juden. Ein jüdischer Funktionär vermochte
tödliche Kompromisse zu schließen. Nichtjüdische Kollaborateure in besetzen
Ländern beteiligten sich freiwillig, aus opportunistischen oder
ideologischen Gründen, an den Verbrechen. Die Judenräte aber wollten nie den
Zielen der Nationalsozialisten dienen, sondern glaubten nur, durch
Kooperation der Vernichtung entgegenwirken zu können, sie wurden durch
Lügen, Täuschungen und kollektive Strafandrohungen zur Mitarbeit gezwungen.
Die meisten jüdischen Funktionäre, und darin zeigt sich trotz ihrer
zeitweiligen Privilegien ihre grundlegende Ohnmacht, wurden letztlich
ermordet.
Die Opfer wussten nicht, wie ihnen geschah. Sie konnten nicht begreifen,
weshalb ihr Leben, ihre Fähigkeiten, ja letztlich nicht einmal ihre
Arbeitskraft noch etwas zählten. Ihre Wahrnehmung und ihr Verhalten war
nicht durch die jüdische Geschichte bestimmt. Nicht bloß Juden, alle
Menschen in dieser Zwangslage hätten nicht anders handeln können. Ebenso wie
der Historiker, mussten die Opfer versuchen, die Nazis zu verstehen und sich
in ihre Position hineinzudenken. Die Opfer trachteten danach, die Handlungen
des Feindes vorauszuahnen, um ihm entgegenwirken zu können. Dan Diner
betonte, dass von Seiten der Opfer das Vorgehen der Nazis als
"gegenrational" empfunden worden war. "Irrational" stellte Diner zurecht
fest, müssen bereits die antisemitischen Verfolgungen genannt werden; nicht
erst die Massenvernichtung. Die Vertreibung der Juden war für die
traditionellen Antisemiten zwar zuträglich und zweckdienlich, wurde von den
Machthabern zumeist auch rationell betrieben, kann aber dennoch kaum als
rational verstanden werden. Die Vernichtung aber schien "gegenrational",
widersinnig, unvorstellbar.
Nicht weil die Judenräte die jüdische Gemeinschaft verrieten, sondern weil
sie in ihrem Interesse zu handeln versuchten, waren die jüdischen
Funktionäre verurteilt, sich in die Handlungsvorgaben der Machthaber
hineinzuversetzen. Im Sinne der Juden hatten sie wie Nazis zu denken. Sie
mussten darauf zählen, dass das nationalsozialistische Reich auf den
ökonomischen Nutzen der jüdischen Zwangsarbeit nicht verzichten wollte. Sie
hüteten streng die Ordnung der Feinde, weil sie hofften, diese würden sich
im Gegenzug ebenfalls an das von ihnen selbst erlassene System, an ihr
Gesetz "Arbeit oder Leben" halten. Sie gingen auf die Lügen und
Versprechungen der Nazis ein, denn dies war, wie man es drehte und wendete,
die einzige Chance, die überhaupt noch verblieb, einen Teil der Menschen zu
retten. Die nationalsozialistischen Behörden konnten jedoch aufgrund ihrer
Macht jederzeit alle Vorgaben wieder ändern.
Die jüdischen Funktionäre nahmen durchaus wahr, dass ihre Hoffnungen täglich
enttäuscht wurden, doch hatten sie keine andere Wahl, als wieder der
Hoffnung zu folgen, rationale, ökonomische, strategische Sachzwänge würden
über die Vernichtungswünsche der Mörder triumphieren. Die jüdische
Verwaltung versuchte, Zeit zu gewinnen; sie wollte wenige opfern, um viele
zu retten. Jede Entscheidung für das Leben war eine für den Tod. Um das
Ghetto zu bewahren, gaben sie es der Vernichtung preis. Alle ihre
Strategien, Menschen zu retten, waren zum Scheitern verurteilt.
Wenn nun im Lichte dieser Erörterungen wieder die Wiener Situation
betrachtet wird, so muss vorab noch einmal betont werden, dass in Wien an
bewaffneten jüdischen Widerstand nicht zu denken war. Im Unterschied zu
anderen Ländern, die vom Deutschen Reich kriegerisch besetzt wurden, wurde
das Geburtsland Hitlers dem Reich eingegliedert. Die Juden waren keine
Minderheit innerhalb einer besiegten und vom Deutschen Reich unterdrückten
oder verfolgen Bevölkerung, wie etwa in der Tschechoslowakei oder in Polen.
Viele Österreicher begrüßten vielmehr den "Anschluss" oder fanden sich mit
ihm ab; ein großer Teil der Nichtjuden freute sich über die antijüdischen
Maßnahmen und nahm an den antisemitischen Pogromen teil. Ein Widerstand der
jüdischen Gemeinde hätte nur auf der Unterstützung der nichtjüdischen
Bevölkerung fußen können. Solidarität aber war bei der nichtjüdischen
Bevölkerung kaum zu finden. Im Gegenteil: Viele befürworteten die
nationalsozialistische "Judenpolitik", und nicht wenige forderten ein
"härteres Vorgehen". Protest von jüdischer Seite wäre auf antisemitischen
Hohn gestoßen.
In Österreich musste 1938 das Hoffen auf rechtsstaatliche Prinzipien als
einzige Chance erscheinen. Die jüdische Verwaltung konnte diese nicht von
sich aus brechen, wollte sie darauf bauen, dass die Nazis sie einhielten. Im
Vergleich zum judenfeindlichen Mob, den antisemitischen Ausschreitungen im
März 1938 schienen die nationalsozialistischen Behörden zunächst
vergleichsweise eher gemäßigt und verhandlungsfähig. Bald wurde klar, dass
in Österreich die schärfsten Verfolgungsmaßnahmen nicht, wie im "Altreich"
nach 1933, gegen die politischen Gegner, sondern gegen die Juden gerichtet
waren. Im Unterschied zu Deutschland war in Österreich bald jegliche
Illusion, im Lande verbleiben zu können, verschwunden. Die Massenflucht war
bloß durch Kooperation mit den Machthabern zu gewährleisten; etwa zwei
Drittel der Verfolgten gelang es, dem "Dritten Reich" zu entkommen. Wien
wurde zum Modellfall nationalsozialistischer "Judenpolitik". Die Wiener
Verhältnisse wurden in anderen Städten kopiert. Dort entstanden ebenfalls
"Zentralstellen für jüdische Auswanderung". Die Wiener jüdischen
Organisationen wurden von dieser neuen und noch vollkommen unbekannten Art
der Verfolgung überrascht.
Die Israelitische Kultusgemeinde unter nationalsozialistischer Herrschaft
wurde zum Prototyp der späteren Judenräte. Es ist falsch, sie als jüdische
Führung zu betrachten. Sie verfügte über keine eigenständige Macht. Sie
wurde nach nationalsozialistischen Vorstellungen umgeordnet, sie unterstand
der Kontrolle der Nazis, ihre Vertreter wurden nicht frei gewählt. Die
Kultusgemeinde war aber keine nationalsozialistische Institution, kein
bloßer Befehlsempfänger der Täter. Die jüdischen Funktionäre setzten sich
für die Wiener Juden ein und glaubten, der jüdischen Gemeinschaft zu dienen.
Sie mussten belogen werden, wie sie ebene keine nationalsozialistischen
Befehlsempfänger waren, und sie konnte nur allzu leicht belogen werden, weil
sie ohnmächtig waren und zu den Opfern gehörten. Die Deportationen setzten
in Wien ein, als die Auswanderung noch möglich war. Allmählich erst
verwandelte sich der Charakter der jüdischen Kooperation und der jüdischen
Administration, deren Verhalten sich bereits im Zuge der Flucht eingespielt
hatte.
Der fließende Übergang verschaffte dem Verbrechen ein Alibi und verbarg die
eigentlichen Absichten der Täter. Die "Zentralstelle für jüdische
Auswanderung" wurde zur Deportationsbehörde; die Lebensmittelkartei diente
zur Erstellung der Deportationslisten. Das Ausmaß des Verbrechens wurde erst
bekannt, als ein Großteil der jüdischen Gemeinde bereits ermordet worden
war. Die Juden in Deutschland und Österreich waren de jure noch Bürger des
Staates. Sie hofften noch nach Ausbruch des Krieges auf einen modus vivendi
für jene, die nicht auszureisen vermocht hatten. In anderen Ländern, in
Ungarn im Jahre 1944 etwa, waren die jüdischen Funktionäre bereits
vorgewarnt, als die Juden deportiert werden sollten. In Polen drang die
Kunde vom verwalteten Massenmord in die Ghettos durch. Nicht so in Wien. Als
im Frühjahr 1941 die ersten Massendeportationen anliefen, war noch nicht
klar, was die Juden im Osten erwarten würde. Erst nachdem die großen
Massendeportation im Herbst 1942 abgeschlossen worden waren, erfuhr die
Wiener jüdische Leitung von der systematischen Vernichtung des europäischen
Judentums.
Die jüdischen Funktionäre sahen keine Alternative. Die Kooperation mit den
Nazis schien das jeweils geringere Übel zu sein. Immer wieder schöpften sie
Hoffnung, einen Teil der Gemeinde noch retten zu können. Wer die Politik der
jüdischen Gemeinde während der nationalsozialistischen Verfolgung kritisch
beleuchtet, muss die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit anerkennen. Die
jüdische Gemeindeleitung Wiens unterlag denselben Zwänge wie alle Juden, sie
verfügte über keine eigene Macht, sondern war zu bloßen Instanz geschwunden,
zu einer Instanz der Ohnmacht. Auch im nachhinein tut sich keine
Handlungsalternative zum damaligen Dilemma auf. Mit jüdischen Traditionen,
mit der Identifikation des Opfers mit dem Täter oder mit etwaigen Wiener
Eigenheiten hängt dies alles nicht im geringsten zusammen. Keine Opfergruppe
hätte unter ähnlichen Bedingungen anders reagieren können; keine könnte
heute anders handeln. Beruhigendere und behaglichere Ergebnisse sind diesen
Erörterungen nicht abzugewinnen.
Doron Rabinovici, 1961 in Tel Aviv geboren, lebt seit
1964 in Wien. Er ist Schriftsteller, Essayist und Historiker und Autor von "Instanzen
der Ohnmacht".
hagalil.com
27-10-2004 |