Attentat auf die jüdische Religion:
Die TempelbergbomberUri Avnery
Der Sicherheitsdienst wird von einer schrecklichen Angst
heimgesucht: Noch einmal könnte ein Ministerpräsident ermordet werden. Auf
dem extrem rechten Flügel, der seine Bewunderung für Yigal Amir und seine
Tat nicht verbirgt, gibt es welche, die von einer ähnlichen Tat träumen.
Wenn es Amir gelungen war, den Oslo-Prozess zu morden, warum sollte es nicht
einem anderen Amir gelingen, den Abzugsprozess der Siedlungen aus dem
Gazastreifen zu torpedieren?
Aber der Sicherheitsdienst befürchtet auch noch Schlimmeres: dass es einer
jüdischen Terrorgruppe gelingen könnte, die Moscheen auf dem Tempelberg in
die Luft zu sprengen.
Vor Jahren bereitete eine jüdische Untergrundorganisation genau dies vor.
Damals wurde dieser Plan vor der Ausführung vereitelt. Inzwischen aber
mehren sich die Zeichen, dass ein ganz ähnlicher Plan wieder einmal im
Gespräch ist.
Der Sicherheitsdienst nimmt an, dass diese Aktion dahin zielt, Ariel Sharons
Abzugsplan ein Ende zu setzen. Die Al-Aksa-Moschee und/oder den Felsendom in
die Luft zu sprengen, würde bedeuten, die ganze arabische und muslimische
Welt in Brand zu stecken. Dies würde schwerwiegende Umwälzungen verursachen,
arabische Regime stürzen, vielleicht eine muslimisch fundamentalistische
Revolution in der ganzen Region ins Rollen bringen. Wer wird in solch einer
Situation dann noch an die Evakuierung von Siedlungen denken?
All dies stimmt, aber es rührt nicht an die Wurzeln der
Verschwörung. Die Bombardierung der Moscheen auf dem Haram Al-Sharif wäre
ein Unterfangen, das über Aktuelles und Lokales hinausgeht. Es wäre ein
revolutionärer Akt, der die jüdische Religion selbst verändern würde. Vom
Standpunkt der möglichen Bombenleger ist dies der entscheidende Aspekt.
In Israel wird die jüdische Geschichte in drei „Häuser“ eingeteilt, womit
drei Tempel gemeint sind.
Der 1. Tempel wurde vermutlich von König Salomo im 10.Jahrhundert
v.Chr. gebaut und vom babylonischen König Nebukadnezar im Jahre 568 v. Chr.
zerstört. Das Volk aus Judäa wurde nach Babylon verschleppt, und mehr als 50
Jahre vergingen, bevor es ihm erlaubt wurde, nach Jerusalem zurückzukehren
und den Tempel wieder aufzubauen.
Der Bau des 2. Tempels wurde 516 v. Chr. beendet. Er wurde von König
Herodes um das Jahr 20 v.Chr. renoviert und erweitert und vom römischen
Feldherrn Titus im Jahre 70 n.Chr. zerstört.
Der 3. Tempel existiert nicht; aber die neue jüdische Gesellschaft,
die sich seit 1882 in Palästina aufbaute, nennt sich selbst oft „das 3.
Haus“, z.B. rief Moshe Dayan in der allgemeinen Panik zu Beginn des Yom
Kippur-Krieges, dies sei "Zerstörung des 3. Hauses". Trotzdem, dies ist nur
ein symbolischer Terminus – keiner der Gründerväter der zionistischen
Bewegung oder der Gründer des Staates Israel träumten davon, einen neuen
Tempel zu bauen.
Der Grund dafür liegt 1934 Jahre zurück. Als die Römer Jerusalem belagerten,
konnte Yokhanan
Ben Zakkai, ein führender Rabbiner, in einem Sarg hinaus
geschmuggelt werden, bevor die Stadt fiel und zerstört wurde. Er war auf den
römischen Kommandeur zugegangen und hatte mit Erfolg die Genehmigung
erhalten, ein jüdisch religiöses Zentrum in Yavneh – zwischen Jaffa und
Asdod – aufzubauen.
Das war der Beginn einer Revolution innerhalb der jüdischen Religion.
"Das erste Haus" war ein ziemlich unbedeutendes
Gebäude. Außerhalb der Bibel liegen keine historischen Belege darüber, vor,
dass das Reich Davids und Salomos jemals in der beschriebenen Art
existierten.* Jerusalem war ein kleiner Ort, Judäa war bedeutungslos.
Die jüdische Religion, wie wir sie kennen, entstand im Babylonischen Exil –
und seitdem leben zwei Drittel der Juden (wie sie seitdem genannt worden
sind) außerhalb von Palästina.
"Das zweite Haus" war anfangs auch eine eher
bescheidene Angelegenheit, wie von einem zeitgenössischen Propheten
bestätigt wird. Aber im Laufe der Zeit änderte sich dies. König Herodes, ein
großer Bauherr, versuchte, die Herzen seiner ihn verunglimpfenden Kritiker
zu gewinnen, indem er den Tempel in einen großartigen Bau verwandelte.
Schon vorher hatte sich um den Tempel eine priesterliche Aristokratie
gebildet, die ihre Position in der jüdischen Gesellschaft in Judäa ausbaute.
Politisch kam dies in der Partei der Sadduzäer (Zdukim) zum Ausdruck. Gegen
sie konstituierte sich die Partei der Pharisäer (Pruschim), die eine
breitere Auslegung der heiligen Schriften pflegten und an eine Welt jenseits
des Todes glaubten. In jener Zeit blühte die jüdisch religiöse Kreativität,
und die Bibel wurde endgültig zusammengefasst. Da das priesterliche
Establishment an der Macht war, spielte der Tempel in der Bibel eine
zentrale Rolle. Das rituelle Tieropfer begleitete andere Praktiken, die mit
dem Tempel, dem symbolischen Wohnort G'ttes, verbunden waren.
Viele Pharisäer und ihnen Nahestehende, wie z.B. der bekannte Jesus,
rebellierten gegen die Kommerzialisierung des Tempels. Die hasmonäische
Dynastie, die sich auf die priesterliche Aristokratie gründete, betrachtete
die Pharisäer als ihre Feinde und ließ viele von ihnen hinrichten.
All dies änderte sich, als der Tempel zerstört wurde. Nicht nur der Bau
verschwand, sondern auch der Opferkult. Die jerusalemitische Aristokratie
war ausgelöscht, die Priester verloren ihre Aufgabe. Die jüdische Religion
änderte ihren Kurs. Seitdem waren die Rabbiner Nachfolger der Pharisäer und
dominierten die jüdische Gemeinschaft und Religion.
Schon lange vor der Zerstörung des 2. Tempels lebte der größte Teil der
Juden außerhalb Palästinas. Nach der Zerstörung (und dem aussichtslosen
Bar-Kochba-Aufstand von 135 n.Chr.) wurde die jüdische Gemeinschaft in
Palästina immer weniger. Jerusalem wurde ein Traum, und alle bedeutenden
Ereignisse in der Entwicklung der jüdischen Religion geschahen weit weg
davon.
Nach der Zerstörung des Tempels wurde die jüdische Religion eine Sache von
Gesetzen und Geboten. Das Land Israels und Jerusalem wurden mehr zu
Symbolen, als dass sie mit territorialer Realität verknüpft waren. Die
jüdische Religion forderte ihre Anhänger nicht einmal zur Pilgerreise nach
Jerusalem auf, wie dies z.B. der Islam von seinen Gläubigen in Bezug auf
Mekka fordert.
Bis zum Aufkommen des modernen Zionismus versuchten die Juden nicht ein
einziges Mal, en masse nach Palästina zurückzukehren – das war ihnen sogar
ausdrücklich durch ihre Religion verboten. Als 1492 eine halbe Million Juden
aus dem katholischen Spanien vertrieben wurden, zerstreuten sie sich im
ganzen muslimischen Ottomanischen Reich. Nur wenige gingen nach Palästina,
auch eine ottomanische Provinz. Napoleons Aufruf, die Juden sollten in
Palästina einen jüdischen Staat gründen, fiel auf taube Ohren. Die ersten
Befürworter der modernen zionistischen Idee – lange vor Theodor Herzl –
waren Engländer, und Amerikaner, die von christlichen Impulsen motiviert
waren.
Während der letzten Jahrhunderte wurde das europäisch-amerikanische Judentum
immer mehr eine Religion, das von einer universalen moralischen Botschaft
durchdrungen war. Die jüdischen Denker waren davon überzeugt, dass es die
„Mission“ der Juden sei, den Völkern der Welt eine universale Ethik zu
bringen und sahen dies als das wirkliche Wesen des Judentums an.
Der Zionismus kam als Teil der nationalistischen Bewegungen Europas ins
Leben – und als Re-Aktion auf ihren allgemein antisemitischen Charakter. Er
brachte die Theorie auf, dass die Juden eine Nation wie andere europäische
Nationen seien und dass diese Nation ihren eigenen Staat im Land, damals
Palästina genannt, errichten sollten. Nicht zufällig erhob sich gegen Herzls
Lehre eine heftige, laut vernehmbare Opposition von fast allen großen
Rabbinern seiner Zeit, von Hassidim und ihren Gegnern, den Mitnagdim, von
Orthodoxen und Reformisten.
Aber als die zionistische Gemeinschaft in Palästina zu einem Staat wurde,
ist mit dem Judentum dort etwas Seltsames geschehen. Die Verbindung mit dem
Land und dem Boden veränderte das Wesen der Religion, so wie sich auch alle
anderen Bereiche des nationalen Lebens veränderten. Es ist keine
Übertreibung, zu behaupten, dass die jüdische Religion in Israel - nicht in
der Diaspora - eine Mutation durchmacht, die in den letzten Jahren immer
extremere Formen annimmt.
Eine Religion mit einer universalen Botschaft verkam zu einem Stammeskult.
Eine Religion der Ethik verkommt zu einer Religion von heiligen Plätzen und
Gräbern. Yeshayahu Leibowitz, ein Jude
der alten Sorte, definierte die Religion der Siedler als einen heidnischen,
götzendienerischen Kult.
Der neue Tempelkult wäre ein Höhepunkt in diesem Prozess. Die praktischen
Vorbereitungen für die Zerstörung der Moscheen und den Wiederaufbau des
Tempels – zusammen mit Tieropfern und anderen Tempelkulten - bedeuten eine
Absage an die jüdische Religion der letzten 2000 Jahre. Es ist eine
religiöse Revolution von historischen Dimensionen.
Wenn diese Tendenz im Staat Israel dominant wird, so wird es nicht – wie ich
glaube - zum Bau eines 3.Tempels kommen, sondern zur Zerstörung des „dritten
Hauses“.
Der 2. Tempel fand zusammen mit dem jüdischen Volk in diesem Land ein
gewaltsames Ende, weil eine kleine Minderheit fanatischer Zeloten, die den
heutigen extremen Siedlern sehr ähnlich waren, an die Macht der jüdischen
Gemeinschaft kamen und diese in einen wahnsinnigen, hoffnungslosen Krieg
hineinzog. Genau das kann heute wieder geschehen.
Am Vorabend von Yom Kippur, dem Versöhnungsfest, ist dies etwas, worüber man
nachdenken sollte.
* vgl. auch Finkelstein/ Silberman: Keine Posaunen vor
Jericho, C.H. Beck 2003
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und vom Verfasser autorisiert)
hagalil.com
20-09-2004 |