ANNE FRANK ZENTRUM BERLIN
- ein Erfahrungsbericht
Jüdisches Leben in Berlin:
- nur eine Assoziationslandschaft?
Als das Anne Frank Zentrum vor etwas mehr
als zwei Jahren seine Pforten in Berlin eröffnete, trat es mit einer
ungewöhnlichen Konzeption an die Öffentlichkeit: Jugendliche sollten
Jugendliche auf den Spuren jüdischen Lebens führen und aufgrund der
größeren Nähe andere Möglichkeiten der Themenvermittlung wahrnehmen.
Zur Einführung in diese Tätigkeit werden regelmäßig für Anfänger
ohne oder mit geringem Vorwissen Einführungsseminare angeboten.
Am 3. Juniwochenende wurde nun zu einem
Tagesseminar mit folgendem Ausschreibungstext eingeladen:
Spuren jüdischen Lebens in Berlin
Die Spandauer Vorstadt war eines der Zentren jüdischen Lebens in
Berlin. Wir wollen in diesem Seminar erkunden, was an Spuren aus
früherer und gegen-
wärtiger Zeit in den Straßen rund um das Anne Frank Zentrum zu
finden ist und überlegen, wie wir selbst Jugendgruppen auf solchen
Rundgängen begleiten können.
12 Interessierte, davon 3
Jugendliche, hatten sich zu dieser Schulung im Anne-Frank-Zentrum
eingefunden und wurden von der Seminarleiterin, einer ehrenamtlichen
Mitarbeiterin, freundlich begrüßt. Nach einer kurzen
Vorstellungsrunde, bei der wir unseren Namen, schulischen oder
beruflichen Hintergrund sowie unser persönliches Befinden
mitteilten, fanden wir fotokopierte Auszüge von Aufsätzen auf sehr
akademischen Niveau zur jüdischen Berlingeschichte. Einzeln oder zu
zweit sollten nun die Teilnehmer dann in 10 - 15 (!) Minuten - so
die zeitliche Vorgabe - mehrere Themenkomplexe wie "Emanzipation und
Aufklärung", "die jüdischen Salons", "Reformen im Judentum", "Juden
in der Weimarer Republik" erarbeiten und danach der Gesamtgruppe
vorstellen.
Bei dieser Präsentation wurden dann
Textausschnitte und Abbildungen auf einem "Zeitstrahl" in ihrer
Abfolge aufgeklebt. Was erarbeitet worden war, und nun geäußert
wurde, sowie andere "Vorkenntnisse", Vorurteile und Halbwahrheiten
wurde ohne jede Strukturierung, Kommentierung oder Klärung
stehengelassen. Alles war gleich gültig bis hin zur Antwort der
Seminarleiterin, daß Lessing Jude gewesen sei, und zwar mit der
Begründung "wenn er auch auf der Abbildung ist, ist er Jude".
Anschließend ging es zum praktischen Teil in die nahegelegene Große
Hamburger Straße: erster Begräbnisplatz, das Altersheim - später
Deportationssammellager - die jüdische Oberschule sowie einige
Denkmäler liegen hier nahe beisammen. Wer erwartet hatte, daß
fundiertes Hintergrundwissen vermittelt würde, wurde enttäuscht. Die
Seminarleiterin Sabine (Name geändert) bezeichnete ihren
Kenntnisstand mit "ihr seht, blankes Unwissen". Die interessante
Begründung dafür: Da die Veranstaltungen des Anne-Frank-Zentrums
Berlin hauptsächlich von 12 bis 13jährigen besucht würden, sei das
nicht so wichtig. Da käme es auf andere Qualitäten an. Welche, das
wurde im Verlauf der Exkursion mehrmals deutlich: "Wenn ihr auf eine
Frage keine Antwort wißt, dann gebt die Frage an die Gruppe zurück
und laßt die Leute assoziieren".
Zuerst sollten die Teilnehmer den Begräbnisplatz erkunden und dann
austauschen, was sie wahrgenommen haben. Bei einer schwarzen Tafel,
deren Inhalt deutsch und hebräisch auf die Funktion des Ortes
hinwies, meinte Sabine: "Ihr könnt die Leute darauf hinweisen, daß
die Sprache, die sie nicht kennen, hebräisch ist und anhand der
beiden Daten erklären, daß der jüdische Kalender anders ist". Was
nun am jüdischen Kalender anders ist, konnte nicht geklärt werden,
denn darüber gingen die Vorstellungen sehr auseinander: Ist es ein
Sonnenkalender oder ein Mondkalender? Gibt es etwas wie Schaltjahre?
Heißen vielleicht nur die Monate anders als im bürgerlichen
Kalender? Die Antworten blieben offen.
Beim Gedenkstein an Moses Mendelssohn wurden Ideen assoziiert, was
die kleinen Steine, die abgelegt wurden, bedeuten. Die Teilnehmer
erfuhren jedoch nicht, was die Hintergründe der jüdischen Tradition
waren und was ihre eigenen Vorstellungen. Mit Verweis auf den Sockel
wurde vermutet, daß es wohl Versuche gegeben habe, diesen Stein zu
schänden. Auf die frischen Schändungsspuren der letzten drei Wochen,
die auf der einen Seite des Steins zu sehen waren, wurde mit keinem
Wort eingegangen: Ein 10 cm hohes Hakenkreuz, die eingeritzte
Inschrift "Jude" (5 cm hoch) sowie ein "zur Ehre" an der Seite und
ein fünfmarkstückgroßes herausgeschlagenes Loch.
Vom jüdischen Altersheim wurde erzählt, daß es das einzige
dreistöckige Haus in der Straße gewesen sei. Alle anderen Häuser
seien einstöckig gewesen "wie diese beiden da". Warum diese Aussage
von Bedeutung war wurde nicht klar, ebensowenig, wie das überhaupt
möglich war, denn noch heute stehen in diesem Abschnitt der Straße
eine Reihe alter Häuser, die drei oder vier Stockwerke haben. Noch
nicht einmal der teilnehmenden promovierenden Kunsthistorikerin
fielen diese Widersprüchlichkeiten auf.
Immer wieder wurden Erlebnisse früherer Bewohner erzählt mit dem
Hinweis, die Jugendlichen dann zu fragen, wie sie sich an deren
Stelle gefühlt hätten (wenn es Opfer waren) oder welche Beweggründe
das jeweilige Handeln wohl ausgelöst hatten (wenn es Täter oder
Mitläufer waren).
Da hatte ein jüdischer Junge einen Sprintwettbewerb gewonnen und
durfte aber nicht auf das Siegertreppchen oder der Kirchendiener
hatte "Sternträger" nicht in die Kirche gelassen, weil sie keine
"Arier" waren. "Ihr könnt die Jugendlichen dann fragen, woher der
Begriff "Arier" kommt". Schüchtern kam von hinten: "Und woher kommt
der Begriff Arier?". "Ich weiß es auch nicht, weiß es jemand von
Euch?" wurden die Teilnehmer beschieden, und auch diese Frage blieb
offen.
Mehrmals betonte Sabine, wie wichtig es sei, den Jugendlichen
deutlich zu machen, daß Juden keine einheitliche Gruppe seien,
sondern sehr unterschiedlich - daß es Reiche und Arme gäbe wie
überall. Als es konkret um Berufsfelder ging, wurden den üblichen
Bildern entsprechend Juden als Banker, Kaufleute (Kaufhausgründer)
und Verleger benannt. Dabei tauchte dann die Frage auf, ob es "Juden
erlaubt war Zeitungen herauszugeben. Denn da bestand doch die Gefahr
(!), daß sie die deutsche Öffentlichkeit mit ihrer Meinung
beeinflussen". Das hinter dieser Äußerung liegende problematische
Muster wurde in keiner Weise thematisiert, sondern die Antwort blieb
vage "Was nicht ausdrücklich verboten war, war erlaubt - also
konnten sie es tun".
Selbst die wenigen vorhandenen Wissenssplitter fanden keine richtige
Zuordnung. Jüdische Frauen (gemeint waren die des Bürgertums)
durften zwar lernen aber nicht arbeiten. Als ob dies für ihre
nicht-jüdischen Standesgenossinnen der Fall gewesen wäre. Einige
Sätze später wurde dann auf Rahel Hirsch - aus traditioneller
Familie und Medizinprofessorin - sowie auf Alice Salomon, der
Initiatorin der ersten Ausbildungsstätte für soziale Frauenberufe
verwiesen. Ja was nun? Durften sie nun arbeiten oder nicht? Wenn ja
in welchen Bereichen und ab wann? Und wie war die Situation in
nicht-jüdischen Kreisen zur gleichen Zeit? Dies alles blieb - wie so
vieles andere - im Diffusen. Dabei wäre gerade Alice Salomon ein
hervorragendes Beispiel für die Unterschiedlichkeit von
Selbstdefinition und Fremdwahrnehmung: Als Jüdin geboren wuchs sie
in einem assimilierten Elternhaus auf, konvertierte zum Christentum
und mußte - von den Nazis als Jüdin definiert - nach Amerika
emigrieren.
Auch wenn es um so konkrete Fragen ging, wie viele Juden zu welcher
Zeit in Berlin gelebt haben und wie hoch der jüdische
Bevölkerungsanteil in welchem Viertel war, gab es keine konkreten
Antworten, sondern Schätzungen. Dem Bayrische Viertel in Schöneberg
wurde für das Jahr 1933 ein Bevölkerungsanteil von 20 %
zugeschrieben.
Keiner hatte ein großes Hintergrundwissen, aber "gut, daß wir
darüber geredet haben"; man hat sich nett unterhalten, war an ein
paar Orten, hat assoziiert, diskutiert und spekuliert. Allen - außer
der Verfasserin - hat es gut gefallen, weil "man soviel Neues
erfahren hat" - allerdings nicht vom jüdischen Leben und von
jüdischer Geschichte. Und am Ende des Seminartages hat jeder, der
wollte einen Ordner bekommen, in dem sechs Rundgänge beschrieben
waren, "die ihr jetzt alle machen könnt". Die erste hat sich dann
gleich für die Betreuung einer Schulklasse am darauffolgenden
Dienstag gemeldet.
Ein jüdisches Sprichwort sagt:
"Die halbe Wahrheit ist die
gefährlichste Lüge"
oder:
was würde Anne Frank wohl dazu sagen?
Iris Noah
haGalil onLine 22-06-2000
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