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Wie war das nur möglich? Sind
sich die Europäer eigentlich bewusst, was die "Menschenzoos" der
Kolonialzeit über ihre Kultur, ihre Mentalität, ihr Unbewusstes, ihr
kollektives Seelenleben aussagen? Anlässlich der ersten großen
Ausstellung über "primitive" Kunst, die vor kurzem im Pariser Louvre
eröffnet wurde, scheint es an der Zeit, diesen Fragen genauer
nachzugehen.
IN europäischen Staaten war
es vor nicht allzu langer Zeit gang und gäbe, ethnologische
Ausstellungen mit lebenden Exponaten zu veranstalten. Diese Staaten,
die sich seinerzeit längst dem Ideal der Gleichheit aller Menschen
verpflichtet hatten, tun sich heute schwer, wenn es um Menschenzoos,
ethnologische Ausstellungen oder "Negerdörfer" geht. Zu
offensichtlich ist der Widerspruch zwischen ihrem Gleichheitsideal
und der kolonialen Praxis, "exotische" Individuen zusammen mit
wilden Tieren hinter Gitter oder Zäune zu sperren und einem
vergnügungssüchtigen Publikum zum Augenschmaus vorzuwerfen.
Die Idee, exotische
Bevölkerungsgruppen im Rahmen "anthropologisch-zoologischer"
Ausstellungen vorzuführen, tauchte etwa zeitgleich in mehreren
europäischen Ländern auf, nämlich in den Siebzigerjahren des 19.
Jahrhunderts. Den Anfang machte Deutschland. Der Hamburger
Tierhändler Carl Hagenbeck, der sich später für den Aufbau der
bekanntesten Zoos Europas engagieren sollte, beschloss 1874, kurz
nach der Eröffnung von "Carl Hagenbeck's Thierpark", den
sensationslüsternen Besuchern eine Gruppe von "Samoanern und Lappen"
als "unverfälschte Naturmenschen" vorzuführen. Die Ausstellung war
so erfolgreich, dass Hagenbeck einen seiner Mitarbeiter 1876 in den
ägyptischen Sudan schickte, der einige Tiere und Nubier
herbeischaffen sollte, um die "Attraktion" zu wiederholen. Die
Nubier-Schau reiste durch zahlreiche europäische Hauptstädte -
darunter Paris, London und Berlin - und wurde in ganz Europa ein
Riesenerfolg.
Der große Besucherandrang
beeindruckte zweifellos auch Geoffroy de Saint-Hilaire. Der Leiter
des "Jardin Zoologique d'Acclimatation" in Paris suchte geeignete
Attraktionen, um die prekäre Finanzlage der Einrichtung wieder ins
Lot zu bringen. Also beschloss er 1877, zwei "ethnologische
Ausstellungen" mit Nubiern und Eskimos zu veranstalten. Das
Spektakel wurde ein Kassenschlager. Der Zoologische Garten konnte
seine Besucherzahl verdoppeln, die im selben Jahr die
Millionengrenze erreichte. Die Pariser eilten herbei, um zu
entdecken, was in den großen Tageszeitungen damals als "Rudel
exotischer Tiere in Begleitung von nicht weniger einzigartigen
Individuen" beschrieben wurde. Dreißig solcher "ethnologischer
Ausstellungen", die immer wieder Besucherscharen anlockten,
organisierte der Jardin Zoologique d'Acclimatation zwischen 1877 und
1912.
Innerhalb kürzester Zeit
setzten auch andere Einrichtungen solche Spektakel aufs Programm, in
manchen Fällen mit eher "politischer" Zielsetzung, wie zum Beispiel
bei den Pariser Weltausstellungen von 1878, 1889 und 1900. Eine der
Hauptattraktionen von 1889 war neben der Einweihung des Eiffelturms
ein "Negerdorf" mit 400 "Eingeborenen". Elf Jahre später konnten die
50 Millionen Besucher das berühmte Diorama zum Thema Madagaskar
bewundern, das ebenfalls mit lebenden Figuren bestückt war. Gleiches
gilt für die späteren Kolonialausstellungen in Marseille 1906 und
1922, oder in Paris 1907 und 1931.
Eingeborene
für den Zoo
ETLICHE Etablissements
näherten sich dem Thema auf eher "spielerische" Weise - regelmäßige
Vorstellungen gab es auf dem Marsfeld, in den Folies-Bergères und
der Magic City -, andere stellten Ereignisse aus der
Kolonialgeschichte nach, etwa den Sieg der französischen Armee über
die Krieger des Dahomey unter Behanzin, der im Théâtre de la Porte
Saint-Martin aufgeführt wurde.
In der französischen Provinz
war der Appetit auf Kurioses nicht minder ausgeprägt als in der
Kapitale, hier gehörte die Eingeborenen-Schau auf Jahrmärkten und
regionalen Ausstellungen schon bald zum festen Programm. Fahrende
Schausteller zogen mit ihren "Attraktionen" übers Land und führten
die "Schwarzendörfer" oder "Senegaleserdörfer" in ganz Frankreich
vor, etwa auch auf der Lyoner Ausstellung von 1894. Inzwischen gab
es keine Stadt, keine Ausstellung und keinen einzigen Franzosen
mehr, der nicht - an einem sonnigen Nachmittag, zwischen einem
landwirtschaftlichen Wettbewerb, der Sonntagsmesse und einem
Spaziergang um den See - eine "wirklichkeitsgetreue" Nachbildung
dieser wilden, von exotischen Tieren und Menschen bevölkerten
Weltengegenden betrachtet hätte.
Zwischen 1877 und Anfang der
Dreißigerjahre suchten Millionen von Franzosen die Begegnung mit dem
Anderen, wenn auch nur in einer inszenierten, vergitterten Version.
Für die meisten war dies der erste Kontakt mit dem Anderen
schlechthin, ob in Gestalt "fremder" Völker aus allen Teilen der
Welt oder eines Eingeborenen aus dem eigenen Kolonialreich. Für das
"Bild vom Anderen" waren diese Spektakel von immenser Bedeutung,
zumal sie sich mit der in Wort und Bild allgegenwärtigen
Kolonialpropaganda verschränkten, die tiefe Spuren in der
Vorstellungswelt der Franzosen hinterließ. An diese Menschenzoos
hingegen hat das kollektive Gedächtnis keine Erinnerung bewahrt.
Dass solche Darbietungen
überhaupt organisiert wurden, dass sie weithin verbreitet waren und
wachsende Begeisterung hervorriefen, dafür sind drei sich
gegenseitig ergänzende Faktoren verantwortlich: Erstens die
Konstruktion eines Ensembles gesellschaftlicher Vorstellungen vom
Anderen (kolonisiert oder nicht), zweitens die wissenschaftliche
Theoretisierung einer angeblichen "Rassenhierarchie", die sich auf
die Fortschritte der physischen Anthropologie stützte, und drittens
der forcierte Ausbau des Kolonialreichs.
Die Rede von minderwertigen
"Rassen", die sich im Schnittpunkt mehrerer Wissenschaften
herausbildete, und die gleichzeitig anhebende Begeisterung für das
Exotische datieren allerdings schon vor der großen Kolonialexpansion
unter der Dritten Republik, die mit der endgültigen Grenzziehung des
Empire 1910 zum Abschluss kam. Jede Kultur konstruiert ihre
Identität mittels Vorstellungen vom Anderen, denn nur so kann sie
durch den Spiegeleffekt eine Vorstellung von sich selbst entwickeln
und sich in der Welt verorten.
Die ersten Beispiele hierfür
lassen sich im Westen bis in die Antike zurückverfolgen; man denke
an die altgriechische Unterscheidung zwischen "Bürger" hier,
"Barbar" und "Metöke" dort. Die Kreuzzüge und die ersten kolonialen
Erkundungen und Eroberungen im 16. und 17. Jahrhundert ließen diese
Vorstellungen des schlechthin Anderen wieder aufleben, doch trugen
sie bis ins 19. Jahrhundert nur beiläufigen, nicht unbedingt
negativen Charakter und drangen offenbar nicht sehr tief in die
Gesellschaft ein.
Mit der Herausbildung der
Kolonialreiche sollte sich das grundlegend ändern. Die historisch
beispiellose Expansion der europäischen Industrieländer verlieh den
Vorstellungen vom Anderen eine völlig neue Verbindlichkeit. Die
Kolonialisierung war hier insofern der entscheidende Wendepunkt, als
mit der Unterwerfung und Domestizierung des Anderen die unmittelbare
Notwendigkeit entstand, sich von diesem eine Vorstellung zu machen.
An die Stelle der
ambivalenten Bilder vom "Wilden", der bei allem negativen Anderssein
noch Merkmale des "edlen Wilden" à la Rousseau an sich hatte, trat
nun ein eindeutig stigmatisierender Blick auf die "exotischen"
Bevölkerungsgruppen. Systematisch wurde das Bild vom minderwertigen
Eingeborenen in Umlauf gebracht, und im Rahmen dieser
"Kolonialisierung" der europäischen Vorstellungswelten, dieser
systematischen Konstruktion von Vorurteilen über die kolonisierten
Bevölkerungsgruppen hatten die Menschenzoos ohne Zweifel eine
besonders hinterhältige Wirkung. Das Beweismaterial ließ keinen
Zweifel, denn man konnte es mit den eigenen Augen sehen: Dies sind
Wilde, sie leben wie Wilde, und sie denken wie Wilde.
Die Geschichte hat freilich
eine ironische Pointe: Die Eingeborenen, die in ganz Europa
herumgereicht wurden, verbrachten vielfach zehn oder fünfzehn Jahre
in der Fremde und ließen sich die Inszenierung gefallen - gegen
Entgelt. Die Kehrseite der in den Zoo gesperrten Wildheit bestand
darin, dass "der Wilde" um die Jahrhundertwende begann, von seinem
Impresario ein Salär zu verlangen.(1)
Gleichzeitig grassierte in
der Tagespresse und in der Öffentlichkeit ein populärer Rassismus,
der die kolonialen Eroberungen begleitete. Alle großen Zeitungen -
von den Illustrierten für das niedere Volk (Le Petit Parisien,
Le Petit Journal) über die Reise-Journale (Le Tour du
Monde, Journal des Voyages) bis zu
populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen (La Nature,
La Science amusante) - präsentierten die exotischen
Bevölkerungsgruppen, insbesondere wenn man sie zu Untertanen gemacht
hatte, als Überbleibsel aus den Anfängen der Menschheitsentwicklung.
Das Vokabular der
Stigmatisierung des Wilden - roh, primitiv, blutrünstig,
bestialisch, einem finsteren Fetischglauben verfallen - im Verein
mit einer Flut unerhört gewalttätiger Bilder sollte die Vorstellung
vom stagnierenden Untermenschen nähren, der an der Grenze zum
Animalischen vegetierte.(2)
Forschungsstelle
für Schädelforschung
WISSENSCHAFTLICHE
Schützenhilfe erhielt die Inferiorisierung der "Exoten" durch das
Zusammenwirken von Positivismus, Evolutionslehre und Rassenkunde.
Die Mitglieder der 1859 gegründeten Anthropologischen Gesellschaft -
im selben Jahr öffnete der Pariser Jardin d'Acclimatation -
besuchten die zoologischen Ausstellungn wiederholt zu
Forschungszwecken. Die physische Anthropologie dieser Zeit suchte
anhand körperlicher Merkmalsunterschiede eine Rangordnung zwischen
den Völkern aufzustellen. Die Vielfältigkeit des Menschengeschlechts
wurde auf den Begriff der "Rasse" verengt und die Menschenrassen in
einer Wertskala angeordnet, die vorgab, die Abfolge der Evolution
widerzuspiegeln. Genau diese Art von Anthropologie wurde von den
Menschenzoos inszeniert.
Einer der Koriphäen der neuen
Wissenschaft, Graf Joseph Arthur de Gobineau(3), führte die
uranfängliche Ungleichheit der Rassen auf eine Typologie zurück,
deren Hierarchisierungskriterien weitgehend subjektiven Charakter
trugen - "Schönheit der Körperformen, Körperkraft und Intelligenz"
-, und unterteilte die Gattung Mensch dementsprechend in
"höherwertige" und "minderwertige" Rassen. Die von Gobineau und
vielen anderen postulierte Höherwertigkeit der "weißen Rasse" - die
allein die drei Merkmale auf sich vereinigt - fungierte als Norm und
Maßstab, der die Schwarzen in hoffnungsloser Minderwertigkeit am
unteren Ende der Menschheitsskala festnagelte und die übrigen
"Rassen" irgendwo dazwischen ansiedelte.
Dieses Stufenmodell spiegelt
sich exakt in der Programmgestaltung der Pariser Menschenzoos wider.
Als der Jardin Zoologique d'Acclimatation eine Gruppe Kosaken
einlud, legte die russische Botschaft wert darauf, dass die
Inszenierung ihre Landsleute nicht mit den "Negern" aus Afrika
vermengt. Auch Buffalo Bill wollte aus der Masse der "Indianer", mit
denen er auftrat, herausgehoben sein. Und die Präsentation einer
Gruppe von "Liliputanern" entsprang - ganz wie die Schaustellung
exotischer Bevölkerungsgruppen - dem ideologischen Bedürfnis, die
kleinwüchsigen Menschen als andersartig, monstruös, dem Tier näher
als dem Menschen darzustellen.
Die ethnologischen
Ausstellungen veranschaulichten die sozialdarwinistische
Unterscheidung zwischen "primitiven" und "zivilisierten Rassen", die
von Gustave Le Bon und Vacher de Lapouge um die Jahrhundertwende neu
interpretiert und popularisiert wurde. In den Menschenzoos fanden
diese Theoretiker der Ungleichheit ein ungeahntes
Anschauungsmaterial, das man in den kolonisierenden Staaten bis
dahin nicht gekannt hatte.
Aber nicht nur die physische
Anthropologie legitimierte die zoologische Präsentation von
Menschen. Die noch junge Anthropometrie entwickelte eine
rassezentrierte Grammatik der "somatischen Charaktere", die mit der
Gründung einer Forschungsstelle für Schädelmessung durch die
Anthropologische Gesellschaft zu einer systematischen Rassenlehre
ausgebaut wurde. Auch die spätere Phrenologie verdient in diesem
Zusammung Erwähnung.
Dass die Wissenschaftler die
Menschenpräsentation aktiv unterstützten, hatte drei pragmatische
Gründe: Erstens bekamen sie damit ein differenziertes, umfangreiches
und ständig wechselndes Anschauungsmaterial geboten, zweitens
weckten sie das Interesse der Öffentlichkeit und der Massenpresse an
den neuen Forschungsgebieten, und drittens lieferten sie mit der
physischen Anwesenheit der "Wilden" den sichtbarsten Beweis für die
Stichhaltigkeit der rassistischen Thesen.
Unter dem Blickwinkel einer
linearen Evolutionsabfolge der soziokulturellen Gruppen galten
außereuropäische Kulturen, die man am unteren Ende und also an der
Grenze zum Tierreich ansiedelte, als zwar zurückgeblieben, aber
durchaus zivilisierbar, sprich kolonisierbar. Die zoologische
Menschenschau belegte nicht nur die Stichhaltigkeit der
zeitgenössischen Theorien von Rassenhierarchie, sondern
veranschaulichte obendrein und in situ, wie berechtigt der
zivilisatorische Auftrag war, den die Kolonialmächte sich anmaßten.
So kamen sie alle auf ihre Kosten: die Wissenschaftler ebenso wie
die Koloniallobby und die Impresarios.
Vor dem Hintergrund des
kolonialistisch inspirierten Sozialdarwinismus der zeitgenössischen
politischen Wissenschaft nimmt es nicht Wunder, dass das
Eugenik-Projekt von Leuten wie Georges Vacher de Lapouge, der die
Erbanlagen der Bevölkerung durch gezielte Selektion verbessern
wollte, raschen Anklang fand. Ebenfalls um die Jahrhundertwende
hatten Vorführungen mit "Missgestalten" lebhaften Zulauf. Der Jardin
Zoologique d'Acclimatation veranstaltete 1909 ein Spektakel mit
Zwergen und Liliputanern, Jahrmarkt-Schausteller zogen mit Buckligen
und Riesen durchs Land, und in der Hauptstadt Paris waren 1912
Menschen mit überdimensionalen Köpfen und "Albino-Neger" zu
bestaunen. Kein Zweifel also, dass Eugenik, Sozialdarwinismus und
Rassenlehre nur verschiedene Ausdrucksformen ein und desselben
geistig-politischen Klimas waren. Die schwelende Angst vor dem
Anderen führte zur Vorstellung von ungleichen "Rassen", in der
Stigmatisierung des "Erbkranken" und des "Eingeborenen" fand sie ein
Ventil.
Die
Wissenschaft geht auf Distanz
IN den Menschenzoos
traf sich der Rassismus des gemeinen Volks mit der
wissenschaftlichen Rassenlehre der Eliten - und beide wurden durch
die koloniale Expansion begünstigt. Auch wenn die Anthropologische
Gesellschaft zwischen 1890 und 1900 den wissenschaftlichen Charakter
der "ethnologischen Ausstellungen" zurückhaltender beurteilte,
schätzte sie das reichhaltige Forschungsmaterial aus allen Teilen
der Welt, das Untersuchungen über die verschiedenen "Arten"
ermöglichte. Schließlich ging die Wissenschaft aber doch auf
Distanz, weil den Impresarios mehr am Unterhaltungswert gelegen war
und die Vorführungen nurmehr der Volksbelustigung dienten.
Der "Wilde" wurde nun mit
wachsender Liebe zum Detail in Szene gesetzt. Barock ausstaffierte
Bühnen dienten als Schauplatz für frenetische Tänze, "blutrünstige
Kämpfe" und "kannibalische Riten", die Programmplakate versprachen
"Grausamkeit", "Barbarei", "unmenschliche Gebräuche" und
"Menschenopfer".
So setzte sich in der
Öffentlichkeit zwischen 1890 und dem Ersten Weltkrieg ein
ausgesprochen blutdürstiges Bild vom Wilden durch. Jenseits jeder
ethnologischen Wahrheit wurden in diesen Inszenierungen die
krankhaftesten rassistischen Stereotypen, die zur Zeit der
kolonialen Eroberungen durch die gesellschaftliche Vorstellungswelt
geisterten, noch einmal gespiegelt, weiterentwickelt, aktualisiert
und legitimiert. In der Tat folgten die "Eingeborenen-Lieferungen"
im Wesentlichen den aktuellen Eroberungen in Übersee. Von der
Kolonialverwaltung wurden sie ausdrücklich gutgeheißen und
gefördert, wie umgekehrt diese Lieferungen die französischen
Kolonialisierungspläne unterstützten.
Die
Grenze zwischen Wildheit und Zivilisation
SO fand die
Tuareg-Ausstellung in Paris nur wenige Monate nach der französischen
Eroberung von Timbuktu statt. Menschentrophäen aus Madagaskar gab es
schon ein Jahr nach der Besetzung der Insel zu sehen. Und der Erfolg
der berühmten Amazonen aus dem Königreich Abomey folgte auf das
mediale Großereignis des Siegs der französischen Armee über die
Truppen von Behanzin in Dahomey. Jede koloniale Eroberung war ein
willkommener Anlass, das Andere herabzuwürdigen, zu demütigen, zu
animalisieren - und die kolonialen Ruhmestaten Frankreichs zu
feiern. Unverhohlen tat sich hier ein Ultranationalismus kund, der
seit der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71
zunehmend die öffentliche Stimmung beherrschte. Die großen
Tageszeitungen grölten kräftig mit und pinselten das Bild des
zügellosen, grausamen, blutrünstigen, von Fetischglauben
verblendeten "Eingeborenen". Mehr und mehr verschwand die
Verschiedenheit der exotischen "Rassen" im Einerlei einer wenig
schmeichelhaften Karikatur, die nur einen Zweck verfolgte: plausibel
zu machen, dass zwischen "ihnen" und "uns" ein unüberbrückbarer
Unterschied besteht.
Die in den Westen
verschleppten "Wilden" machten bei aller Attraktion jedoch auch
Angst. Ihre Handlungen und Bewegungen unterlagen deshalb strengster
Kontrolle. Da sie generell als absolut andersartig beschrieben
wurden, mussten sie sich auf der Bühne auch so aufführen. Jedes
Anzeichen von Assimilation oder Verwestlichung war ihnen untersagt,
ein direkter Kontakt zum Zuschauer ausgeschlossen. Die Ausgestellten
wurden nach den gängigen Stereotypen geschminkt und möglichst
ausgefallen gekleidet. Sie durften sich nur in einem abgezirkelten
Bereich der Ausstellung bewegen, bei Zuwiderhandlung drohten ihnen
Abzüge von ihrem schmalen Lohn. Die räumliche Trennung zwischen
ihnen und den Bürgern, die sie begafften und inspizierten,
symbolisierte die unverletzliche Grenze zwischen Wildheit und
Zivilisation, Natur und Kultur.
Am erstaunlichsten war bei
dieser rücksichtslosen Animalisierung gewiss die Reaktion des
Publikums. In all den Jahren mit tagtäglichen Ausstellungen empörte
sich kaum ein Journalist, Politiker oder Wissenschaftler über die
vielfach katastrophalen sanitären Bedingungen, unter denen die
"Eingeborenen" auf engem Raum zusammengepfercht waren, ganz zu
schweigen von den zahlreichen Todesfällen infolge des ungewohnten
Klimas, beispielsweise unter den 1892 in Paris gezeigten Kaliña
(Galibi) aus Lateinamerika.(4)
Vereinzelte Berichte
entsetzten sich dennoch über diese Art Spektakel und notierten das
schockierende Verhalten des Publikums. Manche Zuschauer bewarfen die
menschlichen Exponate mit Nahrungsmitteln oder anderem; einige
ergötzten sich am Anblick einer kranken Afrikanerin, die zitternd in
ihrer Hütte saß; wieder andere kommentierten die Physiognomie der
Ausgestellten und verglichen sie mit Menschenaffen - ein geläufiger
Topos der physischen Anthropologie, die bei den Eingeborenen
geradezu zwanghaft "affenähnliche Merkmale" auszumachen suchte.
Diese gewiss lückenhaften Augenzeugenberichte geben eine recht gute
Vorstellung davon, wie sehr sich das Rassendenken in den Köpfen der
Zeitgenossen festgesetzt hatte. Angesichts dieses endemischen
Rassismus konnte das Empire sein Kolonisierungswerk guten Gewissens
fortführen und die rechtliche, politische und wirtschaftliche
Ungleichheit von Europäern und "Eingeborenen" organisieren -
schließlich wurde im kolonisierenden Land der Beweis erbracht, dass
in den kolonisierten Gebieten nur Wilde aus finsterster Vorzeit
hausen.
So wenig die Menschenzoos
über die Eigenheiten der "exotischen Bevölkerungsgruppen"
offenbaren, so viel verraten sie über die europäische Mentalität am
Ausgang des 19. Jahrhunderts und bis in die Dreißigerjahre hinein.
Vorderhand verfolgte die zoologische Menschenschau den Zweck, das
Seltene, Merkwürdige, Ungewöhnliche, Fremde und Andersartige
darzustellen, um den Gegensatz zu einer Welt hervorzuheben, die
rational, also nach europäischen Standards konstruiert ist.(5)
Umgekehrt stellt sich jedoch
die Frage, ob die blutrünstige Maskerade nicht vielmehr die weiß
Gott höchst reale Grausamkeit der kolonialen Eroberung spiegelte.
Bewusst oder unbewusst wollte man die eigene Brutalität als Eroberer
durch die Animalisierung der Eroberten legitimieren. Dabei bediente
man sich des Vorwandes, dass die "Eingeborenen" Werte und Normen
verletzen, die für Europa als Inbegriff von Zivilisation gelten. Im
Bereich des Religiösen, wo die Sexualitätsnorm an oberster Stelle
steht, ist die Polygamie ein frontaler Angriff auf die
sozioreligiösen Grundlagen der christlichen Familie.
Bezeichnenderweise wurden in den Menschenzoos stets ganze Familien
ausgestellt, einschließlich der verschiedenen Frauen des
Familienoberhaupts. In den Augen des europäischen Beschauers musste
das Arrangement bestenfalls als unverständliche Absonderlichkeit
erscheinen, schlimmstenfalls als Beweis für tierische Geilheit - und
im fragenden Blick funkelte das ungestillte Verlangen eines
westlichen Phantasmas, das nur die Kehrseite des Verbotenen
darstellt.
"Wollüstige
Menschenfresser"
DAS Thema Sexualität
nahm in der Tat breiten Raum ein. So entstand der Mythos von der
tierischen, pluralen Sexualität der "Schwarzen", in den auch
physische Vorstellungen eingingen, etwa von einer gewaltigen
sexuellen Vitalität und sogar von weit überentwickelten weiblichen
und männlichen Geschlechtsorganen. In solchen Mythen konnte sich
eine ambivalente Faszination für diese Wesen an der Grenze zwischen
Mensch und Tier herauskristallisieren. Überhaupt faszinierte am
Körper des "Wilden", was man ihm allererst andichtete: Vitalität und
Körperkraft. Glaubt man den zahllosen Gravuren in den großen
Illustrierten der Zeit, kämpften die "Stammeskrieger" fast nackt
gegen die Kolonialtruppen. Diese Begeisterung für ursprüngliche
Lebenskraft ist eine Reaktion auf die "biologische Entartung" des
Abendlandes, wie man sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts
allenthalben beklagte.(6)
Ein weiteres Thema, das mit
Blick auf die Verletzung heiliger Regeln immer wieder bemüht wurde,
ist die so genannte Menschenfresserei. Obwohl man gegen Ende des 19.
Jahrhunderts so gut wie nichts über diesen stark ritualisierten und
in Schwarzafrika wenig verbreiteten Brauch wusste, überschwemmten
die Bilder von "menschenfressenden Wilden" sämtliche Printmedien und
spielten in der Werbung der Impresarios für ihre Menschenschauen
eine führende Rolle (bis hin zur Internationalen Kolonialausstellung
1931, auf der am Rande auch Kanaken zu sehen waren).(7)
Kannibalismus verletzt in der Tat ein gesellschaftliches Tabu erster
Ordnung und beseitigte endgültig jeden Zweifel an der Nähe des
"Wilden" zum Tier. Die Inszenierung dieser Thematik auf zahlreichen
Ausstellungen und Theateraufführungen lassen an Deutlichkeit nichts
zu wünschen übrig.
In der Zeit zwischen der
Weltausstellung 1889 und dem Zweiten Weltkrieg boomte das
Ausstellungsgewerbe mit Menschen. Besonders an Kolonialausstellungen
herrschte kein Mangel. Fast immer wurde die Neugier der Besucher mit
einem "Negerdorf", "Indochineserdorf", "Araberdorf" oder
"Kanakendorf" befriedigt. Dabei lässt sich bis zum Ersten Weltkrieg
eine interessante semantische Verschiebung vom "Negerdorf" zum
"Schwarzendorf" und schließlich zum "Senegaleserdorf" feststellen.
Gleichzeitig verselbständigten sich diese punktuellen Attraktionen
zu permanenten Wanderausstellungen, die durch die französische
Provinz, aber auch durch andere europäische Länder und die
Vereinigten Staaten zogen.
Vier oder fünf "Truppen"
lösten einander im Laufe der Jahre ab. Zu sehen waren sie auf allen
großen regionalen Ausstellungen - in Amiens, Angers, Nantes, Reims,
Le Mans, Nizza, Clermont-Ferrand, Lyon, Lille, Nogent und Orléans -,
aber auch in anderen europäischen Großstädten und Zoos, in Hamburg,
Antwerpen, Barcelona, London, Berlin und Mailand. 200 000 bis
300 000 Besucher pro Ausstellung waren dabei keine Seltenheit.
Die Inszenierungen
befleißigten sich eines eher "ethnographischen" Stils, und die
"Dörfer" mit ihren Pappmaché-Hütten erinnern an die späteren
Hollywood-Produktionen über das "geheimnisvolle Afrika"(8). Man
durfte lokale Erzeugnisse bewundern und konnte erstmals
afrikanisches Kunsthandwerk erwerben. Die gesellschaftlichen
Organisationsformen der "Wilden" wurden nun zumindest zur Kenntnis
genommen, obwohl sie im Allgemeinen als Überreste einer
Vergangenheit galten, die von der Kolonialverwaltung
hinwegzuzivilisieren war. Der Phantasie entsprungene
"Eingeborenentänze" und die Nachstellung bekannter Episoden aus der
Kolonialgeschichte wurden jedoch seltener, um schließlich ganz zu
verschwinden.
Stattdessen kam ein anderes
Bild in Mode: Der "Wilde" wurde (wieder) als sanftmütig und
kooperativ vorgeführt, er spiegelte fortan das Selbstverständnis
eines Empire, das sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs als
endgültig befriedetes Kolonialreich darzustellen suchte. Die
Aufteilung der Welt war in der Tat abgeschlossen: Der
Eroberungsauftrag wurde abgelöst durch die "zivilisatorische
Mission" der Kolonialherren - ein Argumentationsmuster, das die
Kolonialausstellungen nach Kräften unters Volks brachten. Nach dem
Soldaten kam der Verwalter. Unter der "wohltätigen" Obhut der
aufgeklärten Republik standen die "Eingeborenen" jetzt immerhin auf
der untersten Kulturstufe, während die eigentliche Rassen-Thematik
tendenziell verschwand und die Menschenzoos den "Negerdörfern" Platz
machten. Der Eingeborene galt zwar weiterhin als minderwertig, aber
er war zahm und gefügig geworden. Und man entdeckte an ihm ein
Entwicklungspotential, das den imperialen Gestus durchaus
rechtfertigte.
Höhepunkt dieser neuen
Wahrnehmung des "Eingeboren-Anderen" war die Internationale
Kolonialausstellung in Vincennes 1931. Auf mehreren hundert Hektar
stellte die Republik ihr gewandeltes Menschenzoo-Konzept zur Schau
und feierte damit die zivilisatorische Mission, die sie sich
anmaßte. Ein vortrefflicher Grund, die Kolonialherrschaft guten
Gewissens fortzusetzen.(9)
Die Geschichte der
Menschenzoos ist ein grundlegendes und bislang völlig
totgeschwiegenes Phänomen unserer Kultur. An dieser Geschichte lässt
sich das Verhältnis der europäischen Kolonialmächte zum Anderen
exemplarisch nachvollziehen. Die in den Menschenzoos inszenierten
Archetypen bilden die Grundlage eines kollektiven Unbewussten, das
sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in vielfältiger Gestalt
ausdifferenzierte. Die Dekonstruktion dieses Phänomens ist heute
mehr denn je geboten.(10)
dt. Bodo Schulze
Fußnoten:
(1) Die importierten Menschengruppen hatten nicht alle denselben
Status. Die von der Südspitze Lateinamerikas stammenden
"Feuerländer" wurden offenbar wie Tiere "transportiert", während die
"Gauchos" fast wie unter Vertrag genommene Künstler behandelt wurden
und sich der Maskerade, die sie den Besucher boten, durchaus bewusst
waren.
(2) Nicolas Bancel, Pascal Blanchard u. Laurent Gervereau, "Images
et Colonies", Paris (Achac-BDIC) 1993.
(3) Joseph Arthur de Gobineau, "Versuch über die Ungleichheit der
Menschenracen", Stuttgart (Frommann) 1898.
(4) Gérard Colomb, "La photographie et son double. Les Kaliña et ,le
droit de regard' de l'Occident" in: "L'Autre et Nous", Paris
(Syros-Achac) 1995, S. 151-157.
(5) Anne McClintock, "Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality
in the Colonial Contest", New York (Routledge) 1995.
(6) Christian Pociellot u. Daniel Denis (Hg.), "A l'école de
l'aventure", Voiron (PUS) 1999.
(7) Didier Dæninckx, "Cannibale", Paris (Gallimard, coll. Folio),
ed. Verdier, 1998.
(8) "Afrique mystérieuse" nannte sich eine Wandertruppe, die im
Jardin Zoologique d'Acclimatation vorgeführt wurde.
(9) Vgl. Sylvia Zappi, "Un sondage révèle une progression du racisme
et de l'antisémitisme", Le Monde, 16. März 2000.
(10) Nicolas Bancel und Pascal Blanchard, "De l'indigène à
limmigré", Paris (Gallimard, coll. Découvertes) 1998.
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17-07-2000
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