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Nümbrecht -
Rachel Grünebaum ist erschöpft. Die 77-Jährige hat wieder einige
furchtbare Nächte verbracht, denn sie wusste, sie würde wieder
reden, vor Schülern in Bielstein und gestern in Nümbrecht - reden
über ihre Erlebnisse in Auschwitz, über die Zwangsarbeit bei Krupp
in Essen 1944/45, wo sie auf dem Weg in die Fabrik von Jugendlichen
beschimpft und mit Steinen beworfen wurde - Jugendlichen, die so alt
waren wie ihre heutigen Zuhörer. Oder über Bergen-Belsen, wo sie,
nur noch 25 Kilo schwer, am 15. April 1945 von den Engländern
befreit wurde.
"Ich will reden", sagte Grünebaum gestern vor den drei 10er-Klassen
des Gymnasiums, "weil ich es schlimm finde, im Fernsehen all die
Beiträge über den Rechtsextremismus zu sehen." Weil es Leute gibt,
die nicht glauben, was damals war. Rachel Grünebaum weiß, wie es
damals war.
Elisabeth Schnitzler war 19, als die Deutschen ihr Dorf Sighet in
Siebenbürgen besetzten und die Juden in einem Ghetto zusammen
pferchten. Dann sollten sie weggebracht werden "zur Arbeit". Zwei
Tage und drei Nächte fuhren sie in Viehwaggons nach Auschwitz. Es
gab einen Eimer für die Notdurft und einen Eimer mit Wasser - für 90
Menschen. Was an weiteren unvorstellbaren Qualen und Entwürdigungen
noch auf sie wartete, ahnten sie nicht.
Auschwitz, Selektion gleich am Gleis: Nach links gingen die Mutter,
die Schwester mit ihren Kindern, die Tante. 25 Verwandte hat Rachel
Grünebaum nie wieder gesehen. Sie kam nach rechts. "Sie haben uns
immer getrieben, wie Vieh", sagt sie den Schülern.
Der Geruch fiel ihr sofort auf. Als man ihr bereits die Kopfhaare,
die Achsel- und die Schamhaare wegrasiert hatte, erfuhr sie von
einer Frau auf ihre Frage, wo denn die anderen von der linken Seite
wären: "Guck da raus, da ist der Kamin und der Rauch, die brennen da
jetzt." Die Frau ist irre, dachte Rachel Grünebaum, die sind doch
hier alle verrückt.
Elf Monate hatte sie eine Unterhose, ein graues Kleid, eine Decke.
Kaum Zeit für die Körperwäsche, geschweige denn Kleidung, Prügel an
den Latrinen. Neun Frauen lagen auf einer 1,5 x 1,5 Meter großen
Koje, übereinander. Schmutz, Scham, Hunger, Gestank, Angst. Wer
schlapp war oder Pickel hatte, wurde aussortiert. Für neun Personen
ein Topf mit Flüssigkeit zum Essen, und jeder passte auf, dass der
andere nicht zu viel nahm. "Das kann man nicht beschreiben", sagt
Rachel Grünebaum, "sie haben uns unser Menschsein genommen."
Schulleiter Dr. Günther Schäfer hatte zu Beginn Elisabeth Rachel
Grünebaum, die eventuell wieder nach Israel will, vorgestellt. "Wir
möchten, dass ihr erfahrt, was gewesen ist; wir möchten euch immun
machen gegen den Rechtsradikalismus, dass ihr aktiv werdet", sagte
er im Namen der drei Geschichtslehrer, die die Schüler auf das Thema
vorbereitet hatten.
Rachel Grünebaums eigene Kinder haben viele Jahre nichts über ihre
schrecklichen Erlebnisse erfahren. Sie konnte nicht. Nachts kamen
die Alpträume, kommen noch. "Unheimliche, dunkle Gestalten kriechen
durch meine Träume. Ich habe solche Angst vor ihnen, dass ich nicht
einschlafen kann", hat sie letztes Jahr dem Magazin "stern"
geschildert.
Sie zwingt sich jetzt, jungen Menschen zu berichten. "Ich wache
nachts nass geschwitzt auf und stelle dann fest, ich bin gar nicht
im Lager", antwortet sie auf die Frage eines Schülers. "Man wird nie
damit fertig", sagt sie; es ist eine lebenslange Qual.
Nach mehreren Wochen in Auschwitz wurden die kräftigeren Mädchen
nach Deutschland zur Zwangsarbeit verfrachtet. Rachel Grünebaum
wurde für Krupp aussortiert. Am Hochofen musste sie Scheibenfedern
herstellen. Männerarbeit bei 1200 Grad, 12 Stunden lang, die
Augenbrauen waren versengt, die Augen brannten, Rückenschmerzen zum
Umfallen.
Der Aufpasser holte gern mit der Peitsche aus, so zum Spaß, schreibt
sie im "stern". Es gab "keine Hoffnung, keine Angst, nichts hab ich
gefühlt. Nur Hunger. Wie ein Tier." Zwei Vorarbeiter steckten ihr
heimlich ein Stückchen Seife zu, ein Stück Brot. Da hat Rachel
Grünebaum beschlossen, nie wieder Menschen pauschal zu verurteilen.
Brot schneidet sie immer nur daumendick. Damals konnte man durch das
Brot hindurch gucken. Nach der Befreiung hat sie zwei Jahre bei
ihrer Schwester in Temeswar (Rumänien) gelebt. "Morgens", erzählt
sie den Schülern, "war immer Brot unter meinem Kopfkissen." Zwei
Jahre war sie wie irre.
Als die Engländer näher rückten, wurden die Häftlinge wieder
verfrachtet. Über Buchenwald nach Bergen-Belsen bei Celle. Dieselbe
Tortur. Sie liegen zusammengepfercht auf blankem Boden, einmal am
Tag eine dünne Suppe. Weil es kein Wasser gab, tranken sie das
Wasser aus der Latrine. Immer mehr starben an Typhus. Auch Rachel
Grünebaum hatte Typhus. Wer noch gehen konnte, musste die Toten
auftürmen, oben drauf kam Kalk. Dann mussten sie die Toten in Gräben
verstecken. "Am Arm oder Bein habe ich eine Schnur fest gemacht,
habe sie bis zum Graben geschleift, reingerollt", schreibt sie. "Man
ist kein Mensch dabei, man fühlt nichts."
Die 20-Jährige war selbst nur noch ein Nichts: 25 Kilo, als die
Engländer 15. April 1945 kamen. Man hat sie gewaschen, in ein
Krankenhaus gebracht, sie konnte nicht mehr gehen. "Wir waren so
runter, wir konnten nicht mehr denken", sagt sie den Schülern.
Ob sie Hass empfindet, warum sie in Deutschland lebt, ob sie nochmal
in Auschwitz oder bei Krupp war, was sie träumt, ob sie am Glauben
zweifelt, fragen die Schüler - und vieles mehr. Sie war 1947 nach
Palästina ausgewandert. Hat dort ihren späteren Mann kennen gelernt,
der zwei Jahre in Buchenwald und Dachau war. Er wollte zurück. Sie
ging mit ihm nach Köln.
"Ich verallgemeinere nicht", sagt sie zum Thema Hass. Sie hat viele
gute Freunde in Nümbrecht, wo sie seit sieben Jahren in der Nähe von
Tochter und Enkeln lebt. Ihr Mann ist vor eineinhalb Jahren
gestorben. Im "stern" schreibt sie: "Er hat einfach zu viel
gelitten. Wollte immer nur im Dunkeln sein, im Keller. Als er
gestorben ist, habe ich erst mal überall helle Glühbirnen
reingedreht."
Ja, sie hat am Glauben gezweifelt. "Wie kann man so etwas zulassen",
hat sie sich gefragt, "Kinder zu vergasen?" Ja, sie war in
Auschwitz, die Baracke 9 steht noch. Ihr Sohn, Medizin-Professor in
New York, hat alles gefilmt. Er hat sie ermutigt zu reden. Sie war
bei Krupp, man hat sie nicht hinein gelassen.
Nach der Veröffentlichung haben viele Leute geschrieben, lauter
positive Briefe. Von der Industrie kein Wort. Sie sei wütend, hatte
sie dem "stern" gesagt, dass die Herren immer noch feilschen. "Das
war Sklavenarbeit. Man hat uns alles, alles genommen. Sogar die
Haare."
haGalil onLine 06-03-2001 |