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Antisemitismus aus kritisch-theoretischer Sicht
Möglichkeiten und Grenzen politischer Bildungsarbeit in einem gesellschaftlichen Problemfeld


Von Ingolf Seidel

5. Der Antisemitismus nach und wegen Auschwitz

In diesem Kapitel werden sowohl zu betrachten sein: in einem ersten Schritt das Ausmaß und die Funktion des sekundären Antisemitismus, wie auch die krypto-antisemitische[170] Dimension.

Im Mittelpunkt der Überlegungen zu sekundär antisemitischen Motivationen wird die Abwehr von der Beschäftigung mit der aus dem Holocaust resultierenden Schuld stehen, sowie die Zerstörung von Erinnerung und die Umkehr der Täter-Opfer Relationen. Diese Punkte werde ich sowohl in ihrer psychodynamischen, als auch der politisch-kulturellen Dimension untersuchen. Die Psychodynamiken der deutschen Schuldabwehr rekurrieren dabei auf die Fortexistenz autoritätsgebundener Charaktere. Diese Analysen verweisen bereits auf die politische Bildungsarbeit, die im Kontext dieser Problematiken operiert. Aus den Grundlagen für den sekundären Antisemitismus deutet sich für die politische Bildung, die Frage an, wie der sekundärer Antisemitismus in den Einzelnen und im nationalen Kollektiv sich manifestiert und wo inhaltliche Möglichkeiten sich ergeben, das Verdrängte sichtbar zu machen. Auch hierbei gilt die Grundannahme, dass individuelles Involviertsein nicht ohne die gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen denkbar ist. Ein eigenes Unterkapitel werde ich den spezifischen Ausprägungen des sekundären Antisemitismus in seiner antizionistischen Form in der DDR widmen. Vor allem in Fortbildungen mit LehrerInnen, die noch in der DDR sozialisiert worden sind, taucht eine nachträgliche Mystifizierung, nicht nur des Staatswesens, sondern auch des staatlichen Antifaschismus immer wieder auf. Allein daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer gesonderten Betrachtung vor allem der Gründungsjahre der DDR.

Nach der militärischen Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands, die nur den Opfern der Deutschen eine Befreiung gewesen ist, gibt es keine ‚Stunde Null’. Das gilt auch für das Fortbestehen des antisemitischen Ressentiments, welches sich in Deutschland zum Teil aus neuen Quellen speist. Kritische Theorie verortet die Gefahr des Antisemitismus weniger im Fortbestand oder dem Neuerstehen rechtsextremer Gruppierungen, sondern im "Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie."[171]

In dem besinnungslosen Weitermachen, dem Wiederaufbau Westdeutschlands oder in der Konstruktion eines antifaschistischen Staates im Osten, dessen Bewohner per Dekret die Taten der Vergangenheit abschütteln konnten, besteht für Adorno die Gefahr der Wiederholung. In der Tat bestehen die Grundbedingungen, aus denen Auschwitz resultiert hat, fort. Das hat für beide deutschen Staaten gegolten, auch für den der sich als antifaschistisch definierte, und erst recht für das wiedervereinigte Deutschland.

Die Grundlagen des Antisemitismus im Post-Holocaust Deutschland, ein von Lars Rensmann passend eingeführter Begriff[172], sind alte und neue. Fundamental ist dabei der Versuch sich der NS-Vergangenheit nicht, oder nur oberflächlich, zu stellen[173]. Das geht einher mit einer aggressiven Abwehr der Erinnerung. Der vielzitierte Satz des israelischen Psychoanalytikers Zwi Rex umfasst treffend dieses Motiv: "Auschwitz werden die Deutschen uns nie verzeihen."[174] Den Kern eines Antisemitismus nach und wegen Auschwitz, mit dem Terminus "sekundärer Antisemitismus"[175] benannt, bezeichnet auch Birgit Rommelspacher als den Wunsch, "die Verbrechen des Nationalsozialismus zu vergessen und sich auch all der damit verbundenen Gefühle zu entledigen. (...) Die zentrale Bedingung dafür ist die Verdrängung der Vergangenheit insgesamt, insbesondere aber die Geschichte der Opfer und ihrer Verfolgung."[176]

Unterstützend und ergänzend zu diesem Verdrängungsprozess wirkt eine Relativierung der Geschichte und die Umkehrung des Verhältnisses von Opfern und Tätern. Das geschieht zum Beispiel, wenn der millionenfache Judenmord als Reaktion auf die sowjetischen Straflager, die Gulags, bezeichnet wird, wie geschehen durch den Historiker Ernst Nolte in den 80er Jahren. Oder wenn die eigentliche Schuld an der Umsiedlung, der Deutschen aus Polen und Tschechien, den ehemals durch die Deutschen besetzten Staaten zugesprochen wird. Es wird zu sehen sein, wie die Bedingungen, die Auschwitz ermöglichten fortwesen und inwieweit sie das Verständnis des nationalen Kollektivs der Deutschen und dessen Individuen prägen. Die sich für die politische Bildungsarbeit abzeichnende Frage, einer Möglichkeit der Einflussnahme auf die Einzelnen und auf gesamtgesellschaftliche Prozesse, ist m.E. nicht zu trennen von einer Geschichts- und Gedächtnispolitik, die nicht auf Entlastung, sondern auf Verantwortungsübernahme zielt.

Mit dem Wegfallen einer staatlichen Ordnung, die seine Dynamik unterstützt, sowie mit dem Bestehen einer bürgerlich-demokratischen Ächtung verliert der Antisemitismus in Deutschland seine eliminatorische Dimension. Dennoch zeigen Untersuchungen seitens des OMGUS (Office of Military Government, U.S.) in der us-amerikanischen Besatzungszone im Zeitraum von November 1945 bis Dezember 1946, wie tief verwurzelt der Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung ist und wie wenig ein Schuldbewusstsein für das Geschehen im Nationalsozialismus existiert. Zu der Gruppe von Personen mit wenig Vorurteilen gehören lediglich 20%, von denen wiederum nur 22% meinen, die überlebenden Juden sollten ermutigt werden in Deutschland zu bleiben[177]. In den verschiedenen Befragungen hielten dem gegenüber

"zwischen 42 und 55% daran fest, dass der Nationalsozialismus eine gute Idee gewesen sei, die schlecht ausgeführt wurde" und "44% akzeptierten weder eine Verantwortung für den Krieg, noch waren sie bereit, die Last der Verantwortung dem Nazi-Regime zuzuschreiben"[178].

Die offizielle Tabuisierung des Antisemitismus drängt diesen zeitweilig gewissermaßen nur in den, auch psychischen, Untergrund. Die Behauptung, die deutsche Kultur wäre nicht vom Antisemitismus durchdrungen, ist an sich bereits ideologisch, das wird nach Auschwitz sichtbarer als jemals. Das Beharren auf dem strukturellen Charakter des Antisemitismus stellt zugleich die Grundfesten (nicht nur) der deutschen Kultur und Gesellschaft zur Disposition.

"Auf eine Gesellschaft, die es gewohnt ist, auch zwischen Tat und Schuld das Tauschverhältnis wirksam sein zu lassen, wirkt es provozierend, daß es nichts geben soll, das nicht >rein<, also frei von Schuld wäre."[179]

Derlei Erkenntnis wird kollektiv wie individuell abgewehrt und verdrängt. Aus der Verdrängung taucht die Schuld als Vorwurf an die Juden, im Zusammenspiel mit offiziellerseits mehr oder weniger bewusst inszenierten scheinbaren Tabubrüchen, im Gefolge nationalistischer Mobilisierungen und vor allem in der Abwehr der Erinnerung und des Schuldzusammenhangs von Auschwitz immer wieder auf und manifestiert sich.

  • [170] Der Terminus Krypto-Antisemitismus bezeichnet judeophobe Äußerungen, die sich auf Grund des Tabus von offen geäußertem Antisemitismus in Anspielungen und Subtexten verstecken. Vgl. dazu Adorno: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, a.a.O., S. 109.

  • [171] Theodor W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft II. Gesammelte Schriften Bd. 10.2, a.a.O., (1959), S. 556.

  • [172] Der Begriff Post-Holocaust Deutschland verweist auf eine Dialektik von Kontinuität und Bruch der Nachfolgestaaten des nationalsozialistischen Staates und darauf wie weitgehend der Holocaust noch die nachnationalsozialistische deutsche Gesellschaft berührt.

  • [173] Auch wenn seit einigen Jahren eine verstärkte Thematisierung des Holocaust zu vermerken ist, zeichnet sich die Form der Auseinandersetzung m.E. vor allem durch eine Betrachtung historischer Phänomene aus, in der gesellschaftspolitische Zusammenhänge weitgehend ausgeblendet werden. Vgl. dazu auch Michael Klundt: "Normalisierung" und "historische Anthropologie", in: Klundt, Michael / Salzborn, Samuel / Schwietring, Marc / Wiegel, Gerd: Erinnern Verdrängen Vergessen. Geschichtspolitische Wege ins 21. Jahrhundert, a.a.O., S. 77 - 108.

  • [174] Zit. nach Henryk M. Broder: Die Vordenker als Wegdenker, in: Otto R. Romberg / Susanne Urban-Fahr (Hg): Juden in Deutschland nach 1945, Bonn (Bundeszentrale für politische Bildung) 2000, S. 89.

  • [175] Adorno: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, a.a.O., S. 108.

  • [176] Birgit Rommelspacher: Schuldlos – Schuldig? Wie sich junge Frauen mit dem Antisemitismus auseinandersetzen, Hamburg (Konkret Literatur Verlag) 1995, S. 42.

  • [177] Vgl. Frank Stern: Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg, Gerlingen (Bleicher Verlag – Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte in Tel Aviv) 1991, S. 125.

  • [178] Ebda., S. 123f.

  • [179] Detlev Claussen: Nach Auschwitz, a.a.O., S. 59.

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13-12-2004


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