5. Der Antisemitismus nach und wegen Auschwitz
In diesem Kapitel werden sowohl zu betrachten sein: in
einem ersten Schritt das Ausmaß und die Funktion des sekundären
Antisemitismus, wie auch die krypto-antisemitische
Dimension.
Im Mittelpunkt der Überlegungen zu sekundär antisemitischen
Motivationen wird die Abwehr von der Beschäftigung mit der aus dem Holocaust
resultierenden Schuld stehen, sowie die Zerstörung von Erinnerung und die
Umkehr der Täter-Opfer Relationen. Diese Punkte werde ich sowohl in ihrer
psychodynamischen, als auch der politisch-kulturellen Dimension untersuchen.
Die Psychodynamiken der deutschen Schuldabwehr rekurrieren dabei auf die
Fortexistenz autoritätsgebundener Charaktere. Diese Analysen verweisen
bereits auf die politische Bildungsarbeit, die im Kontext dieser
Problematiken operiert. Aus den Grundlagen für den sekundären Antisemitismus
deutet sich für die politische Bildung, die Frage an, wie der sekundärer
Antisemitismus in den Einzelnen und im nationalen Kollektiv sich
manifestiert und wo inhaltliche Möglichkeiten sich ergeben, das Verdrängte
sichtbar zu machen. Auch hierbei gilt die Grundannahme, dass individuelles
Involviertsein nicht ohne die gesellschaftlichen und kulturellen
Rahmenbedingungen denkbar ist. Ein eigenes Unterkapitel werde ich den
spezifischen Ausprägungen des sekundären Antisemitismus in seiner
antizionistischen Form in der DDR widmen. Vor allem in Fortbildungen mit
LehrerInnen, die noch in der DDR sozialisiert worden sind, taucht eine
nachträgliche Mystifizierung, nicht nur des Staatswesens, sondern auch des
staatlichen Antifaschismus immer wieder auf. Allein daraus ergibt sich die
Notwendigkeit einer gesonderten Betrachtung vor allem der Gründungsjahre der
DDR.
Nach der militärischen Niederlage des nationalsozialistischen
Deutschlands, die nur den Opfern der Deutschen eine Befreiung gewesen ist,
gibt es keine ‚Stunde Null’. Das gilt auch für das Fortbestehen des
antisemitischen Ressentiments, welches sich in Deutschland zum Teil aus
neuen Quellen speist. Kritische Theorie verortet die Gefahr des
Antisemitismus weniger im Fortbestand oder dem Neuerstehen rechtsextremer
Gruppierungen, sondern im "Nachleben des Nationalsozialismus in der
Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer
Tendenzen gegen die Demokratie."
In dem besinnungslosen Weitermachen, dem Wiederaufbau
Westdeutschlands oder in der Konstruktion eines antifaschistischen Staates
im Osten, dessen Bewohner per Dekret die Taten der Vergangenheit abschütteln
konnten, besteht für Adorno die Gefahr der Wiederholung. In der Tat bestehen
die Grundbedingungen, aus denen Auschwitz resultiert hat, fort. Das hat für
beide deutschen Staaten gegolten, auch für den der sich als antifaschistisch
definierte, und erst recht für das wiedervereinigte Deutschland.
Die Grundlagen des Antisemitismus im Post-Holocaust
Deutschland, ein von Lars Rensmann passend eingeführter Begriff,
sind alte und neue. Fundamental ist dabei der Versuch sich der
NS-Vergangenheit nicht, oder nur oberflächlich, zu stellen.
Das geht einher mit einer aggressiven Abwehr der Erinnerung. Der
vielzitierte Satz des israelischen Psychoanalytikers Zwi Rex umfasst
treffend dieses Motiv: "Auschwitz werden die Deutschen uns nie verzeihen."
Den Kern eines Antisemitismus nach und wegen Auschwitz, mit dem Terminus
"sekundärer Antisemitismus"
benannt, bezeichnet auch Birgit Rommelspacher als den Wunsch, "die
Verbrechen des Nationalsozialismus zu vergessen und sich auch all der damit
verbundenen Gefühle zu entledigen. (...) Die zentrale Bedingung dafür ist
die Verdrängung der Vergangenheit insgesamt, insbesondere aber die
Geschichte der Opfer und ihrer Verfolgung."
Unterstützend und ergänzend zu diesem Verdrängungsprozess
wirkt eine Relativierung der Geschichte und die Umkehrung des Verhältnisses
von Opfern und Tätern. Das geschieht zum Beispiel, wenn der millionenfache
Judenmord als Reaktion auf die sowjetischen Straflager, die Gulags,
bezeichnet wird, wie geschehen durch den Historiker Ernst Nolte in den 80er
Jahren. Oder wenn die eigentliche Schuld an der Umsiedlung, der Deutschen
aus Polen und Tschechien, den ehemals durch die Deutschen besetzten Staaten
zugesprochen wird. Es wird zu sehen sein, wie die Bedingungen, die Auschwitz
ermöglichten fortwesen und inwieweit sie das Verständnis des nationalen
Kollektivs der Deutschen und dessen Individuen prägen. Die sich für die
politische Bildungsarbeit abzeichnende Frage, einer Möglichkeit der
Einflussnahme auf die Einzelnen und auf gesamtgesellschaftliche Prozesse,
ist m.E. nicht zu trennen von einer Geschichts- und Gedächtnispolitik, die
nicht auf Entlastung, sondern auf Verantwortungsübernahme zielt.
Mit dem Wegfallen einer staatlichen Ordnung, die seine
Dynamik unterstützt, sowie mit dem Bestehen einer bürgerlich-demokratischen
Ächtung verliert der Antisemitismus in Deutschland seine eliminatorische
Dimension. Dennoch zeigen Untersuchungen seitens des OMGUS (Office of
Military Government, U.S.) in der us-amerikanischen Besatzungszone im
Zeitraum von November 1945 bis Dezember 1946, wie tief verwurzelt der
Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung ist und wie wenig ein
Schuldbewusstsein für das Geschehen im Nationalsozialismus existiert. Zu der
Gruppe von Personen mit wenig Vorurteilen gehören lediglich 20%, von denen
wiederum nur 22% meinen, die überlebenden Juden sollten ermutigt werden in
Deutschland zu bleiben.
In den verschiedenen Befragungen hielten dem gegenüber
"zwischen 42 und 55% daran fest, dass der Nationalsozialismus
eine gute Idee gewesen sei, die schlecht ausgeführt wurde" und "44%
akzeptierten weder eine Verantwortung für den Krieg, noch waren sie bereit,
die Last der Verantwortung dem Nazi-Regime zuzuschreiben".
Die offizielle Tabuisierung des Antisemitismus drängt
diesen zeitweilig gewissermaßen nur in den, auch psychischen, Untergrund.
Die Behauptung, die deutsche Kultur wäre nicht vom Antisemitismus
durchdrungen, ist an sich bereits ideologisch, das wird nach Auschwitz
sichtbarer als jemals. Das Beharren auf dem strukturellen Charakter des
Antisemitismus stellt zugleich die Grundfesten (nicht nur) der deutschen
Kultur und Gesellschaft zur Disposition.
"Auf eine Gesellschaft, die es gewohnt ist, auch zwischen Tat
und Schuld das Tauschverhältnis wirksam sein zu lassen, wirkt es
provozierend, daß es nichts geben soll, das nicht >rein<, also frei von
Schuld wäre."
Derlei Erkenntnis wird kollektiv wie individuell abgewehrt
und verdrängt. Aus der Verdrängung taucht die Schuld als Vorwurf an die
Juden, im Zusammenspiel mit offiziellerseits mehr oder weniger bewusst
inszenierten scheinbaren Tabubrüchen, im Gefolge nationalistischer
Mobilisierungen und vor allem in der Abwehr der Erinnerung und des
Schuldzusammenhangs von Auschwitz immer wieder auf und manifestiert sich.
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