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Beobachtungen bei einem Stadtrundgang im April 2004:
Wenn die Juden provozieren wollen ...

Von Iris Noah

Seit einigen Monaten bietet die Agentur bellevue-berlin Führungen mit dem Schwerpunkt Architektur und Kunstgeschichte in Berlin an. Nachdem ich vor einigen Wochen an einer informativen, gut ausgearbeiteten und anschaulich aufbereiteten Führung "die Kuppeln Berlins - eine Bauform als Ausdruck politischen Machtanspruchs" mit Michael Jelkmann teilgenommen hatte, beschloss ich nun bei "Architekturen erzählen Geschichten des Berliner Judentums: Entwicklung und Tradition, Ritus und Mythos" mitzugehen.

Eine kleine Gruppe fand sich vor dem ehemaligen Restaurant Oren neben der Neuen Synagoge ein. Da ich über Architektur wenig weiß, war ich sehr gespannt, wie nun Architektursprache Entwicklungen spiegelt. Wir überquerten die Straße und sahen vor uns die Vorderfront der Neuen Synagoge. Im Jahr der Einweihung des Gebäudes habe es nur noch eine andere sichtbare Kuppel gegeben, nämlich die des Stadtschlosses. Daraus zog die Stadtführerin den Schluss, die Juden hätten mit "ihrer eindrucksvollen Kuppel provozieren wollen". Nun könnte man durchaus der Frage nachgehen, warum sich - wofür es Belege gibt - Nichtjuden von diesem Gebäude provoziert fühlten. Darüber erfuhren wir aber nichts. Da die Stadtführerin sich nicht darüber informiert hatte und deshalb nicht vermitteln konnte, was das Konzept einer Synagoge ist, diente die christliche Kirche als Bezugsrahmen und Vergleichspunkt. Da in der jüdischen Religion die Darstellungsmöglichkeiten beschränkt seien, habe es auf den Fenstern "nur" ornamentale Darstellungen gegeben im Gegensatz zu den Heiligendarstellungen auf christlichen Kirchenfenstern. Die bunten Doppelglasfenster seien durch eine Gasbeleuchtung illuminiert worden und hätten wie ein orientalisches Märchenschloss ausgesehen.

Über den Weg der Berliner Juden von der verachteten Minderheit ins Bürgertum, für den dieses Gebäude steht und auch über geschichtliche Entwicklungen des Ritus (Liturgie) erfuhren wir nichts, weder über den Komponisten Lewandowski noch darüber, was liberales Judentum, für das die Neue Synagoge steht, eigentlich bedeutet und wie es sich von orthodoxem Judentum unterscheidet. Moses Mendelssohn wurde zwar als wichtige Persönlichkeit der Aufklärung erwähnt. Worin sein Beitrag bestand, außer dass "er den Juden die deutsche Sprache gebracht" habe und mit Nicolai und Lessing befreundet war, erfuhren wir nicht. Statt dessen wurde die beliebte Geschichte vom Rosenthaler Tor, durch das Moses Mendelssohn in die Stadt gekommen sei, erzählt, die durch ständige Wiederholung auch nicht richtiger wird. Das Rosenthaler Tor lieferte auch das Stichwort dafür, dass die Wächter der jüdischen Gemeinde darüber befunden hätten, welcher Jude in die Stadt durfte. Ausgeblendet wird dabei, dass es die staatliche Obrigkeit war, die festsetzte, welche Anzahl an Juden unter welchen Bedingungen in der Stadt leben durften. Groß war der Entscheidungsspielraum der jüdischen Wächter nicht gewesen, denn sogar die Zahl der Krankenwärter, die von der jüdischen Gemeinde beschäftigt werden durften, war vorgegeben.

Auf einige architektonische Details der Neuen Synagoge wurde zwar verwiesen, was sie aber bedeuten blieb offen. Die Pogromnacht wurde nicht erwähnt und auch nicht die Bombenschäden und der Abriß des ursprünglichen Synagogenraumes. DDR-Zeit und die Restaurierung oder gar das Konzept der Restaurierung waren auch kein Thema. Dabei standen wir vierzig Minuten vor dem Gebäude.

Stattdessen gab es einen langatmigen Exkurs in die jüdische Tradition, der zum unerfreulichen Höhepunkt der Führung wurde. Anknüpfungspunkt dafür war die hebräische Inschrift der Synagoge, die falsch zitiert wurde. Nun wird man nicht unbedingt Hebräischkenntnisse bei einer Stadtführerin voraussetzen. Da aber diese Inschrift in diversen Publikationen übersetzt ist, kann jeder herausfinden, was sie tatsächlich bedeutet und welche zwei Übersetzungsvarianten möglich sind. Aber auch die wurden falsch hergeleitet. Die Beterschaft der Neuen Synagoge wurde zur "Reformgemeinde" ernannt, die am Sonntag ihre Gottesdienste feierte. Zwar gab es in Berlin eine solche Reformgemeinde mit - zeitweise - Sonntagsgottesdiensten, aber nicht in der Oranienburger Straße. Deutlich wurde dadurch, dass unser Guide sich nicht mit der Struktur der Gemeinde beschäftigt hatte. Wir erfuhren über "Torah" (der noch einige biblische Bücher zusätzlich zugeschrieben wurden), Mischna, Talmud, Midrasch etc. Dies hörte sich für die anwesenden Nichtjuden durchaus eindrucksvoll an. Richtig war davon nichts, außer dass jüdische Auslegungstradition immer im Fluss sei und der "Eruv", ein Gebiet, in dessen Grenzen sich am Schabbat orthodoxe Juden bewegen dürfen. "Das Scheunenviertel war ja in der Nähe". Als ob die orthodox geprägten Juden aus Osteuropa, die sich im Scheunenviertel niedergelassen hätten, in die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße gegangen wären.

Anschließend gingen wir in die Heckmann Höfe um von hinten einen Blick auf das Synagogengebäude zu werfen. Hier wurde deutlich, dass der Rundgangsleiterin trotz Grundriss, den sie uns zeigte, nicht klar war, wie die Ausdehnung der Neuen Synagoge tatsächlich war. Zu der Glaswand, die heute den ehemaligen Eingangsbereich abschließt, fiel ihr nichts anderes ein als der Vergleich mit einem Gewächshaus, und auch den kleinen Synagogenraum, in dem heute Gottesdienste stattfinden, lokalisierte sie falsch. Das Gebäude des ehemaligen jüdischen Krankenhauses erklärte sie für nicht mehr existierend, dabei war es nur 50 Meter Luftlinie von uns entfernt, wenn auch nicht innerhalb unseres Blickfeldes. Eine halbe Stunde später würden wir - auf der anderen Straßenseite - an dem Gebäude vorbeikommen, an dem sogar eine bebilderte Gedenktafel hängt, welche die unterschiedlichen Funktionen zu unterschiedlichen Zeiten - also auch das Krankenhaus - sichtbar macht.


Bildunterschrift: Heckmann Höfe: Rückseite Neue Synagoge Oranienburger Straße, Foto: G. Bramburger

Dann fragte eine Teilnehmerin, zu welchem Gebäude die Glasspitzen vor uns gehören. Die Stadtführerin zuckte ahnungslos die Schultern und konnte keine Auskunft geben, obwohl gerade dieses Gebäude das jüngste Beispiel zum Thema "Architekturen erzählen die Geschichte des Berliner Judentums" in diesem Viertel wäre. Wir bekamen Bilder von der Altneuschul in Prag, den Berliner Synagogen am Fraenkelufer, in der Fasanenstraße und in der Rykestraße gezeigt. Die Zahl der Plätze in den jeweiligen Synagogen entsprach auch nicht der Realität, obwohl das noch eine der leichteren Recherche-Aufgaben wäre, und daß es in der Fasanenstraße heute keine Synagoge mehr gibt, denn diese wurde weitgehend in der Pogromnacht zerstört und das heute dort befindliche Gebäude das Gemeindezentrum ist, fiel auch unter den Tisch. Die Synagoge Rykestraße, die in der Berliner Synagogenlandschaft eine besondere Rolle spielte - sie wies auch Platz für eine Orgel und Chorempore auf, führte bereits in den 1920iger Jahren Bat-Mizwa-Feiern für Mädchen durch - wurde zugeschrieben, eine Synagoge für die "liberalen Strengen" gewesen zu sein. Auch die Zahl der Mitglieder der Ostberliner Gemeinde zur Zeit des Mauerfalls wurde auf 60 gehörig geschrumpft.

Nun ging es zu den "strengen Strengen", also zum Gebäude der orthodoxen Adass Jisroel Gemeinde, der einige Sozialeinrichtungen angedichtet wurden. Das große Spektrum an Aktivitäten , das diese Gemeinde vor der Schoah charakterisierte, kam nicht ins Blickfeld außer der Friedhof in der Wittlicher Straße, von dem ein Teilnehmer erzählte. Er wies auf den größten jüdischen Friedhof Europas in Weissensee hin. Zu dem fiel der Stadtführerin nicht mehr ein als dass er "ganz charmant" sei. Wir sahen auf einen leeren zweiten Hof, auf dem früher eine Synagoge stand. Wir hörten über eine Mikwe (Ritualbad), die baufällig sei und deshalb nicht mehr in Betrieb. Ein älteres Ehepaar nickte sich verständnisinnig zu und sagte: "Worms, Speyer - da waren wir auch schon".

Hier wurde endgültig klar, wie solche Führungen funktionieren: Es werden durch Andeutungen einige Assoziationen hervorgerufen, die von Teilnehmenden mit schon vorhandenen Bruchstücken gekoppelt werden (Worms, Speyer) und die Bilder von Judentum bestätigen und verstärken, die schon vorhanden sind. Dass Mikwaot für orthodoxe Jüdinnen heute und zunehmend auch für jüdische Frauen aus dem liberalen Spektrum eine Rolle spielen und heutzutage eben nicht mehr Räume wie in Worms und Speyer sind, wird nicht einmal andeutungsweise klar, und was die Funktion einer Mikwe ist, kam nicht zur Sprache. Einige Minuten vorher an anderer Stelle hätte es sich angeboten über eine real bestehende Mikwe zu sprechen, die just zur Zeit des Rundgangs geöffnet war. Worin die Kontroversen zwischen liberalen und orthodoxen Juden bestanden, wurde nicht deutlich, außer dass die einen strenger in der Einhaltung der Gebote sind als die anderen. Aber was sollen Außenstehende sich darunter vorstellen? Angeboten hätten sich an dieser Stelle eine ganze Reihe von Themen: Orthodoxie im Kaiserreich, Entstehung der modernen Orthodoxie, Gemeindestrukturen etc.

Wir gingen die Auguststraße hinunter und bogen in die Sophienstraße ein. Im Hof des ehemaligen Handwerkervereinshauses, wo heute die Sophiensäle sind, hörten wir von Sascha Waltz und ihrem experimentellen Theater und dass jüdische Handwerker zur Etablierung besserer Standards wie Pausen während der Arbeitszeit, ausreichend Toiletten und Ruheräumen beigetragen hätten. Das Handwerkervereinshaus sei so eine Art Vorläufer von ver.di. Da wurden Warenhausgründer wie Tietz, Jandorf oder Wertheim, in deren Kaufhäusern das durchaus zutraf, mit jüdischen Handwerkern verwechselt. Am ersten Berliner Standort von Wertheim kamen wir sogar vorbei. Von den jüdischen Aktivitäten, die es in den Sophiensälen durchaus gegeben hat, erfuhren wir nichts.

Anschließend gingen wir in Richtung S-Bahn und endeten einige Schritte nach den S-Bahn-Bögen mit dem Blick auf die Rosenstraße. Der Frauenprotest, der durch Margarethe Trottas Film bekannt geworden ist, wurde ein Jahr vordatiert und die Alte Synagoge wurde zu den Müllcontainern verlegt, wo sie sich nicht befunden hat. Auch hier erfuhren wir nichts von der Geschichte des Ortes. Wir bekamen - wie bei Adass Jisroel - keine Abbildung von der Synagoge, von der erzählt wurde, zu sehen.

Bei manchen Führungen ist neben den Fehlinformationen, die sie liefern interessant, wovon nicht die Rede ist und welches Geschichtsbild damit transportiert wird. Auf dieser Führung habe ich gelernt, wie man über Architektur im luftleeren Raum - also ohne die gesellschaftlichen Bedingungen zu reflektieren - reden kann, sich auf Exkurse zurückziehen kann und durch die Verwendung einiger Fachworte blenden kann ohne allzu viel zu sagen und gleichzeitig alles blass und seltsam weit weg ist, obwohl betont wird, wie wichtig es doch sei über Judentum nicht nur im Hinblick auf die Schoah zu reden. Realitäten wie Zerstörung, Enteignung, Schändung, Pogromnacht etc. kamen nicht vor, auch keine Zahlen, wie viele Juden damals und wie viele heute in Berlin leb(t)en. Höchstens indirekt wurde deutlich, dass irgendwie irgendwann irgendwas passiert sein muss, da Gebäude nicht mehr bestehen oder die Neue Synagoge "ursprünglich dreißig Meter länger war als heute". Es wird über Juden und Judentum geredet ohne etwas darüber zu vermitteln und gleichzeitig bleibt alles vage im Nebel der Geschichte, ob nun die Gemeindegeschichte, die Beiträge der Juden zur Berliner Geschichte oder die Rolle der Täter, Mitläufer und Zuschauer.

Dazu gelernt habe ich auf der Führung, dass die gusseisernen Säulen der Neuen Synagoge ein Ausdruck dafür waren, wie sehr die Berliner Juden up to date waren. Der Baumeister Knobloch hatte sie von seinem Kollegen Schinkel abgeschaut, der mehrmals in England gewesen war und den Umgang mit Gusseisen in der Architektur nach Berlin mitgebracht habe.

Verstanden habe ich nicht, warum sich die Architekturen, die Geschichten des Berliner Judentums erzählen, auf ein in Teilen noch existierendes Synagogengebäude (Neue Synagoge) und zwei Orte, an denen von Architektur nichts mehr zu sehen ist, beschränkt und diverse noch real vorhandene Architekturen, die jüdische Geschichte erzählen, bei der Führung nicht berücksichtigt wurden.

Früher konnte man sich bei den kleinen Stadtführungsagenturen sicher sein, dass alle Rundgangsleiter in etwa den gleichen Standard haben. Bei bellevue-berlin ist das leider nicht der Fall, deshalb sollten Interessierte nachfragen, wer die jeweilige Tour durchführt.

Gesamteindruck: Thema verfehlt und ein paar neue Mythen erfunden und die gängigen Stereotypen bestätigt; viele Worthülsen mit geringem Informationswert. Die wenigen Bruchstücke, die stimmten, wurden meist falsch zugeordnet (Neue Synagoge - Eruv - Scheunenviertel). Der Preis von 10 Euro für diese 1 ½ Stunden war unangemessen.

Zum Weiterlesen:

Jüdisches Leben eine Assoziationslandschaft - Anne Frank Zentrum Berlin
"gehen & sehen" - Scheunenviertelrundgang
Die sieben Pflanzen Israels - Rundgang im botanischen Garten

Schalom Berlin: Zukunftsvision - Erinnerung - Klischee-Vermarktung

hagalil.com 20-04-2004

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