VON GISELA BLAU
Das 1995 erschienene Buch «Bruchstücke»:
Keine Erinnerung, sondern eine Fiktion? Keine frühe Kindheit als jüdischer
Junge Binjamin Wilkomirski in Majdanek und Auschwitz-Birkenau, sondern eine
als unehelicher Bruno Grosjean in einem Schweizer Kinderheim? Unbestritten,
aber zeitlich falsch datiert nur das Leben als adoptierter Bruno Doessekker in
einer Villa am Zürichberg? Das behauptete letzte Woche auf zwei
«Weltwoche»-Seiten Daniel Ganzfried, Autor des im gleichen Jahr erschienenen
Romans «Der Absender» aus der Sicht der Nachgeborenen des Holocaust, anhand
der KZ-Erlebnisse seines Vaters, über die dieser stets geschwiegen hatte.
In 13 Sprachen gibt es heute die
«Bruchstücke», von Binjamin Wilkomirski das dünne Buch «mit dem Gewicht des
Jahrhunderts» (NZZ-Rezension vom 14. November 1995). In vielen Lesern ist es,
mindestens im ersten Durchlauf, aufgegangen wie Hefeteig. Bis in den Schlaf
verfolgte sie das Bild der kleinen Kinder, die sich aus Hunger die erfrorenen
Fingerchen abnagten. Oder der Horror des in die Schweiz verpflanzten
KZ-Kindes, das von einem harmlosen Skilift an den Leichentransport ins
Krematorium erinnert wird. Kaum ein anderes Buch hatte als ein so flammendes
Argument gegen die Barbarei der Judenvernichtung durch die Nazis gedient. Es
gab sogar Leute, die sich nicht scheuten, es in einem Atemzug mit den hoch
literarischen Auschwitz-Erinnerungen von Primo Levi zu nennen.
Doch nun ist die Fan- und
Mitleidsgemeinde des Schweizer Musikers Bruno Doessekker alias Binjamin
Wilkomirski verunsichert und gespalten. Einige Leute behaupten, es sei ihnen
egal, ob die schrecklichen Erlebnisse eines kleinen Kindes im KZ erfunden oder
wahr sind, der Gehalt bleibe der gleiche. Viele fühlen jedoch sich und ihr
Mitgefühl schmählich verraten. Andere sehen ihr latentes Unbehagen über dieses
Buch und seinen Autor bestätigt. In der Schweiz wohnende Schoa-Überlebende,
die ihn brüderlich in ihrer «Kontaktstelle» aufnahmen, sind konsterniert,
haben nie an ihm gezweifelt, tun dies wohl auch heute noch nicht. Und sie
fürchten die Konsequenzen der Publikation.
Stellt sich Wilkomirskis Buch als Roman
statt als Erinnerung heraus, so können die Auschwitz-Leugner frohlocken, die
behaupten, der Holocaust habe nicht stattgefunden, die KZ seien nur
Arbeitslager gewesen, in denen dummerweise manchmal jemand starb. Dürften sie
dann in der letzten Konsequenz ungestraft auch die Bücher von Primo Levi als
Erfindung brandmarken?
Siedendheiss überfiel in den letzten
Tagen so manche Leute die Erinnerung an die junge Australierin, die vor
wenigen Jahren rauschende Erfolge feierte und sogar den nationalen Buchpreis
erhielt, nachdem sie die fürchterliche Holocaust-Vergangenheit ihrer
Einwandererfamilie als Sachbuch veröffentlicht hatte. Nachdem trotz allem nach
einiger Zeit Zweifel angemeldet wurden, gab sie schliesslich zu, die ganze
Geschichte erfunden zu haben, weil sie sich von diesem Thema am meisten
Publicity versprach.
Eine Identitäts-Verschwörung?
Eines der Probleme:
Wilkomirski-Doessekker ist kein Opfer zum Anfassen. Er wirkt weder sonderlich
sympathisch noch umgänglich. Seine Rechtfertigung im «Tages-Anzeiger» passt
ins Bild: «Niemand muss mir Glauben schenken.» Er habe immer auf die
Widersprüche in seiner Identität hingewiesen. Aber er werde seine Erinnerungen
auch unter Druck nicht verleugnen.
Die NZZ berichtete im November 1995, die
noch junge «Children of Holocaust Society» habe den Autor mit anderen
Schoa-Überlebenden zusammengebracht, «die wie er mit einer Pseudoidentität
aufwuchsen und erleben mussten, dass sie auf Unverständnis oder Aggressivität
stiessen, wenn sie versuchten, ihre Erinnerungen mitzuteilen».
Die «Aktion Kinder des Holocaust», die
massiv interveniert haben soll, um Ganzfrieds Artikel in der «Weltwoche» zu
verhindern, brachte diese Woche den Brief einer geheim gehaltenen
«Schicksalsgefährtin» in Umlauf, der Wilkomirskis These stützt, es habe ein
Komplott von Beamten gegeben, um KZ-Kindern eine wasserdichte Papier-Identität
zu verschaffen, die ihre Vergangenheit auslöschte. Ein Beweis dieser
Verschweigung und Verschwörung steht bisher aus. Hat es sie gegeben, ist sie
ohnehin schwer zu belegen. Auch andere adoptierte Kinder beklagen sich oft
über frühe Erinnerungen, die mit ihrer offiziellen Biografie nicht
übereinstimmen.
Wasser auf die Mühlen der Holocaust-Leugner
Muss ein Verlag - in diesem Fall der
Jüdische Verlag im Suhrkamp-Verlag - die Geschichten, die ihm angeboten
werden, nachprüfen? Dies geschah wohl kaum bei der Flutwelle der
Erinnerungsbücher aus verschiedenen Konzentrationslagern der frühen neunziger
Jahre. Muss ein Autor seine Erinnerungen beweisen?
Nicht wenige Menschen, Juden wie
Nichtjuden, nehmen es der «Weltwoche» übel, dass sie einen Bericht
publizierte, der Wasser auf die Mühlen der Holocaust-Leugner lenkt, aber
selber wie eine Fiktion daherkommt und nicht als sauber dokumentierte
Recherche.
Erst im zweiten Anlauf, diese Woche, will
die «Weltwoche» dies nachholen. Seine zweite Geschichte, sagt Daniel
Ganzfried, werde eine Auslegeordnung der Fakten bringen, dazu Schriftstücke
und Fotografien. Substantiell gebe es jedoch keinen neuen Stoff. Seine
Vorwürfe sind diesmal eingebettet in andere Beiträge. Beispielsweise wird ein
Interview mit einem Neurologen über das Thema Erinnerung gedruckt.
Die Kulturredaktion der «Weltwoche» sieht
in der von ihr publizierten Wilkomirski-Enttarnung offenbar keinen Beitrag zur
Rechtfertigung der Holocaust-Leugner. «Wir sind froh, dass ein Tabu auf kluge
Weise angegangen worden ist», sagt Kulturredaktor Thomas Woerdehoff. Über die
Dokumente und Zeugen will sich die Redaktion aus Gründen des Datenschutzes
jedoch ausschweigen.
Vor einigen Wochen eine unbedarfte
Attacke der sonst so souveränen «Weltwoche»-Autorin Margrit Sprecher gegen das
Antirassismus-Gesetz anhand des Auschwitzleugner-Prozesses von Baden. Und
jetzt dies. «Ich bin entsetzt über den Artikel von Daniel Ganzfried», sagt
Esther van Messel. Sie hat einen der Filme über Binjamin Wilkomirski gedreht
(«Fremd geboren»), für den sie einen Förderbeitrag des jüdischen Kulturvereins
«Omanut» erhielt. Sie verteidigt Wilkomirski, obwohl sie sich trotz der Arbeit
nie sehr nahe gekommen seien, wie sie sagt. Dennoch glaubt sie ihm.
Daniel Ganzfried hat Esther van Messel
interviewt. «Der Bericht ist verheerend», sagt sie. «Er liefert keine Beweise,
und wenn er sie liefern würde, so würde es mir schwer fallen, sie zu glauben.
Es gibt nicht nur eine Wahrheit. Mein Vater, seine drei Schwestern und seine
Mutter flüchteten 1943 vor den Nazis von Rotterdam nach Barcelona, das dauerte
ein ganzes Jahr. Ein Onkel war damals schon in Bergen-Belsen. Mein Vater und
seine vier Geschwister erzählen seither fünf verschiedene Geschichten.»
Auch wenn Ganzfried Beweise vorlegen
könne, dass Wilkomirski als Bruno Grosjean zur Welt kam, würde das für die
Filmemacherin «noch nicht heissen, dass Binjamin lügt». Sie erinnert daran,
dass viele Schoa-Überlebende verschiedene widersprüchliche oder keine
Geburtsurkunden besitzen. «Ganzfried weiss nicht, was er anstellt», fürchtet
sie. «Jeder, der Erinnerungen veröffentlicht, wird künftig einen Beweis
bringen müssen. Etwas vom Schlimmsten, dasfür die Sache der Juden angesichts
der Auschwitz-Leugnung geschehen konnte.»
Daniel Ganzfried dagegen betont, dass er
nur deshalb über Wilkomirski zu recherchieren begann, weil er einen Auftrag
der Pro Helvetia erhalten habe, für die Zeitschrift «Passagen» ein Porträt
über Wilkomirski zu schreiben. Allerdings habe er immer Zweifel an den
«Bruchstücken» gehabt, weil er sich selber mit der Erinnerung beschäftige. Im
Alter von zwei oder drei Jahren gebe es keine solchen Erinnerungen. «Zudem ist
die Schweizer Geschichte im Buch vage und schludrig dargestellt. Ich fragte
mich: Wieso weiss er mehr von Majdanek als von der Schweiz? Was ist das für
eine Verschwörung? Das alles machte mich misstrauisch, auch der
pathetisch-weinerliche Tonfall, und dann seine öffentlichen Auftritte.»
Die Pro Helvetia war einverstanden, sagt
Ganzfried, dass aus dem Porträt eine grossangelegte Recherche wurde, aber aus
Budgetgründen wollte sie Partner. Die «Weltwoche» sprang ein, doch die Pro
Helvetia sprang ab. Der Artikel wurde von ihr nicht publiziert. «Wegen
Pressionen», sagt Ganzfried, vor allem von der «‹Aktion Kinder des
Holocaust›». Es habe auch Drohanrufe gegeben.
«Ohne Auftrag hätte ich diese Arbeit
nicht gemacht», behauptet Ganzfried. «Ich fand das Buch wahnsinnig schlecht
geschrieben. Es hat mich sehr erstaunt, dass niemand die naheliegenden Fragen
stellte. Das hat mich auch entrüstet.» Die TV-Sendungen in «Next» und im 3-Sat
nach seiner Enthüllung ärgerten ihn, am meisten jedoch das Interview mit
Wilkomirski im «Tages-Anzeiger». «Es ist eine krasse Lüge, wenn er behauptet,
dass alles schon bekannt war.» In der Substanz habe er nicht bestritten, was
er geschrieben habe. Ganzfried wehrt sich dagegen, dass Wilkomirski von
einigen Rezensenten mit Paul Celan und Primo Levi in eine Reihe gestellt
wurde. «Man hätte das Büchlein zur Kenntnis nehmen und vergessen sollen. Es
ist krude und brutal, da kann nichts schiefgehen mit der Aufmerksamkeit der
Leserschaft. Es ist wie in einem Sexfilm, die wissen auch, was man machen
muss, damit die Leute hinschauen: keine Handlung, möglichst viel Brutalität.
Und dann die Klischees aus der Schweiz, vor allem über Wilhelm Tell.»
Am Anfang habe er die Geschichte jedoch
noch immer für möglich gehalten. Bei seinen Recherchen hätten ihm «couragierte
Leute» geholfen. Er habe Wilkomirski mit seinen Zweifeln konfrontiert, noch
bevor er die Recherchen beendet hatte, doch dieser habe nur die Schultern
gezuckt. «Er sprach von einem Komplott seiner Ex-Frau und seiner Eltern, das
machte mich misstrauisch.»
Ganzfried sieht seinen Artikel nicht als
Hilfestellung für Auschwitz-Leugner: «Ursächlich sind genau solche Machwerke
im Literaturbetrieb, man macht Auschwitz zur Glaubensfrage, und dagegen wehre
ich mich.»
Für ihn scheint der Fall abgeschlossen. «Jetzt
muss es weiter gehen», sagt er, «indem jemand wie Sie zu recherchieren beginnt
und verlangt, dass die Archive aufgehen. Und indem Suhrkamp und 3-Sat sich
dafür entschuldigen, dass sie einem solchen ‹Schlufi› auf den Leim gekrochen
sind und sich so billig täuschen liessen.»