english:
opinion_declaration_buergenthal
Meinungen im IGH:
Rechtliche Folgen des Baus einer Mauer im besetzten palästinensischen Gebiet
Zusammenfassung der Stellungnahme von Richter Buergenthal
bezüglich des vom IGH behandelten Falls „Rechtliche
Folgen des Baus einer Mauer im besetzten palästinensischen Gebiet“ * - von
Daniela Marcus
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Da ich der Meinung bin, dass der Gerichtshof
Zurückhaltung hätte wahren und es hätte ablehnen sollen, das geforderte
beratende Gutachten vorzulegen, stimme ich nicht mit seiner
Entscheidung, den Fall anzuhören, überein.
Ich bin der Meinung, dass der Bau der Mauer auf besetztem
palästinensischem Gebiet ernsthafte Fragen bezüglich des Internationalen
Rechts aufwirft. Und das Gutachten beinhaltet vieles, mit dem ich
übereinstimme. Ich bin jedoch gezwungen, gegen die Entscheidung des
Gerichtes zu stimmen, weil der Gerichtshof nicht die erforderlichen
sachlichen Grundlagen für seine weitreichende Entscheidung vorliegen
hatte. Aus diesem Grund hätte er es ablehnen sollen, den Fall anzuhören.
Ich kam zu dieser Schlussfolgerung durch das beratende Gutachten des IGH
aus dem Jahr 1975 bezüglich der Westlichen Sahara. Damals sagte der
Gerichtshof, die kritische Frage, ob der Forderung nach einem beratenden
Gutachten nachgekommen werden könne, beruhe auf genügend Informations-
und Beweismaterial, das es möglich mache, einen richterlichen Beschluss
bezüglich jeder der strittigen Fragen zu erlangen. Meiner Meinung nach
beeinträchtigt die Abwesenheit von genügend Informations- und
Beweismaterial in diesem Fall die Entscheidung des Gerichtshofes.
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Ich teile die Meinung des IGH, dass
Internationale Menschenrechte auf das besetzte palästinensische Gebiet
anwendbar sind und von Israel entsprechend befolgt werden müssen. Ich
akzeptiere, dass die Mauer vielen Palästinensern in den Gebieten
ungeheuerliches Leid zufügt. In diesem Zusammenhang stimmte ich überein,
dass die Mittel, mit denen man sich gegen den Terror verteidigt, mit
allen zutreffenden Regeln des Internationalen Rechts konform gehen
müssen und dass sich ein Staat, der das Opfer von Terrorismus ist, gegen
diese Geißel nicht durch Maßnahmen verteidigen darf, die durch
Internationales Recht verboten sind.
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Es ist möglich, dass eine exakte Analyse aller
relevanten Tatsachen ergibt, dass ein Teil der Segmente oder sogar alle
Segmente der Mauer, die von Israel auf besetztem palästinensischem
Gebiet errichtet werden, gegen Internationales Recht verstoßen. Doch
wenn man diese Schlussfolgerung in Bezug auf die Mauer als Ganzes zieht,
ohne alle relevanten Fakten – u. a. Israels legitimes
Verteidigungsrecht, die militärische Notwendigkeit,
Sicherheitsbedürfnisse, wiederholte tödliche Terrorangriffe in Israel-
zu überprüfen, dann kann diese nicht als Angelegenheit des Rechts
betrachtet werden. Die Natur dieser Angriffe, die über die Grüne Linie
hinweg geschehen, und der Einfluss, den sie auf Israel und seine
Bevölkerung nehmen, wurden vom Gerichtshof niemals ernsthaft untersucht.
Und das Dossier, das dem IGH von der UNO übergeben wurde und auf das der
IGH seine Ergebnisse vor allem gründet, berührt dieses Thema kaum. Ich
suggeriere nicht, dass eine solche Untersuchung Israel von dem Vorwurf
entlasten würde, der Bau der Mauer verstoße in Teilen oder als Ganzes
gegen Internationales Recht. Sondern ich sage, dass das Ergebnis ohne
diese Untersuchung juristisch auf keiner guten Grundlage steht. Meiner
Meinung nach hätte es den humanitären Nöten der Palästinenser besser
gedient, hätte der IGH diese Betrachtungen berücksichtigt. Denn nun
fehlt es dem IGH an Glaubwürdigkeit.
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Ich akzeptiere das Recht der Palästinenser auf
Selbstbestimmung und die unbedingte Wahrung dieses Rechts. In der
Annahme –ohne dieser notwendigerweise zuzustimmen-, dass dieses Recht
für den vorliegenden Fall relevant ist und dass es verletzt wird, würde
Israels Recht auf Selbstverteidigung bei angemessener und rechtmäßiger
Befolgung in dieser Hinsicht jedoch jede Unrechtmäßigkeit ausschließen.
Als Bestätigung für diese Aussage nenne ich Artikel 21 der
„International Law Commission’s Articles on Responsibility of States for
Internationally Wrongful Acts“, der sagt: „Die Unrechtmäßigkeit einer
Handlung eines Staates ist ausgeschlossen, wenn die Handlung eine
gesetzliche Maßnahme der Selbstverteidigung in Übereinstimmung mit der
Charta der Vereinten Nationen darstellt.“
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Ob Israels Recht auf Selbstverteidigung eine
Rolle spielt, hängt meiner Meinung nach zum einen von einer Untersuchung
der Natur und des Umfangs der tödlichen Terrorangriffe ab, denen Israel
von jenseits der Grünen Linie ausgesetzt ist. Zum anderen muss
untersucht werden, ob die Mauer als Teil oder als Ganzes eine
notwendige, im Verhältnis stehende Antwort auf diese Angriffe ist. Es
ist für mich nicht unvorstellbar, dass einige Segmente der Mauer der
Untersuchung standhalten und andere nicht. Doch auf jeden Fall muss man,
um eine Schlussfolgerung zu erzielen, die Tatsachen, die für dieses
Thema von Belang sind, in Bezug auf spezifische Segmente der Mauer, auf
deren defensive Notwendigkeit und auf deren topographische Überlegungen
untersuchen.
Da der Gerichtshof diese Untersuchungen und Tatsachen nicht vorliegen hat,
ist er dazu gezwungen, die meiner Ansicht nach rechtlich dubiose
Schlussfolgerung zu ziehen, nach der das Recht legitimer oder
natürlicher Selbstverteidigung in diesem Fall nicht zutreffend ist. Der
Gerichtshof sagt dazu wie folgt:
Artikel 51 der Charta erkennt die Existenz eines natürlichen Rechts auf
Selbstverteidigung im Fall eines bewaffneten Angriffs eines Staates
gegen einen anderen an. Israel sagt jedoch, dass die Angriffe, die gegen
es geführt werden, keinem fremden Staat zugeschrieben werden können.
Der Gerichtshof weist außerdem darauf hin, dass Israel im besetzten
palästinensischen Gebiet die Kontrolle ausübt und dass es selbst sagt,
die Bedrohung, die es als Rechtfertigung für den Bau der Mauer
betrachtet, habe ihren Ursprung innerhalb, nicht außerhalb dieses
Gebietes. Somit ist die Situation eine andere als diejenige, die in den
Sicherheitsresolutionen 1368 und 1373 (beide aus dem Jahr 2001)
betrachtet werden. Und somit kann Israel diese Resolutionen auf keinen
Fall als Unterstützung seiner Behauptung, es übe das Recht der
Selbstverteidigung aus, hinzuziehen.
Konsequenterweise schlussfolgert der Gerichtshof, dass Artikel 51 der
UN-Charta in diesem Fall nicht von Bedeutung ist.
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Diese Schlussfolgerung birgt zwei
Grundprobleme:
a) Die UNO macht ihr natürliches Recht auf Selbstverteidigung nicht davon
abhängig, ob der bewaffnete Angriff von einem anderen Staat geführt
wird, wobei man in diesem Fall für einen Moment die Frage beiseite
lässt, ob Palästina vom IGH nicht als Staat angesehen werden sollte bzw.
sogar angesehen wird. Artikel 51 der UN-Charta sagt: „In der
vorliegenden Charta soll nichts das natürliche Recht eines Einzelnen
oder Kollektivs auf Selbstverteidigung behindern, wenn ein bewaffneter
Angriff auf ein UN-Mitglied geschieht.“ Darüber hinaus hat der
Sicherheitsrat in den vom IGH zitierten Resolutionen klar gemacht, dass
internationaler Terrorismus eine Bedrohung für den internationalen
Frieden und die internationale Sicherheit darstellt. In der Resolution
1368 wird auch erneut das natürliche Recht des Einzelnen oder des
Kollektivs auf Selbstverteidigung bestätigt. In dieser Resolution, die
nur einen Tag nach den Terrorangriffen auf die USA am 11. September 2001
verabschiedet wurde, beruft sich der Sicherheitsrat auf das Recht auf
Selbstverteidigung, indem er die internationale Gemeinschaft dazu
aufruft, Terrorismus zu bekämpfen. In keiner der Resolutionen begrenzt
der Sicherheitsrat die Anwendung auf Terroranschläge, die von Staaten
ausgeführt werden. In der Tat scheint das Gegenteil der Fall zu sein.
b) Israel sagt, es habe ein Recht, sich gegen Terrorangriffe zu
verteidigen, denen es von jenseits der Grünen Linie ausgesetzt ist und
dass es, indem es dies tut, sein natürliches Recht auf
Selbstverteidigung ausübt. Bei Einschätzung der Rechtmäßigkeit dieser
Behauptung ist es irrelevant, dass Israel die Kontrolle über das
besetzte palästinensische Gebiet ausüben soll –was auch immer das
Konzept der „Kontrolle“ angesichts der Terroranschläge aus diesem Gebiet
bedeuten mag- oder dass die Angriffe nicht von außerhalb dieses Gebietes
kommen. Im gleichen Ausmaß, in dem der IGH die Grüne Linie als
Trennungslinie zwischen Israel und dem besetzten palästinensischen
Gebiet betrachtet, muss er den Teil des Gebietes, aus dem die
Terroranschläge kommen, als nicht zu Israel gehörend betrachten. Deshalb
müssen Angriffe auf Israel, die von jenseits der Grünen Linie herrühren,
Israel erlauben, sein Recht auf Selbstverteidigung gegen solche Angriffe
auszuführen, unter der Voraussetzung, dass die Maßnahmen dieser
Selbstverteidigung mit der legitimen Durchführung dieses Rechtes
übereinstimmen. Um also ein Urteil zu sprechen, d. h. um zu entscheiden,
ob der Bau der Mauer als Ganzes oder in Teilen der Überprüfung
standhält, müssen alle relevanten Fakten, die die Themen der
Notwendigkeit und der Proportionalität betreffen, analysiert werden. Der
IGH vermied es, diese wesentlichen Themen genauer zu untersuchen.
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In seiner Zusammenfassung der Entscheidung,
nach der die Mauer Internationales Recht verletzt, sagt der IGH
folgendes:
Zusammenfassend sei gesagt, dass das Gericht angesichts des zur Verfügung
stehenden Materials nicht überzeugt davon ist, dass der spezifische
Verlauf, den Israel für die Mauer gewählt hat, nötig ist, um Sicherheit
zu erreichen. Die Mauer entlang der gewählten Route und das damit
verbundene Regime verletzen ernsthaft eine Reihe von Rechten der
Palästinenser, die in diesem von Israel besetzten Gebiet leben. Und die
Gesetzesübertretung, die aus der Route resultiert, kann nicht mit
militärischer Dringlichkeit oder Forderung nach nationaler Sicherheit
oder öffentlicher Ordnung gerechtfertigt werden. Der Bau einer solchen
Mauer stellt folglich Verstöße Israels gegenüber mehreren seiner
Verpflichtungen hinsichtlich des zutreffenden Internationalen
Humanitären Rechts und Internationalen Menschenrechts dar.
Das Gericht unterstützt diese Schlussfolgerung mit ausgedehnten Zitaten
über wichtige juristische Auflagen und mit Beweismaterial, das sich auf
das Leiden bezieht, das die Mauer entlang einiger Abschnitte ihres
Verlaufs verursacht. Doch in dieser Schlussfolgerung scheitert der
Gerichtshof darin, irgendwelche Fakten oder Beweismaterial zu benennen,
die Israels Behauptungen, es handle sich um eine militärische Notlage
oder um Erfordernisse für die nationale Sicherheit, widerlegen. Es ist
wahr, dass der Gerichtshof in der Behandlung dieses Themas geltend
macht, er ziehe seine Schlussfolgerung aus den Berichten, die er von der
UNO erhalten hat. Es ist aber auch wahr, dass der Gerichtshof sich kaum
auf die Berichte über Israels Position, die den UNO-Berichten angefügt
waren, bezogen hat, wobei die Positionspapiere Israels das Material, auf
das sich der Gerichtshof bezog, in Frage stellen. Stattdessen ist alles,
was wir vom Gerichtshof erhalten haben, eine Beschreibung des Schadens,
den die Mauer zufügt, und eine Diskussion über die Verletzung
verschiedener Internationaler Rechte. Was fehlt, ist eine Untersuchung
der Tatsachen, die vielleicht gezeigt hätte, warum die militärischen
Notwendigkeiten, die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung
nicht mit der Mauer als Ganzes oder in Teilen in Verbindung gebracht
werden können. Das Gericht sagt, es sei nicht „überzeugt“. Doch es
versäumt aufzuzeigen, warum es nicht überzeugt ist. Deshalb ist die
Schlussfolgerung des Gerichts nicht überzeugend.
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Es ist wahr, dass einige der Internationalen
Humanitären Gesetze, die der Gerichtshof zitiert, keine Ausnahmen für
militärische Notwendigkeiten zugestehen. Artikel 46 der Haager Regeln
sagt, dass Privateigentum respektiert werden muss und nicht konfisziert
werden darf. Der Generalsekretär der UNO beschreibt Israels Position zu
diesem Thema im Anhang des UNO-Berichtes, der dem Gerichtshof vorlag,
wie folgt: „Die israelische Regierung argumentiert: Es gibt keine
Änderung bezüglich des Eigentums des Landes; Kompensation ist verfügbar
für die Benutzung des Landes, für Ernteerträge oder für Schädigung des
Landes; Anwohner können den Obersten Gerichtshof anrufen, um den Bau zu
stoppen oder zu ändern, und es gibt keine Änderung bezüglich des
Anwohnerstatus.“ Der Gerichtshof versagt darin, diese Argumente
anzusprechen. Während diese israelischen Vorlagen nicht unbedingt
entscheidend für die Angelegenheit sind, hätten sie doch vom Gerichtshof
behandelt werden müssen. Man hätte dadurch Bezug nehmen müssen auf eine
weitere Behauptung Israels –die der Gerichtshof als „Zusicherung
Israels“ erwähnt hat-, nach der die Mauer nur vorübergehenden Status
habe.
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Auch Paragraph 6 von Artikel 49 der Vierten
Genfer Konvention gesteht keine Ausnahmen für militärische
Notwendigkeiten oder Aspekte der Sicherheit zu. Er sagt, dass die
Besatzungsmacht Teile ihrer Bevölkerung nicht in das besetzte Gebiet
deportieren oder transferieren soll. Ich stimme damit überein, dass
diese Bedingung auf die israelischen Siedlungen in der Westbank
angewandt werden kann und dass die Existenz dieser Siedlungen Artikel
49, Paragraph 6 verletzt. Es folgt, dass die Segmente der Mauer, die von
Israel gebaut werden, um seine Siedlungen zu schützen, eo ipso eine
Verletzung Internationaler Rechte sind. Wenn man darüber hinaus das
sichtbar große Elend sieht, dem die palästinensische Bevölkerung in und
um die Enklaven, die durch diese Segmente der Mauer entstehen,
ausgesetzt ist, zweifle ich ernsthaft daran, dass die Mauer hier im
erforderlichen Verhältnis zur Sicherheit der israelischen Bevölkerung
steht.
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Noch ein abschließendes Wort zu meiner
Position, warum der Gerichtshof den Fall hätte ablehnen sollen. Es
könnte argumentiert werden, dass das Gericht viele wesentliche Fakten
Israels bezüglich des Baus der Mauer nicht erwähnt hat, weil Israel sie
nicht präsentiert hat, womit das Gericht Recht habe, sich vor allem auf
die gelieferten Berichte der Vereinten Nationen zu beziehen. Diese These
wäre richtig, wenn es sich hier nicht um ein beratendes Gutachten
handeln würde, sondern wenn der Gerichtshof einen kontroversen Fall zu
behandeln hätte, bei dem jede Partei ihr Beweismaterial für die
abgegebenen Behauptungen liefern müsste. Doch dieses Vorgehen trifft für
ein beratendes Gutachten nicht zu. Mit der Anerkennung des Gerichts,
dass Israels Einverständnis zu diesem Verfahren nicht nötig sei, hatte
Israel keine rechtliche Verpflichtung, an diesem Verfahren teilzunehmen
oder Beweismaterial anzufügen, das seine Behauptung bezüglich der
Rechtmäßigkeit der Mauer unterstützte. Ich habe meine eigene Ansicht
darüber, ob es tatsächlich weise war, dass Israel nicht die
erforderlichen Informationen geliefert hat. Doch es ist nicht an mir,
diese Frage zu entscheiden. Tatsache bleibt, dass Israel hier keine
Verpflichtung hatte. Der Gerichtshof darf deshalb keine nachteiligen
Schlussfolgerungen aus Israels Entscheidung, dieses Material nicht zu
liefern, ziehen. Ohne selbst ausführliche Erkundigungen einzuholen, darf
er auch nicht annehmen, dass das ihm vorliegende Informations- und
Beweismaterial ausreicht, um jede seiner weitreichenden
Schlussfolgerungen zu stützen.
*Anmerkung der HC-Redaktion: Es handelt sich
hierbei um eine Zusammenfassung der Stellungnahme von Richter Buergenthal.
Dies ist keine vollständige Übersetzung, sondern soll lediglich dazu dienen,
um das Gesamtbild der vom Richter vertretenen Meinung wiederzugeben. Der
Originaltext von Richter Buergenthal findet sich Online, unter "Declaration
of Judge Buergenthal ".
english:
opinion_declaration_buergenthal
Wir danken Daniela Marcus für Ihre Hilfe bei der Übersetzung und
Zusammenstellung dieser Ausschnitte.
Kommentar:
Absurdes Theater in der UNO?
Das Ja Deutschlands zur UN-Resolution über das
"Mauergutachten" steht dem Kampf um Recht und Freiheit vollständig
entgegen...
hagalil.com
20-07-2004 |